Ein Staat, der vor Milizen flieht
Vor vier Jahren wäre Mali als Staat beinahe gescheitert. Tuareg-Rebellen hatten den Norden des Landes erobert. Ihre Verbündeten, islamistische Gruppen, konnten in manchen Teilen des Landes ungehindert wüten. Seit Juli 2013 versucht eine Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen die prekäre Ruhe im Land zu erhalten. Doch der Weg zum Frieden ist weit.
Ayouba Ag Mouslim hat seine Soldaten antreten lassen. Soldaten der Miliz Ganda Izo. Das ist eine der vielen Milizen, die in Mali entstanden sind. Ganda Izo bedeutet: "Kinder des Landes". Und da stehen sie jetzt, die "Kinder des Landes". Junge Männer um die 20 Jahre alt: in Hab-Acht-Stellung, die Gewehre präsentiert, auf einer Art Kasernenhof am Rande der Stadt Gao, im Norden von Mali. Manche tragen abgerissene Uniformen, andere Jeans und T-Shirt. Ayouba Ag Mouslim hat sich als Stabschef der Miliz Ganda Izo vorgestellt. Er erteilt seine Befehle in schwarzer Trainingshose, buntem Hemd und Badelatschen.
Ayouba sagt, diese jungen Männer seien Rebellen. Rebellen, die sich gegen Angriff, Raub und Vergewaltigung von Frauen in Mali gewehrt hätten. Die Miliz Ganda Izo habe mehr als 11.000 Kämpfer im ganzen Land - was nicht zu überprüfen ist. Sie alle verteidigten angeblich das Vaterland gegen Separatisten und Islamisten.
Seit Juli 2013 versucht eine Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen, MINUSMA genannt, die prekäre Ruhe im Land zu halten. Die MINUSMA soll auch den Friedensprozess in Mali stützen.
"Wir arbeiten mit der Armee und mit allen anderen internationalen Militärs zusammen bei der Aufklärung, bei der Informationsbeschaffung. Wir kennen die Leute. Wir wissen, wer hier wer ist. Und wir helfen den anderen so bei der Aufklärung."
Miliz singt von der Treue zum Vorgesetzten
Verteidigen. Helfen. Aufklären. Ayouba Ag Mouslim spricht, als habe seine Miliz keinerlei eigene Interessen. Nein, Ganda Izo bekomme weder Geld, noch Ausrüstung von der malischen Armee, sagt Ayouba. Mit dem grassierenden Drogen- und Waffenhandel in der Region Gao wolle seine Miliz nichts zu tun haben. Die Gruppe werde "vom Volk" finanziert. Woher kommen dann die Waffen seiner Leute? Die Antwort klingt sehr patriotisch:
"Du nimmst eine Kuh von deinem Vater. Oder zwei Hammel. Die verkaufst du und besorgst dir dann eine Waffe, um dein Land zu verteidigen. Und dein eigenes Leben. Du kommst und verteidigst."
Beim Abschied lässt Stabschef Ayouba Ag Mouslim seine Soldaten singen: von der Ehre und von der Treue zu den Vorgesetzten. Die Ganda Izo-Kämpfer erhoffen sich etwas vom Friedensprozess in Mali. Ihre Anführer erklären, sie stünden auf der Seite der malischen Regierung. Andere Milizen haben zeitweise gegen die Regierung gekämpft, sich aber dann auf deren Seite geschlagen.
Dafür sind sie Teil des quälend langsamen Friedensprozesses in Mali geworden. Wenn sie ihre Waffen abgeben, dann verspricht ihnen der malische Staat einen Job in der Armee. Oder bei der Gendarmerie. Oder bei der Polizei. Aber bisher haben sie noch ihre Waffen. Immer wieder wird der Beginn des Entwaffnungsprozesses verzögert. Jetzt schachern diese Milizen mit der Regierung um politische Posten und Jobs in Regionen wie Gao, Timbuktu oder Kidal. Politischer Einfluss und Jobs - das könnte der Preis für den Frieden sein. Aber nicht alle sehen das so.
