Krise in Mali

Die Menschen leben zwischen Angst und Solidarität

24:08 Minuten
Ein Mann und ein Junge stehen an einem Eselkarren.
So wie der Familie Podjogou geht es vielen Menschen in Mali. Aus Angst getötet zu werden, sind sie in eine andere Region des Landes geflohen. © Deutschlandradio / Bettina Rühl
Von Bettina Rühl |
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Zwei Militärputsche seit August 2020, zunehmend schärfere Konflikte zwischen der militärischen Übergangsregierung und westlichen Ländern und eskalierende ethnische und islamistische Gewalt. Das sind nur einige Probleme der Bevölkerung in Mali.
Zwischen Kühen, Schafen und Ziegen laufen Kinder herum und spielen. Sie haben mit ihren Eltern auf einem der Viehmärkte von Bamako Zuflucht gefunden, der malischen Hauptstadt. Hierher ist auch ein junger Mann aus dem Ort Moura geflohen. Er möchte aus Sicherheitsgründen anonym bleiben und heißt hier Adama Cissé. Nach eigenen Angaben ist Cissé ein Überlebender des Massakers von Moura.
Am 27. März sei er auf den Markt von Moura gegangen, nur zwei Kilometer von seinem Heimatdorf entfernt. Als einer der ersten habe er die fünf Militärhubschrauber gesehen. Vier seien gelandet, einer in der Luft geblieben. Aus den Hubschraubern seien Bewaffnete gestiegen, sie hatten laut Cissé eine weiße Haut.
„Als die Leute den Lärm hörten, bekamen sie Angst und rannten in alle Richtungen davon. Aus dem Hubschrauber, der über dem Dorf kreiste, haben sie auf die Fliehenden geschossen, der Hubschrauber setzte ihnen sogar nach. Ich gehörte zu denen, die nachher die ersten Leichen des Massakers geborgen haben. Wir alle sind Zeugen, dass die Besatzung des Hubschraubers auf die Fliehenden geschossen hat.“

Bewaffnete umstellten den Ort

Ein weiterer Überlebender, der hier Boubacar Diallo heißt, ist ebenfalls im Anschluss an das Massaker nach Bamako geflohen. Er schildert, dass Bewaffnete den Ort umstellt hätten: sowohl malische als auch weiße Soldaten. Die Weißen hätten nicht Französisch gesprochen, die Sprache der ehemaligen Kolonialmacht.
„Die weißen Soldaten sind anschließend von Haus zu Haus gegangen und haben jedes nach Männern durchsucht. Sie haben dabei viele Menschen getötet. Es waren viel mehr weiße als malische Soldaten. Sie haben viele Männer festgenommen und anschließend in kleinere Gruppe geteilt. Die Gruppe, in der ich war, war die größte, wir waren vielleicht 400 Leute.
Mich haben sie am Montag verhaftet. Zwei weiße Soldaten kamen zu unserem Haus und klopften an die Tür. Als ich aufmachte, sah ich die beiden weißen Soldaten und habe die Tür gleich wieder zugeknallt. Sie fingen an, auf die Tür zu schießen. Zum Glück hat die Tür die Kugeln abgehalten.“
Auch ein Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch schildert die Abläufe in Moura. Corinne Dufka ist Westafrika-Direktorin der Organisation.

