"Man fand es politisch nicht besonders wichtig"
Micha Brumlik, Publizist und ehemaliger Grüner, hat die Partei gegen Pädophilie-Vorwürfe verteidigt. Die Grünen selbst hätten das Thema in den 80er-Jahren "nicht gepusht". Bei Neugründungen versuchten sich stets alle möglichen Gruppen anzuhängen, sagte er.
Katrin Heise: Fotos von leicht bekleideten Jünglingen, Zeichnungen von nackten Kindern mit Engelsflügeln – auf Rundbriefen der Arbeitsgemeinschaft Schwule, Päderasten und Transsexuelle der Grünen kursierten in den 1980er-Jahren einschlägige Abbildungen. Pädophile fanden in der Partei Gehör, heißt es. Gestern beschloss nun der Parteivorstand, dass dieses Kapitel wissenschaftlich aufgearbeitet werden soll. Fraktionschef Jürgen Trittin erklärte, es habe damals Fehlbeschlüsse bei den Grünen gegeben. Ich begrüße jetzt im Studio den Erziehungswissenschaftler und Publizisten Micha Brumlik, der selbst Mitte der 80er Mitglied der Grünen war. Ich grüße Sie, Herr Brumlik!
Micha Brumlik: Guten Morgen!
Heise: Ein solcher Fehlbeschluss war zum Beispiel einer aus dem Jahr 1985, auf dem Landesparteitag der Grünen in Nordrhein-Westfalen gefasst, und zwar für Straffreiheit von Sexualität mit Kindern. Herr Brumlik, wie konnte ein solcher Beschluss '85 zustande kommen?
Brumlik: Ich glaube, dass es bei neuen Parteien immer so ist, dass sich da alle möglichen Gruppen, die sich bisher vom politischen Spektrum vernachlässigt gesehen haben, anzuhängen versuchen. Da ist dann auch häufig ein Narrensaum dahinter. Ganz am Anfang der Grünen gab es sogar irgendwelche rechtsextremen ökologischen Kräfte, die es dort versucht haben. Also ich glaube, bei Parteigründungen ist das durchaus normal, dass sich da alle möglichen Interessengruppen dranhängen. Insofern ist das nun nichts Besonderes.
Heise: Aber ein Parteitagsbeschluss ist ja schon noch einmal etwas anderes.
Brumlik: Ein Parteitagsbeschluss ist etwas anderes. Das war ein Landesparteitag, der dann aber bald auch wieder kassiert worden ist, weil sich sehr schnell gezeigt hat, dass das im Wahlkampf nicht erfolgreich sein würde. Und vor allem: Für die Grünen war ja von Anfang an prägend die Frauenbewegung, und ich glaube, die Frauenbewegung war diejenige Größe, die diese pädophilen Bestrebungen von allem Anfang an entschieden bekämpft hat.
Heise: Das ist richtig. Wobei, wenn man jetzt noch mal nachliest, viele Feministinnen sagen, wir haben da schon Schwierigkeiten gehabt, uns Gehör zu verschaffen, und mussten wirklich laut werden, um da beispielsweise gegen – ja, jetzt habe ich gelesen, Christian Ströbele sagte in einem früheren Interview, man habe eben zu der Zeit alle möglichen sexuellen Tabus in Frage gestellt und dabei sei das Pendel manchmal auch ein bisschen zu sehr am Rand ausgeschlagen. Ich meine, ist das tatsächlich eine passende Beschreibung der Zeit?
Brumlik: Ich glaube, ja. Also, es gab ja in den 60er- und 70er- und 80er-Jahren eine breite Emanzipationsbewegung sexueller Minderheiten, nennen wir es mal so, von Homosexuellen, von Lesben. All das hat ja inzwischen auch in der Bundesrepublik Deutschland dazu geführt, dass mit den eingetragenen Lebenspartnerschaften hier eine weitgehende Enttabuierung und bürgerliche Gleichberechtigung eingezogen ist. Und in diesen bunten Strauß sexueller Minderheiten haben sich dann eben auch Pädophilenorganisationen eingebracht. Man muss allerdings sagen, dass es auch in der damaligen Sexualwissenschaft und Sexualpädagogik durchaus einige Leute gegeben hat, die so was offensiv vertreten haben und die damals keineswegs geächtet waren, sondern das wurde als eine wichtige Stimme zunächst wahrgenommen.