Der malische Staat kann seine Bürger nicht ausreichend schützen
Unterwegs in Gao. Bettelnde Kinder, bettelnde Erwachsene an den Straßen. Viele Autos ohne Nummernschilder. Der Wagen ächzt und stöhnt auf den Sandpisten mit den riesigen Schlaglöchern. Im Zentrum der Stadt: Mahamadou Cissé ist 34 Jahre alt, Lehrer und Mitglied bei den "jungen Patrouillen". Die hatten sich auch vor vier Jahren gebildet, als die Dschihadisten in Gao wüteten. Mahamadou Cissé zeigt Fotowände in der kleinen Unterkunft der "jungen Patrouillen".
Cissé schildert, dass die jungen Patrouillen vor vier Jahren abends und nachts durch die Straßen bestimmter Stadtviertel gingen. Mit Messern und Knüppeln bewaffnet. Sie wollten Plünderungen und Vergewaltigungen verhindern. Jetzt engagieren sie sich für Projekte in einzelnen Stadtvierteln. Mahamadou Cissé sagt, in Gao gebe es verschiedene Quartiere, in denen die Kriminalität regiere - weil weder die Polizei noch die MINUSMA, die Stabilisierungstruppe der Vereinten Nationen, wirksam dagegen vorgehe:
"Dort werden die Waffen gehandelt, dort sind die Ganoven, dort wird illegal gehandelt - mit Drogen oder was auch immer. In diese Stadtviertel müssten sie gehen."
"In diese Stadtviertel müssten sie gehen" - damit meint Cissé die Polizei und die Blauhelme der Vereinten Nationen. Viele Menschen in Gao fühlen sich weder vom malischen Staat noch von MINUSMA beschützt, sagt er.
"Die sind immer auf den Hauptstraßen unterwegs. Sie müssten mal Patrouillen in den verschiedenen Stadtvierteln machen. In den schwierigen Quartieren. Die Leute wissen sehr genau, welche Stadtteile das sind. Dort sind diejenigen, die schlechte Absichten haben. Dort müssten sie patrouillieren. Aber das machen sie nicht."
"Junge Patrouillen" wollen auch Jobs im Tausch gegen Waffen
Jüngere Menschen in Gao fürchten nach wie vor, dass Dschihadisten und Milizionäre wieder zuschlagen könnten. Eben weil weder der malische Staat noch die MINUSMA ausreichend Schutz für die Zivilbevölkerung bieten. Viele haben sich - so gut es ging - vor vier Jahren gegen Milizen und Dschihadisten gewehrt. Dann haben sie ihre Waffen abgegeben. Schon bevor der Friedensprozess in Gang gesetzt wurde.
Die jetzt immer noch bewaffneten Milizen sind nun Teil des Friedensprozesses und sollen eventuell Jobs im Militär, bei der Polizei oder der Gendarmerie bekommen. Deshalb fragen jetzt die Mitglieder der "jungen Patrouillen": Warum bietet uns eigentlich niemand einen Job an? Warum sollen die Kämpfer der Milizen versorgt werden - aber wir stehen weiterhin auf der Straße?
Solche Fragen stellt auch Issa Boncana. Der 32-Jährige ist Vorsitzender eines Jugendverbandes in Gao. Er hat eine Demonstration organisiert. Boncana schickte ein Protestschreiben an die Regierung in Bamako. "Wir wollen keine Gewalt", antwortet Boncana auf die Frage, was passiert, wenn die Regierung nicht auf die Forderungen seines Verbandes eingeht. "Wir protestieren friedlich", sagt er, doch die Gesamt-Situation in Gao, die sei explosiv:
"Es gibt tausende Waffen in dieser Stadt. Manche sind von den Behörden eingesammelt worden, viele Waffen sind aber auch einfach verschwunden, keiner weiß, wo sie sind. Irgendwann könnten diese Waffen wieder eingesetzt werden und das Friedensabkommen damit scheitern."