Zeugen berichten von russischen Soldaten

“Wir haben mit etwa 20 Augenzeugen gesprochen. Die Zeugen glauben, dass es sich bei den weißen Soldaten um Russen handelt. Denn die malische Regierung hatte im Dezember die Entsendung von Gruppen russischer Ausbilder angekündigt. Sie sollen die malische Armee im Kampf gegen die bewaffneten Islamisten unterstützen.“
Auch Cissé und Diallo sprechen von den Russen. Doch ob es sich um russische Soldaten oder Söldner der berüchtigten, Kreml-nahen russischen Wagner-Gruppe handelte, können weder Cissé noch Diallo sagen. Die Söldner des privaten Militärunternehmens Wagner tragen keine besonderen Uniformen und keine russischen Hoheitszeichen oder andere Erkennungsmerkmale.
Die russische Regierung bestreitet sogar, dass es die Gruppe überhaupt gibt. Nach US-Erkenntnissen wird das Unternehmen dagegen von Jewgeni Prigoschin finanziert, einem engen Vertrauten von Präsident Waldimir Putin. Cissé wurde etwas später festgenommen als Diallo.
An einer Straßen werden unterschiedliche kleine Flaggen verkauft, darunter die russische.
Es sollen russische Söldner in Mali sein. So sind im Stadtbild wie hier in Bamako auch zahreiche russische Flaggen zu sehen. © imago images/Le Pictorium/Nicolas Remene
„Am Sonntag hatte ich es zunächst geschafft, abzuhauen und mich im Haus meines Onkels zu verstecken, dort bin ich erst mal geblieben. Am Dienstag haben die Bewaffneten angeordnet, dass alle Männer zum Fluss kommen sollen, ich bin auch gegangen. Ich schätze, dass wir dort etwa 4000 Männer waren. Je ein oder zwei malische Soldaten bewachten eine Gruppe von Gefangenen. Wer zu fliehen versuchte, kam nicht weit.
Die Malier haben uns bewacht, die Russen haben die Opfer ausgesucht und getötet, das habe ich selbst gesehen. Die weißen Soldaten sind von Gruppe zu Gruppe gegangen. Sie haben jeweils bis zu 15 oder zehn Männer mitgenommen, um sie zu erschießen. Sie haben die Leute nicht vor unseren Augen erschossen, sondern sind mit ihnen hinter eine Hütte gegangen.“

Das Massaker dauerte vier Tage

Das Massaker habe von Sonntag bis Mittwoch gedauert. Laut Human Rights Watch zählten zu den Verhafteten und Hingerichteten sowohl Dorfbewohner als auch Hunderte von Händlern, die an diesem Sonntag auf den Markt gekommen waren. Etwa 300 Menschen seien getötet worden. Bislang ist unklar, wie viele der Toten Zivilisten waren und wie viele tatsächlich einer der islamistischen Terrorgruppen angehörten, die in Mali gegen die Regierung und gegen die Armee kämpfen.
Cissé und Diallo wollen erst einmal zwischen den anderen Geflüchteten auf dem Viehmarkt von Bamako bleiben. Sie können sich nicht vorstellen, wieder nach Hause zurückzugehen - aus Angst, dass sie einem nächsten Massaker nicht entkommen. Sie sind nicht die Einzigen: 350.000 Menschen sind in Mali auf der Flucht vor der Gewalt. Für die meisten von ihnen heißt das: Sie haben kein Einkommen mehr, nicht genug zu essen.

Geflohen vor der Gewalt im Zentrum des Landes

Rund 150 südwestlich von Bamako hält Thomas Podjogou einen gelben Kanister in den Fluss, lässt ihn voll Wasser laufen. Der schmale Fluss ist ziemlich leer, der Boden in dem Dorf Nana Kéniéba von der Sonne verbrannt. Immerhin sind die Bäume noch grün, die im Dorf verstreut zwischen den Lehmhäusern wachsen. Eine idyllisch wirkende Gegend, die Felsformationen rund um das Dorf von großer Schönheit. Hierher ist Podjogou mit seiner Frau und ihren vier Kindern vor der Gewalt im Zentrum des Landes geflohen.
“Islamistische Gruppen haben unser Nachbardorf angegriffen, es ist nur drei Kilometer von unserem entfernt. Wir haben Panik bekommen und uns gesagt, dass wir lieber fliehen, so lange wir noch die Zeit dafür haben.“

Die große Kritik aus Mali ist, dass abgesehen von den Franzosen kein klares ´Kampf-Mandat` gegen extremistische Truppen bestanden hat. Auch beim deutschen Mandat geht es um Ausbildung und Stabilisierung, aber eben nicht wie bei den Terroreinheiten der Franzosen darum, gezielt Terroristen auszuschalten. Wenn also die Franzosen gehen, dann stellt sich die Frage: Was macht das mit dem deutschen Mandat? Und wer füllt dann die Lücke?, sagt Nordwestafrikakorrespondentin Dunja Sadaqi.