Heise: Und genau da möchte ich eigentlich mehr drüber erfahren, weil wir und das ja wirklich nicht mehr vorstellen können. Da hat sich die Zeit komplett verändert. Es war natürlich damals auch die Zeit, wo man überhaupt erst mal, wenn man es mal positiv so sieht, das Recht der Kinder auf Entfaltung ihrer Sexualität – das überhaupt erst mal durchsetzte, sich klar machte und dann durchsetzte. Hat man dabei vielleicht einfach schlicht übersehen, dass eben im Windschatten von Freiheit, sage ich mal, also sich auch Pädophile tummelten?
Brumlik: Also die 68er-Bewegung, die hatte da so eine allgemeine These, dass es die unterdrückte Sexualität gewesen ist, die wesentlich zu Autoritarismus und Faschismus geführt hat. Eine Folge daraus war, dass in vielen antiautoritären Kinderläden, anders als vielleicht in kirchlichen Kindergärten, Doktorspiele von Kindern nicht mehr drakonisch verboten wurden, dass Kinder sich auch ausziehen durften und nackt also durch den Raum laufen durften. Daran würde ich auch nach wie vor heute sagen, war an und für sich nichts Falsches. Was dann aber die Pädophilenbewegung daraus gemacht hat, war genau der Schritt, der zu weit gegangen ist, dass sie nämlich die Entfaltung der kindlichen Sexualität mit ihren eigenen Begehrlichkeiten kurzgeschlossen haben.
Heise: Sie waren jetzt Mitte der 80er-Jahre, als diese Diskussionen stattfanden, und als eben sie auch bei den Grünen stattfanden, waren Sie Mitglied der Grünen. Wie haben Sie die damals wahrgenommen?
Brumlik: Also ich war damals im Kreisverband Frankfurt, das war ein wesentlich sogenannter Realo-Kreisverband. Also, so weit ich mich erinnere, gab es bei den Grünen selbst niemanden, der so was vertreten hatte. Was es allerdings gegeben hat, war ein Frankfurter Stadtmagazin "Pflasterstrand", in dem diese Debatten sehr intensiv geführt worden sind, und in dem ein damaliger Spontiführer, so würde man das nennen, wie Daniel Cohn-Bendit, durchaus eine ganze Reihe von entsprechenden Beiträgen hat laufen lassen, die heute nur noch schockieren, unappetitlich und ekelhaft sind.
Heise: Und man hat es damals nicht so empfunden?
Brumlik: Man hat es – man fand es abstoßend, aber, wenn ich jetzt aus meiner eigenen Erfahrung spreche, man fand es politisch nicht besonders wichtig. Also wir hatten andere Probleme, Hochhausbebauung und dies und das, also, das stand nicht im Zentrum, weil wie gesagt, die Grüne Partei selbst hat dieses Thema nicht gepusht.
Heise: Ich spreche mit dem Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik. Der Umgang, Herr Brumlik, mit kindlicher Sexualität hat sich ja in den letzten Jahrzehnten enorm verändert. Heute, also Sie haben es ja nachgezeichnet, also das Aufbrechen, das Freierwerden in den 80er- oder 90er-Jahren. In den letzten Jahren sind wir in der Debatte geprägt worden von dem Aufdecken von Missbrauchsskandalen an Schulen, an Kirchen. Und dann gab es natürlich schon allein aus diesem Grund eine enorme Sensibilisierung beim Thema Kindesmissbrauch. Wie nehmen Sie diese Sensibilisierung wahr?
Brumlik: Also ich begrüße diese Sensibilisierung vor allem vor dem Hintergrund dessen, dass, als diese Missbrauchsfälle etwa an der Odenwaldschule zum ersten Mal aufgedeckt wurden – das war, glaube ich, 1999 –, zehn Jahre lang überhaupt nichts passiert ist. Das ist ein echter Skandal, und das muss nach wie vor – hat jetzt mit den Grünen nichts zu tun – untersucht werden, wie es sein konnte, dass es da zehn Jahre lang ein Schweigekartell gegeben hat. Das ist schon sehr eigentümlich. Darüber hinaus haben wir heute wieder eine Diskussion, in der Positionen, die damals übrigens gesamtgesellschaftlich durchaus akzeptiert gewesen sind, über Pädophilie. Also es gab so Aufklärungsbücher, in denen das relativ lässig akzeptiert wurde. Ein sogenannter Sexualforscher wie Ernest Bornemann, der ein Buch nach dem anderen darüber geschrieben hat, wurde sogar Honorarprofessor an der katholischen Universität in Salzburg. Auch die evangelische Kirche hat so was für ihre Jugendarbeit für wichtig gehalten, also Instanzen der evangelischen Kirche. Also das war die Verunsicherung, also die Leute haben immer noch gewissermaßen diese antiautoritäre, psychoanalytische Theorie der kindlichen Entwicklung, wie soll ich mal sagen, nachgearbeitet.