Dschihadisten locken junge Leute mit Geld
Issa Boncana spricht ruhig. Aber er ist wütend, das ist zu spüren. Viele finden keine Arbeit in Gao. Dschihadisten locken junge Leute mit Geld und mit frommen Sprüchen. Auch deshalb meint Boncana, müsse die Regierung dringend etwas für junge Leute tun. Denn wirtschaftlich hat sich Gao noch lange nicht von den Unruhen erholt.
Auf dem Markt im Stadtzentrum hat der Händler Boubakar einen kleinen Stand: "Das Problem ist, an Ware zu kommen", sagt Boubakar, "es gibt viele Überfälle, die Waren werden gestohlen." Diese permanente Unsicherheit ist das eine Problem. Das andere ist die miserable Infrastruktur. Ein paar Marktstände weiter verkauft Asseita Fondo Gemüse. Die stämmige Frau hat fünf Kinder im Alter zwischen vier und 14 Jahren. Und sie schimpft auf den Gouverneur:
"Wir Händler zahlen doch Steuern. Aber wenn wir etwas vom Gouverneur brauchen - dann kommt nichts", sagt Asseita. Auch Mariam Maiga beklagt sich über die schwierigen Zustände. Sie war 2012 ebenfalls vor den Dschihadisten geflohen, mit ihren sechs Kindern. Nach der Befreiung Gaos kam sie zurück. Nichts war mehr so wie früher. Viele Häuser geplündert und zerstört. In anderen hatten sich einfach Menschen einquartiert. Der Strom fiel immer wieder aus. Und heute?
"Es gibt Stadtviertel, in denen gibt es weder Trinkwasser noch Abwasserrohre oder eine Müllabfuhr. Es sind mehrere Quartiere, die Trinkwasser brauchen. Dieses Jahr gibt es sowieso wenig Wasser, es herrscht große Trockenheit. Die Frauen sind erschöpft, weil sie sich Wasser zum Kochen von weit her holen müssen."
Staatliche Behörden in Gao nicht etabliert
Alle diese Nöte kennt der Gouverneur von Gao. Sedou Traoré ist von der Zentralregierung in die Stadt entsandt worden, um dort die Verwaltung zu managen. Traoré managt den Mangel. Er müsse die staatlichen Institutionen erst mal wieder in Gao etablieren, sagt der Gouverneur. Aber das geht nur, wenn politische Entscheidungen getroffen werden. Personalentscheidungen. Oder, noch viel wichtiger, strukturelle Entscheidungen: Welche Behörde ist wofür zuständig? Diese Entscheidungen werden immer wieder angekündigt und dann doch verschoben. Weil verzögert und gestritten wird. Und deshalb können Projekte weder geplant noch umgesetzt werden. Gouverneur Traoré nimmt das Beispiel Wasserversorgung in Gao:
"Eine simple Analyse wird Ihnen zeigen, dass unsere Wasserleitungen für so viele Menschen und so viele Stadtviertel nicht ausreichen. Die waren mal auf sechs- oder siebentausend Menschen ausgelegt. Heute hat Gao 60.000 Einwohner."
60.000 Einwohner, aber keinen Plan und kein Geld für den notwendigen Ausbau der Wasserversorgung. Im Radio und Fernsehen hören die Menschen von Hilfszusagen aus dem Ausland, sagt Gouverneur Traoré:
"Da stellen die Leute Fragen: Sie hören, dass 300 Millionen Dollar Hilfsgelder zugesagt wurden. Aber nichts kommt hier an. Kein Projekt entsteht. Gleichzeitig kommen dann Hilfsorganisationen hierher. Sie fangen irgendein Projekt an, unkoordiniert. Gerade so, als wäre der malische Staat hier gar nicht vorhanden. Das alles müssen wir korrigieren, um das staatliche System zu harmonisieren, das hier etabliert ist."
