"Man hat die Bürger bewusst außen vor gelassen"
Tübingens Oberbürgermeister und einer der Hauptkritiker von Stuttgart 21, Boris Palmer (Grüne), schließt eine Einigung ohne Volksentscheid im Streit um das Verkehrsprojekt aus. Das Projekt sei zwar legal, aber nicht mehr legitim, sagt Palmer.
Deutschlandradio Kultur: Sind Sie ein schlechter Verlierer?
Boris Palmer: Ja.
Deutschlandradio Kultur: Sind die Grünen in Baden-Württemberg auch schlechte Verlierer?
Boris Palmer: Nein, das gehört sich nicht. Man muss auch bereit sein, Oppositionsarbeit zu machen – tun wir seit 30 Jahren und ziemlich gut.
Deutschlandradio Kultur: Sie wissen, wo wir hinauswollen. Es geht um Stuttgart 21. Es gab Diskussionen, Wochen, Monate, jahrelang, aber es gab auch öffentliche Entscheidungen, demokratische Gremien. Warum eigentlich jetzt das Ganze noch mal kippen?
Boris Palmer: Das Projekt hat Legitimationsprobleme. Sonst würden nicht deutlich über 100.000 Leute auf die Straße gehen und dagegen demonstrieren. Woher kommt es? Aus Fehlern im Verfahren. Man hat die Bürger bewusst außen vor gelassen, Bürgerentscheide verhindert, statt ermöglicht. Aus den üblichen Problemen von Großprojekten, man tut so, als wären die Kosten niedrig, um sie beschließen zu können, und nachher kommt die Wahrheit auf den Tisch, und aus einer Reihe von Fachproblemen, zu denen die Geologie, zu denen die Tunnelstrecken und die verkehrlichen Beziehungen gehören, die jetzt alle erst nachträglich ans Licht kommen, weil man die Gutachten unter Verschluss gehalten hat. Und weil so viele Fehler im Verfahren gemacht wurden, sind leider auch die Parlamentsbeschlüsse nicht mehr viel wert. Sie stehen auf einem brüchigen Fundament.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben möglicherweise, wir nehmen das jetzt mal so an, die Argumente auf Ihrer Seite, aber nicht die Mehrheiten. Und das ist doch der entscheidende Punkt. Wenn dieselben Leute, die seit Jahr und Tag gekämpft haben, aber in der Minderheit sind, jetzt auf die Straße gehen und so tun, als würden sie etwas kippen wollen, was die Mehrheit ihnen nicht so genehmigt hat in der Vergangenheit, sonst hätten sie ja andere Einsprüche gehabt, warum akzeptieren Sie das nicht?
Boris Palmer: Die Mehrheit in den Parlamenten? Ja, da haben Sie Recht, denn außer den Grünen waren alle Parteien immer für das Projekt. Die Mehrheit in der Bevölkerung? Das wissen wir nicht so genau, weil die Volksabstimmungen und Bürgerentscheide nie zugelassen würden. Aber wir sehen bei Umfragen sehr viel Ablehnung von Stuttgart 21. Und wir sehen die Leute auf der Straße. Und sie hätten auch dann noch Recht, wenn die Leute auf der Straße alles grüne Mitglieder wären. Das kann aber nicht sein, denn es gibt in Baden-Württemberg nur 8.000. Also sind mindestens 92.000 nicht von den Grünen auf die Straße geschickt. Das ist eben eine Volksbewegung und kein Parteitag.
Deutschlandradio Kultur: Trotzdem will ich noch mal nachhaken. Es gab Architektenwettbewerbe. Es gab Planfeststellungsverfahren, Baugenehmigungen, Finanzierungsentscheidungen. Der Gemeinderat hat darüber geredet, der Landtag, der Bundestag. Und das hat alles keine Bedeutung?
Boris Palmer: Jetzt nehme ich mal ein ganz prägnantes Beispiel heraus, mit dem meine Anfangsthese, dass das zwar legal alles korrekt ist, aber nicht mehr legitim, deutlich wird. Das ist die Kostenfrage. Letzten Dezember hatte Herr Grube die Wahl das Projekt zu beenden, indem er das, was seine Ingenieure errechnet haben, öffentlich macht, die Kosten sind 5 Mrd. Euro für Stuttgart 21, oder die Kosten künstlich runterrechnet, weil 4,5 Mrd. als Ausstiegsgrenze von allen Partnern gesetzt war. Was hat er gemacht? Er hat 4,1 Milliarden in die Öffentlichkeit getragen und hat behauptet, sie hätten noch mal genau geguckt, man könnte den Tunnel dünner machen und weniger Stahl einbauen. Und durch Vergabegewinne gingen die Preise auch noch mal runter und da würde man fast eine Milliarde einsparen.
Das können Sie glauben oder nicht. Klar ist aber, wenn man so mit den Fakten umgeht, darf man sich nicht wundern, wenn die Leute auf die Straße gehen und sagen, wir lassen uns doch nicht für dumm verkaufen. Und solange so – ich sage bewusst – manipuliert wird, ist es zwar alles rechtsstaatlich korrekt, aber es ist eben nicht legitim. Und deswegen ist es richtig zu verlangen, endlich alle Fakten auf den Tisch zu legen.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt also, es geht ums Geld und um zu viel Geld, das ausgegeben wird, und nicht um die Sache an sich?
Boris Palmer: Nein, ich habe ja gerade gesagt, ich nenne Ihnen ein Beispiel, wo deutlich wird, wie im Verfahren manipuliert wurde, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen, nämlich Stuttgart 21 zu bauen. Es geht bei dem Projekt um sehr viel mehr, und zwar für viele Menschen, um ganz Unterschiedliches. Der Protest ist sicher heterogen. Manche sorgen sich um den Park und den acht Meter hohen Wall, der da mitten durch die Stadt – angeblich als Tunnelbahnhof, tatsächlich als Wallbahnhof – hergestellt werden soll.