Heise: Haben Sie den Eindruck, dass das jetzt mit der Sensibilisierung, die Sie ja als durchaus positiv, oder die man ja auch nur als positiv sehen kann – kann da aber auch, besteht da aber auch wieder die Gefahr, dass das Pendel quasi wieder zurückschlägt ins andere Extrem, also dass Bindung zu Kindern jetzt generell unter Verdacht gerät?
Brumlik: Also das kann schon passieren. Ich denke zum Beispiel, dass Bezugspersonen in Einrichtungen, die mit Kindern arbeiten, sich jetzt natürlich einem sehr viel stärkeren Kontrolldruck und Misstrauen ausgesetzt sehen. Auf der anderen Seite, und das finde ich so paradox und geradezu pervers, haben wir dann im Privatfernsehen Castingshows mit Kindern, also ich glaube, mit Kindern als Sängern und so was. Das heißt also, Kindheit wird durchaus ästhetisch und in der Werbung auch in gewisser Weise sexualisiert. Auf der anderen Seite hat man dann also diese gesteigerte Sensibilität.
Heise: Wie gehen Sie als Erziehungswissenschaftler damit um, also gerade auch mit dieser Spannung, die da entsteht?
Brumlik: Also mir war es immer wichtig, zu sagen, dass was Kindheit … Kindheit ist ein entwicklungspsychologisches Stadium, es ist aber auch immer in gewisser Weise eine kulturelle Konstruktion. Und der Medienforscher Neil Postman hat schon, ich glaube, vor 20 Jahren ein Buch über das Verschwinden der Kindheit geschrieben. Das heißt, dass durch Mode und Medien Erwachsene und Kinder mindestens in ihrem äußeren Aussehen immer mehr aneinander angeglichen werden. Das hat nun mit Pädophilie nichts zu tun. Pädophilie im klinischen Sinne ist, wie die Psychiater sagen, eine sexuelle Orientierungsstörung, die ist angeboren, angeerbt oder da ist irgendwas im Gehirn falsch verdrahtet. Aber es scheint ja auch so zu sein, wenn ich das noch anführen darf, dass die meisten Missbrauchsfälle gar nicht auf diese – in Anführungszeichen– echten Pädophilen zurückgehen, sondern auf Ausweichtäter, Leute, die ihre sexuellen Bedürfnisse anderweitig nicht unterbringen können und sich dann an den Schwächsten der Schwachen gütlich halten.
Heise: Der Erziehungswissenschaftler und Publizist und ehemaliges Mitglied der Grünen, Micha Brumlik. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Brumlik!
Brumlik: Ich bedanke mich!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Micha Brumlik: Guten Morgen!
Heise: Ein solcher Fehlbeschluss war zum Beispiel einer aus dem Jahr 1985, auf dem Landesparteitag der Grünen in Nordrhein-Westfalen gefasst, und zwar für Straffreiheit von Sexualität mit Kindern. Herr Brumlik, wie konnte ein solcher Beschluss '85 zustande kommen?
Brumlik: Ich glaube, dass es bei neuen Parteien immer so ist, dass sich da alle möglichen Gruppen, die sich bisher vom politischen Spektrum vernachlässigt gesehen haben, anzuhängen versuchen. Da ist dann auch häufig ein Narrensaum dahinter. Ganz am Anfang der Grünen gab es sogar irgendwelche rechtsextremen ökologischen Kräfte, die es dort versucht haben. Also ich glaube, bei Parteigründungen ist das durchaus normal, dass sich da alle möglichen Interessengruppen dranhängen. Insofern ist das nun nichts Besonderes.
Heise: Aber ein Parteitagsbeschluss ist ja schon noch einmal etwas anderes.
Brumlik: Ein Parteitagsbeschluss ist etwas anderes. Das war ein Landesparteitag, der dann aber bald auch wieder kassiert worden ist, weil sich sehr schnell gezeigt hat, dass das im Wahlkampf nicht erfolgreich sein würde. Und vor allem: Für die Grünen war ja von Anfang an prägend die Frauenbewegung, und ich glaube, die Frauenbewegung war diejenige Größe, die diese pädophilen Bestrebungen von allem Anfang an entschieden bekämpft hat.