Vier Jahre ist das her, Tausende haben seitdem die besonders fruchtbare Gegend im Zentrum von Mali verlassen. Die Gewalt dort eskaliert seit sieben Jahren und hat viele Ursachen. Eine davon sind die Angriffe islamistischer Gruppen auf die Dörfer, vor denen auch Podjogou und seine Familie flohen. Außerdem hat ethnisch geprägte Gewalt dramatisch zugenommen.
Podjogou gehört zum Volk der Dogon, Milizen der Dogon und der Fulbe fallen immer wieder über die Dörfer der jeweils anderen Ethnie her. Diese Konflikte haben ebenfalls viele Gründe. Einer davon: die Klimakrise. Weideland, Ackerflächen und Wasser werden immer knapper, immer härter umkämpft. Manchmal werden Hunderte Menschen in einer einzigen Nacht getötet.

Nana Kéniéba ist ein neues Zuhause geworden

„Wir sind zuerst nach Bamako geflohen. Dort habe ich gehört, dass viele Dogon-Familien, die vor dem Krieg geflohen sind, hier in Nana Kéniéba aufgenommen wurden. Deshalb habe ich mich auch auf den Weg hierher gemacht. Hier bekam ich ein Grundstück zugewiesen, dem ich mein Haus bauen und ein Feld anlegen durfte. Seitdem lebe ich mit meiner Familie hier. Ich fühle mich zu Hause.“
Vier Personen bauen ein Haus.
In Nana Kenieba wurden die Flüchtlinge gut aufgenommen und sie können sich hier ein neues Haus bauen.© Deutschlandradio / Bettina Rühl
Der Anfang allerdings war hart, daran erinnert sich Podjogou noch gut:
„Ich musste mir schon Geld von meiner Familie leihen, um überhaupt die Fahrt hierher bezahlen zu können. Und hier hatten wir anfangs kaum etwas zu essen. Wir waren darauf angewiesen, dass die Dorfbewohner das wenige mit uns teilen, was sie selbst hatten. Wir hatten zwar ein Feld zugewiesen bekommen, aber noch nichts geerntet. Nach der ersten Ernte wurde es leichter. Neben der Landwirtschaft habe ich angefangen, Steine aus Lehm herzustellen, die verkaufe ich. Außerdem helfe ich Leuten beim Hausbau, so verdiene ich Geld.“
Podjogou treibt seinen Esel an, eben hat er den letzten vollen Wasserkanister auf die Ladefläche des Karrens gestellt. Jetzt zieht er mit zwölf vollen Kanistern los zur nächsten Baustelle, hilft der nächsten Flüchtlingsfamilie dabei, die Mauern ihres eigenen Hauses hochzuziehen.

Geflüchtete und Einheimische leben zusammen

Seit 2016 haben rund 400 Dogon-Familien in Nana Kéniéba Zuflucht gefunden, das sind etwa 1500 Menschen – bei gut 3000 einheimischen Bewohnern. Jede neue Familie bekam zwei Hektar Land und in den ersten Monaten auch Lebensmittel.
Aufwartung beim Dorfchef Sekou Keïta. In einem weißen Gewand sitzt der traditionelle Würdenträger auf der Holzliege vor seiner Lehmhütte, den Kopf mit einem randlosen Hut bedeckt. In der Hand einen langen Holzstab, Insigne seiner Macht. Keïta kennt sein genaues Alter nicht, schätzt es auf hundert Jahre. Der Dorfchef ist die oberste Autorität, in wichtigen Fragen berät er sich mit dem Ältestenrat. So auch, als es um die Aufnahme der Flüchtlinge aus dem Dogonland ging.
“Sie waren in ihrer Heimat in Schwierigkeiten. Abgesandte von ihnen haben uns gefragt, ob sie sich bei uns niederlassen könnten. Wir haben gesagt: Kein Problem, wir geben Euch Land, ihr seid bei uns willkommen.“
Sekou Keita. Ein älterer Herr sitzt vor einem Haus.
"Ihr seid bei uns willkommen.“ Sekou Keita, Dorfchef von Nana Kenieba, über die geflüchteten Menschen, die ins Dorf gekommen sind.© Deutschlandradio / Bettina Rühl
Der Kontakt lief über Parlamentarier in Bamako: Abgeordnete aus dem Volk der Dogon sprachen einen Volksvertreter aus Nana Kéniéba an. Der gab die Frage an den Dorfchef und den Rat der Ältesten weiter. Da die Menschen in Not waren, habe niemand gezögert, sagt Dorfchef Keïta.
„Aber einfach war es nicht, vor allem am Anfang. Sie waren ja in der Trockenzeit gekommen, unsere Vorräte waren fast schon aufgebraucht. Wir hatten kaum genug, um alle zu ernähren. Als die Regenzeit anfing, wurde es leichter. Nach einiger Zeit konnten die Dogon ernten und haben sich eingewöhnt. Inzwischen hat sich das Leben normalisiert, aber wir haben natürlich immer noch Schwierigkeiten.“