Andere wollen den Kopfbahnhof als Denkmal erhalten. Damit ist es leider mit dem Nordflügel schon zu spät. Wieder andere, wie ich, sind vor allem verkehrlich sensibilisiert. Ich behaupte, das ist ein unterirdischer Engpass, der den Schienenverkehr in Baden-Württemberg, wenn nicht kaputt macht, dann jedenfalls so einengt, dass er für die nächsten 100 Jahre kaum mehr wachsen kann. Und wieder andere sorgen sich ums Geld und sagen: Wenn das Land Baden-Württemberg 1,7 Milliarden freie Haushaltsmittel ausgeben will, dann sollen sie es in die Schulen und Hochschulen stecken und nicht in das Vergraben eines vorhandenen Bahnhofs. Es gibt viele Motive, um gegen Stuttgart 21 zu sein.
Deutschlandradio Kultur: Die Gegner haben im Laufe der Zeit Rechtsmittel eingelegt gegen Entscheidungen, gegen das Planfeststellungsverfahren in seinen verschiedenen Schritten, aber auch gegen die Ablehnung des Bürgerentscheids. Aber der Vorwurf ist, sie sind nie bis zur allerletzten Instanz gegangen. Warum nicht?
Boris Palmer: Da haben Sie Recht. Das hat in vielen Fällen schlicht mit den Kosten zu tun und mit der Tatsache, dass es sich hier um eine Bürgerbewegung gehandelt hat, die nicht mit den finanziellen Ressourcen ausgestattet war, Prozessrisiken bis zum Ende einzugehen. Sie müssten in dem Fall tatsächlich auch die Klageführer fragen, warum sie aufgehört haben. Meiner Auffassung nach war das, was da vom Verwaltungsgericht entschieden wurde, aber auch gar nicht erheblich, weil immer die falschen Fragen zur Entscheidung vorgelegt wurden.
Beim Bürgerentscheid zum Beispiel wurde vom Verwaltungsgericht entschieden: Was ist zulässig, nachdem Verträge unterschrieben sind? Jetzt kann man darüber juristisch streiten, aber der entscheidende Punkt ist: Wenn der Oberbürgermeister Bürgerentscheide dadurch unmöglich machen darf, dass er schnell zum Notar geht und einen Vertrag unterschreibt, dann können wir die lokale Demokratie auch abschaffen. Dann wird es reine Willkür. Und der Punkt ist politisch zu bewerten. Ist es zulässig, dass ein OB hingeht, ich würde es jedenfalls für meine Stadt nicht tun, und in einem laufenden Bürgerentscheidsverfahren, wo 67.000 Unterschriften gesammelt werden, sagt, jetzt unterschreibe ich mal schnell, dann ist der Bürgerentscheid unmöglich. Und das lass ich mir dann nachher noch vom Gericht bestätigen. – Ich finde, das geht in einer demokratisch verfassten Gesellschaft einfach nicht.
Deutschlandradio Kultur: Herr Palmer, Sie sind Oberbürgermeister in Tübingen, aber haben auch für Stuttgart, für die OB-Wahlen, kandidiert, damals ein gutes Ergebnis im ersten Wahlgang bekommen und dann sich aber – zumindest indirekt – für OB Schuster ausgesprochen, der jetzt die Verantwortung trägt. Sind Sie von ihm enttäuscht, von seinem Verhalten? Was stört Sie an ihm jetzt?
Boris Palmer: Ich verstehe ihn nicht. Ich verstehe ihn wirklich nicht! Denn ich habe ihn immer für einen seriösen, freundlichen und umgänglichen Menschen gehalten und kann bis heute nicht begreifen, weil er's mir nicht erklärt hat, warum er nicht zu seinem Wort steht. Sein Wort damals im Wahlkampf 2004 war ziemlich eindeutig: "Ich bin bereit, selbst einen Bürgerentscheid durchzuführen über Stuttgart 21, wenn die Kosten für die Stadt Stuttgart sehr wesentlich" – und wir haben da über 100 Mio. Euro gesprochen – "steigen". Tatsächlich zahlt die Stadt Stuttgart jetzt eine halbe Milliarde Euro mehr als damals im Wahlkampf 2004 im Gespräch war. Und er hat den Bürgerentscheid verweigert.
Deutschlandradio Kultur: Aber wozu soll so eine Volksabstimmung eigentlich gut sein? Eine lokale Bevölkerung entscheidet über ein Riesenprojekt, das ja auch europäisch und national von Bedeutung ist. Aber so richtig hat sie innerhalb der 15 Jahre ja doch nichts zu sagen. Sie braucht ihre Abgeordneten.
Boris Palmer: Da müssen wir doch erst mal die Frage nach der europäischen Bedeutung stellen. Da trifft es sich gut, dass ich in Brüssel sitze, weil meine Frau Europaabgeordnete ist und ich in Vaterschaftszeit bin und auf das Parlament sehen kann. Das Parlament hat sich natürlich nie für den Stuttgarter Bahnhof interessiert, das wäre absurd, sondern für die Ost-West-Verbindung. Und da geht es vor allem um die Neubaustrecke nach Ulm. Die kann man aber auch an den bestehenden Kopfbahnhof anbinden. Deswegen ist es sehr legitim, dass die Frage Kopfbahnhof oder Durchgangsbahnhof in Stuttgart entschieden wird, denn das ist fast ausschließlich eine städtebauliche, keine verkehrliche Fragestellung, die überregionale Bedeutung hat.