Heise: Das ist richtig. Wobei, wenn man jetzt noch mal nachliest, viele Feministinnen sagen, wir haben da schon Schwierigkeiten gehabt, uns Gehör zu verschaffen, und mussten wirklich laut werden, um da beispielsweise gegen – ja, jetzt habe ich gelesen, Christian Ströbele sagte in einem früheren Interview, man habe eben zu der Zeit alle möglichen sexuellen Tabus in Frage gestellt und dabei sei das Pendel manchmal auch ein bisschen zu sehr am Rand ausgeschlagen. Ich meine, ist das tatsächlich eine passende Beschreibung der Zeit?
Brumlik: Ich glaube, ja. Also, es gab ja in den 60er- und 70er- und 80er-Jahren eine breite Emanzipationsbewegung sexueller Minderheiten, nennen wir es mal so, von Homosexuellen, von Lesben. All das hat ja inzwischen auch in der Bundesrepublik Deutschland dazu geführt, dass mit den eingetragenen Lebenspartnerschaften hier eine weitgehende Enttabuierung und bürgerliche Gleichberechtigung eingezogen ist. Und in diesen bunten Strauß sexueller Minderheiten haben sich dann eben auch Pädophilenorganisationen eingebracht. Man muss allerdings sagen, dass es auch in der damaligen Sexualwissenschaft und Sexualpädagogik durchaus einige Leute gegeben hat, die so was offensiv vertreten haben und die damals keineswegs geächtet waren, sondern das wurde als eine wichtige Stimme zunächst wahrgenommen.
Heise: Und genau da möchte ich eigentlich mehr drüber erfahren, weil wir und das ja wirklich nicht mehr vorstellen können. Da hat sich die Zeit komplett verändert. Es war natürlich damals auch die Zeit, wo man überhaupt erst mal, wenn man es mal positiv so sieht, das Recht der Kinder auf Entfaltung ihrer Sexualität – das überhaupt erst mal durchsetzte, sich klar machte und dann durchsetzte. Hat man dabei vielleicht einfach schlicht übersehen, dass eben im Windschatten von Freiheit, sage ich mal, also sich auch Pädophile tummelten?
Brumlik: Also die 68er-Bewegung, die hatte da so eine allgemeine These, dass es die unterdrückte Sexualität gewesen ist, die wesentlich zu Autoritarismus und Faschismus geführt hat. Eine Folge daraus war, dass in vielen antiautoritären Kinderläden, anders als vielleicht in kirchlichen Kindergärten, Doktorspiele von Kindern nicht mehr drakonisch verboten wurden, dass Kinder sich auch ausziehen durften und nackt also durch den Raum laufen durften. Daran würde ich auch nach wie vor heute sagen, war an und für sich nichts Falsches. Was dann aber die Pädophilenbewegung daraus gemacht hat, war genau der Schritt, der zu weit gegangen ist, dass sie nämlich die Entfaltung der kindlichen Sexualität mit ihren eigenen Begehrlichkeiten kurzgeschlossen haben.
Heise: Sie waren jetzt Mitte der 80er-Jahre, als diese Diskussionen stattfanden, und als eben sie auch bei den Grünen stattfanden, waren Sie Mitglied der Grünen. Wie haben Sie die damals wahrgenommen?
Brumlik: Also ich war damals im Kreisverband Frankfurt, das war ein wesentlich sogenannter Realo-Kreisverband. Also, so weit ich mich erinnere, gab es bei den Grünen selbst niemanden, der so was vertreten hatte. Was es allerdings gegeben hat, war ein Frankfurter Stadtmagazin "Pflasterstrand", in dem diese Debatten sehr intensiv geführt worden sind, und in dem ein damaliger Spontiführer, so würde man das nennen, wie Daniel Cohn-Bendit, durchaus eine ganze Reihe von entsprechenden Beiträgen hat laufen lassen, die heute nur noch schockieren, unappetitlich und ekelhaft sind.
Heise: Und man hat es damals nicht so empfunden?
Brumlik: Man hat es – man fand es abstoßend, aber, wenn ich jetzt aus meiner eigenen Erfahrung spreche, man fand es politisch nicht besonders wichtig. Also wir hatten andere Probleme, Hochhausbebauung und dies und das, also, das stand nicht im Zentrum, weil wie gesagt, die Grüne Partei selbst hat dieses Thema nicht gepusht.