Es fehlt vor allem an Wasser

Vor allem fehle es an Wasser, sagt der Dorfchef: Mali leidet unter einer lang anhaltenden Dürre, die Felder sind viel zu trocken. Jede Hilfe, sagt der alte Dorfchef, sei willkommen. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sind in Mali 7,5 Millionen Menschen auf Hilfe angewiesen. Für etwa zwei Millionen von ihnen sei die Lage so kritisch, dass sie bald nicht mehr genug zu essen haben könnten. Francesco de Pasquale ist Büroleiter der Deutschen Welthungerhilfe in Mali.
„Die Situation ist furchtbar. Wahrscheinlich ist es die schlimmste Situation, die das Land in den letzten fünf bis sechs Jahren durchstehen musste.“
Die Gründe dafür sind vielschichtig. Da ist zum einen die erwähnte, lang anhaltende Dürre. Hinzu kommt eine Wirtschaftskrise, auch in Folge der Covid-Pandemie, die alle Staaten weltweit belastet. Und natürlich die katastrophale Sicherheitslage, die Hunderttausende zu Vertriebenen macht, ohne Zugang zu ihren Feldern. Außerdem Sanktionen der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS gegen Mali. Der Grund: Die militärische Übergangsregierung unter Präsident Assimi Goïta hat angekündigt, bis zu fünf Jahre an der Macht bleiben zu wollen.

„Alles ist sehr teuer geworden“

Eine Geschäftsstraße in Bamako, der malischen Hauptstadt. In dieser Gegend verkaufen die Händlerinnen und Händler vor allem Baubedarf: Zement, Fliesen, Sanitäreinrichtungen. Die Waren werden in kleinen Läden angeboten, in groben Holzregalen bis an die Decke gestapelt. An diesem Morgen ist es ungewöhnlich ruhig, nur vereinzelt sind Kunden unterwegs. Vor einem der Geschäfte ist ein Mann dabei, Zementsäcke in den Kofferraum seines Autos zu laden.
„Alles ist sehr teuer geworden, auch Zement. Früher hat der Sack höchstens 4500 Francs gekostet, jetzt sind es 6500. Ich bräuchte eigentlich eine Tonne Zement, aber ich konnte mir nur zehn Säcke leisten.“
Er möchte sein Haus fertigbauen. Ob er dafür noch genug Geld hat, ist fraglich. Grund für die drastische Preissteigerung um gut 40 Prozent sind die Sanktionen der ECOWAS.
Hier bei uns läuft nichts mehr, klagt der Zementkäufer. Von den Handelssanktionen der ECOWAS sind nur Lebensmittel und Medikamente ausgenommen. Aber auch die wurden teurer, Folge der erhöhten Treibstoffpreise weltweit.

Niemand traut sich, etwas zu sagen

“Die Wirtschaft steht still. Auch die jungen Leute sieht man nur rumsitzen und Tee trinken. Normalerweise verdienen sie ihr Geld auf dem Markt, machen sich hier und da nützlich, schlagen sich damit durch. Aber jetzt gibt es ja keine Waren mehr, abgesehen von Medikamenten und Lebensmitteln. Ich habe Angst vor dem, was passiert, wenn die Sanktionen nicht bald aufgehoben werden. Dann wird es hier Unruhen geben, aber das traut sich ja niemand zu sagen.“
Warum sich niemand etwas zu sagen traut?
“Wenn du hier deine Meinung sagst, geht das ganz schnell: Zack, weg bist du! Verhaftet. Deshalb sind alle lieber still. Wir sind nur einfache Bürger, wenn wir im Gefängnis verschwinden, kräht kein Hahn danach. Wer sollte dann auch für unsere Familien sorgen? Nein, da halten wir lieber den Mund.“
Tatsächlich ist in Bamako zurzeit kaum Kritik an der militärischen Übergangsregierung zu hören. Umso lauter dagegen ist der demonstrative Zuspruch. Was die Menschen tatsächlich denken, ist immer schwerer einzuschätzen.

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