Sie haben aber Recht, wenn man die Neubaustrecke hinzunimmt, und so wird es heute diskutiert das Gesamtprojekt, dann darf man auch die Frage stellen: Können die Stuttgarter das allein entscheiden? Nein, das sollte nicht so sein. Wenn man über das Gesamtprojekt entscheiden lassen möchte, das wollen die Befürworter, dann ist meiner Meinung nach das Land Baden-Württemberg die richtige Ebene. Dann sollte dort ein Volksentscheid herbeigeführt werden, weil es keine andere Möglichkeit mehr gibt, das Ganze zu befrieden.
Wollen Sie denn wirklich, dass die Baustelle die nächsten Jahre von Hundert- und Tausendschaften Polizei abgesichert werden muss, dass im Stuttgarter Kessel Zäune wie an der DDR-Grenze errichtet werden, um eine Baustelle zu sichern im Herzen der Stadt, einer Stadt, in der die Menschen dieses Bauvorhaben ablehnen, nicht nur inhaltlich, sondern auch weil sie sich einfach übergangen fühlen? Das kann man nur befrieden, wenn man den Leuten endlich die Möglichkeit gibt zu entscheiden, wo es langgeht.
Deutschlandradio Kultur: Also, Sie plädieren für diese Volksabstimmung, sagen, das müsste man auf baden-württembergischer Ebene möglicherweise machen. Wenn man das als transnationale Trasse betrachtet, könnte man auch sagen, das müssen wir in Europa mit entscheiden. Letztendlich stellt sich die Frage: Wie kommen Sie denn aus diesem Dilemma raus? Es gibt ja bereits Kosten, die angelaufen sind im dreistelligen Millionenbereich für diese ganzen Vorplanungen. Die würden Sie dann alle auf Null stellen und sagen, dann bezahlen wir das und wir bleiben bei der alten Geschichte?
Boris Palmer: Noch mal: Ich glaube, dass die Situation zu aufgeheizt ist, dass Parlamentsbeschlüsse alleine nicht ausreichen und die Bevölkerung deswegen das letzte Wort haben soll. So verstehe ich auch Demokratie. Volksvertreter sind dazu da, das Volk zu vertreten. Und wenn das Volk die Entscheidung wieder an sich ziehen will, dann kann doch ein Volksvertreter nicht sagen, das ist mir egal, was ihr dazu denkt, ich vertrete ich euch jetzt so, wie ich das für richtig halte.
Wie kommt man raus? Sollte sich tatsächlich eine Mehrheit der Bevölkerung gegen Stuttgart 21 aussprechen, sind Verträge aufzulösen. Das kommt vor im Geschäftsleben. Hier ist es besonders einfach, weil die Verträge nur zwischen Bahn, Stadt, Bund und Land geschlossen wurden, außerdem eigentlich nur Absichtserklärungen sind. Da steht kaum was drin. Es sind 20 Seiten, mehr ist es nicht. Die öffentlichen Einrichtungen können sich also sehr wohl drauf einigen, wir machen das nicht.
Und dann ist nur die Frage zu klären: Wer trägt die Kosten des Ausstiegs?
Die gibt es. Nach meiner Auffassung dreht es sich um 500 bis 700 Mio. Euro. Die Bahn redet von 1,4 Milliarden. Die Differenz ist vor allem ein Grundstücksgeschäft, wo die Stadt Stuttgart von der Bahn Geld bekäme, wo es also im Topf verbleibt. Nehmen wir mal 700 Millionen als echte Ausstiegskosten und nehmen weiter an, dass das Land Baden-Württemberg wegen eines Volksentscheids das Projekt beendet, dann müsste eben das Land Baden-Württemberg diese Ausstiegskosten tragen – 700 Mio. Euro.
Bisher ist aber vorgesehen, dass Baden-Württemberg für das Gesamtprojekt 1,7 Milliarden aus freien Landesmitteln beisteuert. Das heißt, danach ist noch eine Milliarde übrig, die man immer noch in Schulen und Hochschulen stecken kann. Es ist also sehr wohl möglich auszusteigen. Und nach meiner Auffassung sind diese 700 Millionen weniger als das, was schon in sehr naher Zukunft als Kostensteigerungen bei Realisierung des Projektes von jemandem bezahlt werden muss. Und da wird man auch auf das Land schauen.
Deutschlandradio Kultur: Noch mal: Ausstieg ja oder nein? Ich finde es, ehrlich gesagt, schon einen Witz, dass Sie gewählte Kommunalparlamente in der Stadt Stuttgart, in der Regierung Stuttgart haben. Die sollten das doch richten. Und wenn es einen Stimmungsumschwung gibt, könnten es die Kommunalparlamentarier richten. Wozu eine Volksentscheidung, wenn die sich gegen ihre eigenen Parlamente wendet, die sie eben erst bestimmt haben?
Boris Palmer: Es gibt eben Situationen, in denen die Entscheidung für eine Partei und die Entscheidung für eine Sache nicht dieselbe sind. Meistens spielt es keine Rolle, weil man ein Gesamtpaket hat und sich dann eben für eines entscheidet oder auch nicht und daheim bleibt und nicht wählen geht. Wenn aber ein Thema so wichtig wird, dass die Leute darüber alleine entscheiden möchten, ohne zugleich über die Frage, wo verlaufen Straßen und wie viel Lehrer werden eingestellt, entscheiden zu wollen und ohne über ihre eigenen Parteipräferenzen hinweggehen zu müssen, dann sollte man diesen Konflikt für die Leute auflösen.
Ich kann eben sehr wohl für die CDU und gegen Stuttgart 21 sein. Ich kann auch für Stuttgart 21 sein und Grünenanhänger. Das kommt alles vor. Und aus diesem Grund, um das aufzulösen, meine ich, dass es richtig ist, hier die Bevölkerung entscheiden zu lassen.