Heise: Ich spreche mit dem Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik. Der Umgang, Herr Brumlik, mit kindlicher Sexualität hat sich ja in den letzten Jahrzehnten enorm verändert. Heute, also Sie haben es ja nachgezeichnet, also das Aufbrechen, das Freierwerden in den 80er- oder 90er-Jahren. In den letzten Jahren sind wir in der Debatte geprägt worden von dem Aufdecken von Missbrauchsskandalen an Schulen, an Kirchen. Und dann gab es natürlich schon allein aus diesem Grund eine enorme Sensibilisierung beim Thema Kindesmissbrauch. Wie nehmen Sie diese Sensibilisierung wahr?
Brumlik: Also ich begrüße diese Sensibilisierung vor allem vor dem Hintergrund dessen, dass, als diese Missbrauchsfälle etwa an der Odenwaldschule zum ersten Mal aufgedeckt wurden – das war, glaube ich, 1999 –, zehn Jahre lang überhaupt nichts passiert ist. Das ist ein echter Skandal, und das muss nach wie vor – hat jetzt mit den Grünen nichts zu tun – untersucht werden, wie es sein konnte, dass es da zehn Jahre lang ein Schweigekartell gegeben hat. Das ist schon sehr eigentümlich. Darüber hinaus haben wir heute wieder eine Diskussion, in der Positionen, die damals übrigens gesamtgesellschaftlich durchaus akzeptiert gewesen sind, über Pädophilie. Also es gab so Aufklärungsbücher, in denen das relativ lässig akzeptiert wurde. Ein sogenannter Sexualforscher wie Ernest Bornemann, der ein Buch nach dem anderen darüber geschrieben hat, wurde sogar Honorarprofessor an der katholischen Universität in Salzburg. Auch die evangelische Kirche hat so was für ihre Jugendarbeit für wichtig gehalten, also Instanzen der evangelischen Kirche. Also das war die Verunsicherung, also die Leute haben immer noch gewissermaßen diese antiautoritäre, psychoanalytische Theorie der kindlichen Entwicklung, wie soll ich mal sagen, nachgearbeitet.
Heise: Haben Sie den Eindruck, dass das jetzt mit der Sensibilisierung, die Sie ja als durchaus positiv, oder die man ja auch nur als positiv sehen kann – kann da aber auch, besteht da aber auch wieder die Gefahr, dass das Pendel quasi wieder zurückschlägt ins andere Extrem, also dass Bindung zu Kindern jetzt generell unter Verdacht gerät?
Brumlik: Also das kann schon passieren. Ich denke zum Beispiel, dass Bezugspersonen in Einrichtungen, die mit Kindern arbeiten, sich jetzt natürlich einem sehr viel stärkeren Kontrolldruck und Misstrauen ausgesetzt sehen. Auf der anderen Seite, und das finde ich so paradox und geradezu pervers, haben wir dann im Privatfernsehen Castingshows mit Kindern, also ich glaube, mit Kindern als Sängern und so was. Das heißt also, Kindheit wird durchaus ästhetisch und in der Werbung auch in gewisser Weise sexualisiert. Auf der anderen Seite hat man dann also diese gesteigerte Sensibilität.
Heise: Wie gehen Sie als Erziehungswissenschaftler damit um, also gerade auch mit dieser Spannung, die da entsteht?
Brumlik: Also mir war es immer wichtig, zu sagen, dass was Kindheit … Kindheit ist ein entwicklungspsychologisches Stadium, es ist aber auch immer in gewisser Weise eine kulturelle Konstruktion. Und der Medienforscher Neil Postman hat schon, ich glaube, vor 20 Jahren ein Buch über das Verschwinden der Kindheit geschrieben. Das heißt, dass durch Mode und Medien Erwachsene und Kinder mindestens in ihrem äußeren Aussehen immer mehr aneinander angeglichen werden. Das hat nun mit Pädophilie nichts zu tun. Pädophilie im klinischen Sinne ist, wie die Psychiater sagen, eine sexuelle Orientierungsstörung, die ist angeboren, angeerbt oder da ist irgendwas im Gehirn falsch verdrahtet. Aber es scheint ja auch so zu sein, wenn ich das noch anführen darf, dass die meisten Missbrauchsfälle gar nicht auf diese – in Anführungszeichen– echten Pädophilen zurückgehen, sondern auf Ausweichtäter, Leute, die ihre sexuellen Bedürfnisse anderweitig nicht unterbringen können und sich dann an den Schwächsten der Schwachen gütlich halten.
Heise: Der Erziehungswissenschaftler und Publizist und ehemaliges Mitglied der Grünen, Micha Brumlik. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Brumlik!
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