Die Kriminalität in Gao nimmt zu
Das geschieht aber bisher nicht. Stattdessen nimmt die Kriminalität zu: Überfälle, Diebstähle, Drogenkriminalität. Die Milizen behaupten, die Bevölkerung verteidigen zu wollen, weil der Staat es nicht könne. Sie besorgen sich Waffen. Wie sie sich finanzieren, ist kaum nachzuvollziehen. Die Grenzen zwischen Milizen, Drogen-Banden und Dschihadisten, die sind fließend. Gouverneur Traoré bestreitet das nicht:
"Oft wird Rebellion mit der Sicherheits-Krise gerechtfertigt. Aber diese Sicherheits-Krise wird von Drogenhändlern verschärft, die ihre Routen brauchen. Die Drogen-Route. Die Zigaretten-Route. Die Benzin-Route. Das alles läuft hier über die Region. Gao ist eine Kreuzung. Das zeigt die Geschichte. Gao ist bekannt als Handelsplatz. Die Drogen und die Zigaretten - das sind Zeichen der Zeit. Wir sind ja nicht die Abnehmer, wir sind die Transitzone. Und es bedarf erheblicher Mittel, großer Aufwendungen, um dagegen anzugehen."
Gouverneur Traoré versucht in Gao, den Staat wieder zu etablieren. Ein paar Kilometer weiter sitzt der Musiker Nasser Maiga in seinem winzigen Wohnzimmer auf dem Boden und singt. Sein Lied ist eine Warnung:
"Passt auf, ihr Regierenden" - singt Nasser. Er ist Musiker in Gao, im Norden von Mali. Die Politiker in der 1000 Kilometer entfernten Hauptstadt Bamako sollen aufpassen, dass ihnen die Bevölkerung nicht aufs Dach steigt. Nasser Maiga war vor vier Jahren vertrieben worden, als die Dschihadisten Gao besetzt hatten. Nach der Befreiung kam Nasser zurück und versucht jetzt, sich wieder ein normales Leben aufzubauen. Er singt von all den Schwierigkeiten, mit denen die Menschen in der Region täglich kämpfen:
"Ich möchte den Regierenden sagen, dass sie den armen Leuten kein Geld bezahlen müssen. Man braucht Krankenhäuser, man braucht Lebensmittel, Medikamente, man braucht Trinkwasser. Das wird gefordert. Und es kommt nicht."
Wie so viele andere in Gao beschreibt der Musiker die Unsicherheit in der Stadt und in der Region Gao. Die Überfälle. Die Furcht der Menschen. Und die zunehmende Wut in der Bevölkerung. Deshalb hat Nasser Maiga seine musikalische Warnung geschrieben: "Passt auf, Ihr Regierenden!"
Fehlende Verwaltungen und geschlossene Schulen
Soumaila Cissé gilt in Mali als Oppositionsführer. Er war bei den Präsidentschaftswahlen 2013 gegen Ibrahim Boubakar Keita angetreten und hatte verloren. Im konsens-orientierten Mali sind Oppositionspolitiker üblicherweise eher zurückhaltend mit Kritik am Präsidenten. Soumaila Cissé wird mittlerweile sehr deutlich:
"Im Norden von Mali gibt es keine Verwaltung. Die Schulen sind an vielen Orten geschlossen. Auf den Straßen herrscht permanente Unsicherheit. Hinzugekommen sind noch die Probleme im Zentrum des Landes. Im Zentrum gibt es niemanden, mit dem verhandelt wird. Dschihadisten-Gruppen wie die des Predigers Koufa sind da. Aber im Zentrum gibt es nicht mal Bewegungen, mit denen man über eine Lösung der Probleme reden könnte."
Der malische Staat ist auch in Zentralmali nicht besonders präsent. Aber auch dort, wo Staatsbedienstete oder Soldaten der malischen Armee sind, haben sie keinen besonders guten Ruf. Ein Staat, der vor Milizen flieht - und Milizen, die sich in bestimmten Gebieten Malis festsetzen und dort die Kontrolle übernehmen. Daran haben bisher alle Ausbildungsprojekte, alle Trainings für malische Soldaten und Polizisten nur wenig ändern können.