Es gibt noch einen anderen, den ich Ihnen als langjähriger Parlamentarier benennen kann. Das ist der, dass die Politik in solchen Situationen nicht mehr frei agiert. Es ist eben nicht so, dass jetzt ein Politiker hinstehen könnte und sagen, hm, wir haben uns geirrt, jetzt machen wir das mal nicht. Sondern hier geht's auch ganz stark um Gesichtswahrung, um Machtinteressen. Da wird nicht an der Sache entlang entschieden, sondern immer sehr stark entlang der politischen Linien, die sich aus der Vergangenheit heraus entwickelt haben. Und wenn man sich mal so verrannt hat, wie die Befürworter von Stuttgart 21, dann gibt es kein Zurück. Für die ist das tatsächlich ein Sackbahnhof, aus dem sie nicht mehr rauskommen. Sie können eigentlich nur über einen Volksentscheid den Ausstieg akzeptieren.
Deutschlandradio Kultur: Und nun kommt Heiner Geißler? Das ist doch jämmerlich, dass sie sich einen Externen suchen müssen, weil sie am Ort die Geschäfte nicht mehr richtig führen können.
Boris Palmer: Ich finde, Stärke zeigt sich nicht dadurch, dass man behauptet, man könne alles selbst, sondern es ist eine Stärke, Hilfe zu akzeptieren. Heiner Geißler ist ein Schlichter, der viel Erfahrung hat. Wenn es jemand überhaupt erreichen kann, dann er. Und ich meine, dass es beiden Seiten hoch anzurechnen ist, dass sie nach der Eskalation im Schlosspark, nach den Verletzten, nicht gesagt haben, wir bleiben in unseren Schützengräben hocken und lassen weiter eskalieren, sondern wir gehen jetzt endlich aufeinander zu und versuchen wieder eine friedliche Lösung zu finden, übrigens ein Weg, den ich vor zwei Monaten schon vorgeschlagen habe, ziemlich exakt dasselbe Verfahren. Damals war die Landesregierung noch der Meinung, sie könne es durchziehen. Erst der Polizeieinsatz, der furchtbar ausgegangen ist, hat ja jetzt die Bereitschaft überhaupt zu Gesprächen bei der Landesregierung erzeugt.
Deutschlandradio Kultur: Herr Palmer, wenn Sie sagen, der Volksentscheid ist der einzige Weg, dann stellt sich doch trotzdem die Frage: Was soll denn Heiner Geißler dann ausrichten, wenn Sie schon die Vorgabe geben, dass es nur den Weg gibt?
Boris Palmer: Der Volksentscheid ist der einzige Weg, wirklich Frieden herzustellen und aus dem Projekt auszusteigen. Ich sehe nicht, dass eine parlamentarische Mehrheit diesen Ausstiegsbeschluss fassen könnte. Denn außer den Grünen ist ja niemand für den Ausstieg.
Es sind so viele Argumente im Umlauf, auch so viele Nebelkerzen gezündet worden, dass es eigentlich kaum noch möglich ist, da durchzublicken, wenn man nicht ein kleines Stuttgart-21-Studium betreibt.
Tatsächlich haben das zig-Tausende Menschen mittlerweile gemacht, aber in ganz Baden-Württemberg ist das ja noch nicht der Fall. Und deswegen glaube ich, dass das Hauptergebnis dieser "Sach- und Faktenschlichtung", so sagt Heiner Geißler, darin bestehen könnte, dass man eine von beiden Seiten akzeptierte Darstellung des Sachverhalts erstellt, dass also klarer wird, wo laufen eigentlich die Konfliktlinien, was sind die Argumente, was sind die Vor- und Nachteile, und dass man sich dabei auf das Wesentliche beschränken kann. Und wenn das mal dann ans Licht der Öffentlichkeit kommt, da geht's auch noch um einige Gutachten, die bisher nicht vorgelegt wurden, einige Daten, die wirklich entscheidungserheblich sind, wenn das alles Ergebnis dieser Sach- und Faktenschlichtung vorliegt, dann besteht zumindest die Möglichkeit, einen Volksentscheid rational durchzuführen. Ob der dann kommt, das steht auf einem anderen Blatt. Ich glaube auch nicht, dass das Schlichtungsergebnis diese Frage entscheiden wird.
Deutschlandradio Kultur: Gesetzt den Fall, die Grünen sitzen nach der Landtagswahl im März auf der Regierungsbank, wird dann Stuttgart 21 fortgesetzt oder eingestellt werden?
Boris Palmer: Also, sicher kann ich Ihnen sagen, dass die Grünen nicht auf der Regierungsbank sitzen werden, wenn die Bedingung ist, Stuttgart 21 weiter zu bauen. Aus heutiger Sicht schließt das aus, mit der CDU zu regieren. Es bleibt die Möglichkeit einer Koalition mit der SPD. Die Umfragen geben das ja auch her. Und die SPD hat dafür schon erklärt, dass sie den Volksentscheid ihrerseits als Bedingung für das Projekt benennt.
Damit, denke ich, ist geklärt, wie es gehen könnte. Wenn Grüne und SPD die Landesregierung stellen, dann wird die Frage des Ausstiegs mit den entsprechenden Kosten dem Volk zur Entscheidung vorgelegt. Und das Ergebnis akzeptiert die Regierung dann auch selbstverständlich. Wenn dabei rauskommt, das Volk ist für Stuttgart 21, dann wird zwar das Regieren für die Grünen sehr schwer, aber dann muss man das akzeptieren.
Deutschlandradio Kultur: Aber, um noch mal auf die SPD zu kommen, den potenziellen Koalitionspartner nach dem 27. März. Bisher war die SPD für den Ausbau. Erst seit kurzem sagt Sigmar Gabriel, der Parteichef, wir wollen den Volksentscheid haben, um dann zu entscheiden. Glauben Sie den Sozialdemokraten, dass sie tatsächlich diesen Schwenk, diesen 180-Grad-Schwenk, machen und auch nachvollziehen werden?
Boris Palmer: In der Sache haben sie ja keinen 180-Grad-Schwenk gemacht. Sie bleiben weiter der Auffassung, dass Stuttgart 21 richtig ist. Sie haben tatsächlich einen Schwenk gemacht in der Frage der Bürgerbeteiligung. Denn viele Jahre haben sie in Stuttgart ja den Bürgerentscheid abgelehnt, auch im Regionalparlament sind sie da noch nicht auf dieser Linie. Aber der Bundesvorsitzende und der Landesvorsitzende haben erklärt, dass für sie der Volksentscheid zwingend ist. Und das glaube ich der SPD. Dahinter kann sie auch nicht zurück. Sollten wir gemeinsam eine Regierung bilden, dann wird die SPD sich dem Volksentscheid sicherlich nicht verweigern können. Und dann ist der Ausstieg möglich.
Deutschlandradio Kultur: Wie ist es denn mit der Alternative? Gesetzt den Fall, Baden-Württemberg entschließt sich, Stuttgart 21 als "unterirdisches Projekt", sag ich jetzt einmal, fallen zu lassen, war es das dann? Wird dann alles gemacht wie vorher? Wiederaufbau des Alten?
Boris Palmer: Nein, jetzt reden Sie vom Nordflügel. Was da geschieht, da müssen sich Architekten Gedanken machen. Das halte ich jetzt nicht für den entscheidenden Punkt. Natürlich heißt Abbruch von Stuttgart 21 nicht, alles bleibt, wie es ist, sondern zunächst – und das könnte sehr schnell gehen – müsste der Bahnhof renoviert und modernisiert werden, also, das eigentliche Bahnhofsgebäude. Und dafür laufen jetzt Vorarbeiten, die man nutzen kann. Die sogenannte Rückverlegung der Gleise, die also von der Bahnsteigkante mehr als 100 Meter weggerückt werden, die kann man nutzen, um die alten Gepäckbahnsteige rauszuwerfen und um die runtergekommene Halle abzureißen und eine schöne neue Glashalle über dem künftigen Empfangsbereich zu errichten. Da gibt es sogar schon, wie ich finde, tolle Architekturmodelle. Und dann hätten wir eben einen schönen Kopfbahnhof, wie ihn Leipzig oder Frankfurt haben, modern und saniert, praktisch zum Umsteigen. Und das Ganze könnte viel, viel schneller und zu einem Bruchteil der Kosten von Stuttgart 21 realisiert werden.
Und dann kann man Stück für Stück weitermachen, zusätzliche Gleise in den Bahnhof hineinziehen, zusätzliche Weichen installieren und sich der Frage, wie kommt man schneller über die Schwäbische Alp, widmen. Auch dafür gibt es alternative Planungen, unter anderem die Planungen, die die Bahn bis Anfang der 90er-Jahre selbst verfolgt hat, weil damals ja noch niemand auf die verrückte Idee gekommen war, dass man alles abreißt und quer durchs Tal einen neuen Bahnhof baut.
Deutschlandradio Kultur: Herr Palmer, seit Monaten wird in Stuttgart demonstriert. Und von außen betrachtet stellt sich natürlich auch die Frage: Geht's da tatsächlich nur um ein Bahnhofsprojekt oder geht es vielmehr um eine neue Form von Demokratie, um Politikverdrossenheit, auch um den Versuch, was Herr Mappus ja gesagt hat, die Grünen wollen eigentlich nur versuchen, über diesen Hebel die CDU aus der Regierungsverantwortung rauszukriegen.
Boris Palmer: Also, was den letzten Punkt angeht, empfinde ich das als Kompliment. Da wird ja eine Genialität unterstellt, die auf diesem Planeten kaum jemand haben kann. Ich hab vor zehn Jahren im Landtag schon die Reden gegen Herrn Mappus und gegen Stuttgart 21 gehalten. Und ganz offensichtlich wussten wir damals schon ganz genau, wie im Herbst 2010 kurz vor der Landtagswahl dieser Widerstand entsteht und wie er sich instrumentalisieren lässt, um die CDU von der Macht zu verdrängen. Also, mit Verlaub, das ist einigermaßen absurd.
Was natürlich nicht bedeutet, dass Parteien keinen Wahlkampf machen. Es wäre ja dämlich, wenn die Grünen jetzt sagen würden, wir tun so, als gibt's keine Landtagswahl im Frühjahr. Das behaupte ich nicht, aber unser Widerstand ist so fundiert. Er läuft schon so lange, er ist so intensiv mit Argumenten hinterlegt in allen Debatten, in allen Parlamenten, dass man diesen Vorwurf wirklich nicht aufrecht erhalten kann.
Richtig ist allerdings, dass diese Bewegung so heterogen ist, dass Sie da ganz viele Leute finden. Ich habe auch Flugblätter von Anarchisten und von Kommunisten schon in die Hand gedrückt bekommen. Da finden sich natürlich Leute ein, die auch ganz eigene Ziele verfolgen. Es mag auch welche geben, die eigentlich die Demokratie nicht mehr mittragen und andere Gesellschaftsformen wollen. Dagegen können Sie sich schlecht wehren. Wenn 100.000 Leute durch die Stadt laufen, dann sind auch solche Ansichten vertreten. Sie sind aber so radikal in der Minderheit, dass man insgesamt von einem bürgerlich-demokratisch getragenen Protest sprechen kann. Und dem geht's um den Bahnhof, um den Park, um den Schienenverkehr und ganz stark um mehr Bürgerbeteiligung. Ich finde das legitim.
Deutschlandradio Kultur: Aber Sie sind doch Oberbürgermeister. Das heißt, Sie leiten in Tübingen wahrscheinlich, nehme ich mal an, ein kleines Unternehmen. Wie viel Mitarbeiter werden Sie haben? Bis an die 4.000 vielleicht?
Boris Palmer: Nicht ganz so groß. Es ist eine schlanke Verwaltung – 1.500.
Deutschlandradio Kultur: Aber das reicht ja auch schon so. Da werden Sie wissen, wie man komplexe Prozesse planen kann. Wenn Sie jetzt nun vorstellen, was da abgelaufen ist über 15 Jahre in Stuttgart, da fragen sich manche Leute doch zu recht: Sind solche Großprojekte überhaupt noch zu machen?
Boris Palmer: Die sind natürlich schwierig. Das ist aber nichts Neues. Es sind auch schon andere Großprojekte gescheitert, der Transrapid gleich mehrmals. Man hat auch einen schnellen Brüter für mehrere Milliarden Euro errichten wollen und als Ruine stehen lassen. Und manches Großprojekt ist vielleicht auch einfach falsch angelegt.
Wenn man aber Großprojekte machen will, dann kann man das nicht mehr im Bürokratenstil tun, sondern dann muss man von Anfang an mit der Bevölkerung über die Auswirkungen sprechen. Man darf nicht nur fragen, in welcher Zeit komme ich von Paris nach Bratislava, sondern man sollte auch die Frage stellen: Wie geht es den Leuten, die in Stuttgart durch den Park spazieren wollen? Beides muss man berücksichtigen. Nur dann kann man solche Großprojekte realisieren.
Deutschlandradio Kultur: Wenn ich Sie richtig verstehe, geht's auch um neue Wege der Bürgerbeteiligung. Sie versuchen das in Tübingen, indem Sie beispielsweise sagen, wir müssen 2011 im Etat sparen und die Bürger sollen mal Vorschläge machen, wie man das machen will. Nur, das Komische ist, die Bürger sind nicht so engagiert, wie Sie sich das vielleicht vorstellen.
Boris Palmer: Sie haben recht. Ich rede nicht nur über Bürgerbeteiligung, sondern wir versuchen in Tübingen die auch weiter auszubauen als bisher vom Gesetz gefordert, zum Beispiel in der Bauleitplanung. Wir machen da sehr, sehr viel mehr, machen Arbeitskreise mit den künftigen Nachbarn von Neubaugebieten. Auch da gibt's Streit. Und wenn Sie über Haushaltsfragen reden, dann wird's am schwierigsten. Ich habe jetzt auch mit Interesse gelesen, was bei unserer Befragung der Bürgerschaft über Einsparmöglichkeiten herausgekommen ist. Und da war eine Maßnahme am beliebtesten: die Erhöhung der Hundesteuer. Ich bin mir ziemlich sicher, dass nur die Leute, die keine Hunde haben, diesen Vorschlag so toll fanden. Da gibt es Schwierigkeiten. Und mit denen muss man umgehen. Trotzdem darf man nicht von vornherein unberücksichtigt lassen, was der Bürgerwille ist. Man darf ihn nicht übergehen.
Deutschlandradio Kultur: Nun mag es ja sein, dass Sie in einem kleinteiligen Bereich, wie einer Stadt, einer Kommune, in Nachbarschaften gut damit zurande kommen, aber denken Sie doch mal an Ihre eigene rot-grüne Regierungszeit im Bund zurück. Da sind Sie mit der Agenda 2010 – ich sage es mal – stimmungsmäßig, nicht inhaltlich, aber stimmungsmäßig voll auf die Nase gefallen, so sehr, dass sich die derzeitige Regierung gar nichts mehr traut und dadurch auf die Nase fällt. Noch mal die Frage: Wie muss man solche Projekte künftig angehen, wenn man handeln will, aber nicht die Wahlen haushoch verlieren möchte?
Boris Palmer: Jetzt haben Sie eine ganz andere Art Projekt genannt. Ich bin bisher im Bereich der großen Bauprojekte argumentativ gewesen. Und da glaube ich, es geht wirklich um Transparenz. Es geht um Offenheit, auch um Ehrlichkeit bei den Fakten, bei den Kosten, die Leute nicht immer für dumm verkaufen und sie einbeziehen.
Wenn es jetzt um politische Projekte geht, dann kann man ja nicht sagen, dass die Bundesregierung gerade nichts Unpopuläres tut. Die Gesundheitsreform ist reine Klientelpolitik für wenige. Der Atomausstieg ist nicht gerade als Rückabwicklung von der Bevölkerung eingefordert worden – der Ausstieg aus dem Ausstieg. Und so können Sie durchgehen. Es ist ja nicht so, dass Politik derzeit nichts Unpopuläres, ich sage, nichts Falsches macht. Dass dabei auch direkte Demokratie eine Rolle spielen kann, aber nur eingegrenzt, sieht man in der Schweiz. Manches ist aus unserer Sicht besser im Ergebnis, manches ist schlechter im Ergebnis, aber der entscheidende Unterschied ist das Verfahren, dass eben die Menschen die Möglichkeit bekommen, wirklich mitzubestimmen.
Und ich denke, es ist eine Hybris der Volksvertreter, die sich in ihren eigenen Verfahren oft auch ziemlich verfangen, als Parlamentarier muss man das eingestehen, es ist eine Hybris der Volksvertreter, zu behaupten, das Volk ist zu dumm, seine Angelegenheiten selbst zu regeln.
Deutschlandradio Kultur: Aber Sie müssen das Volk natürlich rechtzeitig mit beteiligen. Und die Frage ist natürlich immer wieder: Wenn die Bagger kommen, sind wir alle aufgeregt. Vorher überlassen wir die Arbeit gern anderen, auch Bürgerinitiativen.
Boris Palmer: Dasselbe gilt für die Medien und die Politik. Wenn das Thema mal groß wird, sind plötzlich alle da und halten die Nase in die Kamera. Zehn Jahre vorher sieht man von denen nicht viel. Und ich hab jahrelang versucht, die Bundesmedien auf Stuttgart 21 und die darin liegenden Probleme aufmerksam zu machen. Das ist mir nie geglückt. Es scheint mir ein Problem, dass Sie in der repräsentativen Demokratie genauso haben, wie wenn Sie Bürgerentscheide zulassen.
Deutschlandradio Kultur: Aber nach wie vor gilt natürlich auch: Demokratie funktioniert über die Parlamente und über die Mehrheiten in den Parlamenten. Jetzt wird im Jahr 2012 ein neuer Oberbürgermeister in Stuttgart gewählt. Das wäre doch eine Chance auch für die Grünen, noch mal zu zeigen, dass sie es anders und besser machen können. Werden Sie denn noch mal antreten?
Boris Palmer: Ihre Aussage, dass nach wie vor die Parlamente bedeutungsvoll sind, unterstreiche ich. Es geht ja nicht um die Abschaffung von Parlamenten und der repräsentativen Demokratie, sondern um die Ergänzung in den Fällen, in denen die Bürger sagen, wir wollen diese Sache selbst regeln.
Was jetzt die Wahl im Jahr 2012 angeht, ich habe verschiedentlich erklärt, dass meine Aufgabe in Tübingen bis 2014 geht, so lang bin ich gewählt, und dass sie mich sehr stark in Anspruch nimmt und dass ich auch Freude dran hab. Deswegen ist für mich eine Kandidatur in Stuttgart wirklich auch kein Gedanke. Na ja, jetzt kommt immer gleich die Frage: Für alle Ewigkeiten? – Hätten Sie vor einem halben Jahr die Frage gestellt an Winfried Kretschmann, sind Sie bereit Ministerpräsident zu werden, hätte er Ihnen auch gesagt, was soll der Blödsinn. Jetzt scheint es plötzlich im Bereich des Möglichen. Wenn Sie mich aber fragen, was ich vor habe, was meine feste Absicht ist, dann ist es die, nicht in Stuttgart 2012 für den OB zu kandidieren.
Deutschlandradio Kultur: Herr Palmer, wir danken für dieses Gespräch.
Boris Palmer: Ja.
Deutschlandradio Kultur: Sind die Grünen in Baden-Württemberg auch schlechte Verlierer?
Boris Palmer: Nein, das gehört sich nicht. Man muss auch bereit sein, Oppositionsarbeit zu machen – tun wir seit 30 Jahren und ziemlich gut.
Deutschlandradio Kultur: Sie wissen, wo wir hinauswollen. Es geht um Stuttgart 21. Es gab Diskussionen, Wochen, Monate, jahrelang, aber es gab auch öffentliche Entscheidungen, demokratische Gremien. Warum eigentlich jetzt das Ganze noch mal kippen?
Boris Palmer: Das Projekt hat Legitimationsprobleme. Sonst würden nicht deutlich über 100.000 Leute auf die Straße gehen und dagegen demonstrieren. Woher kommt es? Aus Fehlern im Verfahren. Man hat die Bürger bewusst außen vor gelassen, Bürgerentscheide verhindert, statt ermöglicht. Aus den üblichen Problemen von Großprojekten, man tut so, als wären die Kosten niedrig, um sie beschließen zu können, und nachher kommt die Wahrheit auf den Tisch, und aus einer Reihe von Fachproblemen, zu denen die Geologie, zu denen die Tunnelstrecken und die verkehrlichen Beziehungen gehören, die jetzt alle erst nachträglich ans Licht kommen, weil man die Gutachten unter Verschluss gehalten hat. Und weil so viele Fehler im Verfahren gemacht wurden, sind leider auch die Parlamentsbeschlüsse nicht mehr viel wert. Sie stehen auf einem brüchigen Fundament.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben möglicherweise, wir nehmen das jetzt mal so an, die Argumente auf Ihrer Seite, aber nicht die Mehrheiten. Und das ist doch der entscheidende Punkt. Wenn dieselben Leute, die seit Jahr und Tag gekämpft haben, aber in der Minderheit sind, jetzt auf die Straße gehen und so tun, als würden sie etwas kippen wollen, was die Mehrheit ihnen nicht so genehmigt hat in der Vergangenheit, sonst hätten sie ja andere Einsprüche gehabt, warum akzeptieren Sie das nicht?
Boris Palmer: Die Mehrheit in den Parlamenten? Ja, da haben Sie Recht, denn außer den Grünen waren alle Parteien immer für das Projekt. Die Mehrheit in der Bevölkerung? Das wissen wir nicht so genau, weil die Volksabstimmungen und Bürgerentscheide nie zugelassen würden. Aber wir sehen bei Umfragen sehr viel Ablehnung von Stuttgart 21. Und wir sehen die Leute auf der Straße. Und sie hätten auch dann noch Recht, wenn die Leute auf der Straße alles grüne Mitglieder wären. Das kann aber nicht sein, denn es gibt in Baden-Württemberg nur 8.000. Also sind mindestens 92.000 nicht von den Grünen auf die Straße geschickt. Das ist eben eine Volksbewegung und kein Parteitag.
Deutschlandradio Kultur: Trotzdem will ich noch mal nachhaken. Es gab Architektenwettbewerbe. Es gab Planfeststellungsverfahren, Baugenehmigungen, Finanzierungsentscheidungen. Der Gemeinderat hat darüber geredet, der Landtag, der Bundestag. Und das hat alles keine Bedeutung?
Boris Palmer: Jetzt nehme ich mal ein ganz prägnantes Beispiel heraus, mit dem meine Anfangsthese, dass das zwar legal alles korrekt ist, aber nicht mehr legitim, deutlich wird. Das ist die Kostenfrage. Letzten Dezember hatte Herr Grube die Wahl das Projekt zu beenden, indem er das, was seine Ingenieure errechnet haben, öffentlich macht, die Kosten sind 5 Mrd. Euro für Stuttgart 21, oder die Kosten künstlich runterrechnet, weil 4,5 Mrd. als Ausstiegsgrenze von allen Partnern gesetzt war. Was hat er gemacht? Er hat 4,1 Milliarden in die Öffentlichkeit getragen und hat behauptet, sie hätten noch mal genau geguckt, man könnte den Tunnel dünner machen und weniger Stahl einbauen. Und durch Vergabegewinne gingen die Preise auch noch mal runter und da würde man fast eine Milliarde einsparen.
Das können Sie glauben oder nicht. Klar ist aber, wenn man so mit den Fakten umgeht, darf man sich nicht wundern, wenn die Leute auf die Straße gehen und sagen, wir lassen uns doch nicht für dumm verkaufen. Und solange so – ich sage bewusst – manipuliert wird, ist es zwar alles rechtsstaatlich korrekt, aber es ist eben nicht legitim. Und deswegen ist es richtig zu verlangen, endlich alle Fakten auf den Tisch zu legen.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt also, es geht ums Geld und um zu viel Geld, das ausgegeben wird, und nicht um die Sache an sich?
Boris Palmer: Nein, ich habe ja gerade gesagt, ich nenne Ihnen ein Beispiel, wo deutlich wird, wie im Verfahren manipuliert wurde, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen, nämlich Stuttgart 21 zu bauen. Es geht bei dem Projekt um sehr viel mehr, und zwar für viele Menschen, um ganz Unterschiedliches. Der Protest ist sicher heterogen. Manche sorgen sich um den Park und den acht Meter hohen Wall, der da mitten durch die Stadt – angeblich als Tunnelbahnhof, tatsächlich als Wallbahnhof – hergestellt werden soll.
Andere wollen den Kopfbahnhof als Denkmal erhalten. Damit ist es leider mit dem Nordflügel schon zu spät. Wieder andere, wie ich, sind vor allem verkehrlich sensibilisiert. Ich behaupte, das ist ein unterirdischer Engpass, der den Schienenverkehr in Baden-Württemberg, wenn nicht kaputt macht, dann jedenfalls so einengt, dass er für die nächsten 100 Jahre kaum mehr wachsen kann. Und wieder andere sorgen sich ums Geld und sagen: Wenn das Land Baden-Württemberg 1,7 Milliarden freie Haushaltsmittel ausgeben will, dann sollen sie es in die Schulen und Hochschulen stecken und nicht in das Vergraben eines vorhandenen Bahnhofs. Es gibt viele Motive, um gegen Stuttgart 21 zu sein.
Deutschlandradio Kultur: Die Gegner haben im Laufe der Zeit Rechtsmittel eingelegt gegen Entscheidungen, gegen das Planfeststellungsverfahren in seinen verschiedenen Schritten, aber auch gegen die Ablehnung des Bürgerentscheids. Aber der Vorwurf ist, sie sind nie bis zur allerletzten Instanz gegangen. Warum nicht?
Boris Palmer: Da haben Sie Recht. Das hat in vielen Fällen schlicht mit den Kosten zu tun und mit der Tatsache, dass es sich hier um eine Bürgerbewegung gehandelt hat, die nicht mit den finanziellen Ressourcen ausgestattet war, Prozessrisiken bis zum Ende einzugehen. Sie müssten in dem Fall tatsächlich auch die Klageführer fragen, warum sie aufgehört haben. Meiner Auffassung nach war das, was da vom Verwaltungsgericht entschieden wurde, aber auch gar nicht erheblich, weil immer die falschen Fragen zur Entscheidung vorgelegt wurden.
Beim Bürgerentscheid zum Beispiel wurde vom Verwaltungsgericht entschieden: Was ist zulässig, nachdem Verträge unterschrieben sind? Jetzt kann man darüber juristisch streiten, aber der entscheidende Punkt ist: Wenn der Oberbürgermeister Bürgerentscheide dadurch unmöglich machen darf, dass er schnell zum Notar geht und einen Vertrag unterschreibt, dann können wir die lokale Demokratie auch abschaffen. Dann wird es reine Willkür. Und der Punkt ist politisch zu bewerten. Ist es zulässig, dass ein OB hingeht, ich würde es jedenfalls für meine Stadt nicht tun, und in einem laufenden Bürgerentscheidsverfahren, wo 67.000 Unterschriften gesammelt werden, sagt, jetzt unterschreibe ich mal schnell, dann ist der Bürgerentscheid unmöglich. Und das lass ich mir dann nachher noch vom Gericht bestätigen. – Ich finde, das geht in einer demokratisch verfassten Gesellschaft einfach nicht.
Deutschlandradio Kultur: Herr Palmer, Sie sind Oberbürgermeister in Tübingen, aber haben auch für Stuttgart, für die OB-Wahlen, kandidiert, damals ein gutes Ergebnis im ersten Wahlgang bekommen und dann sich aber – zumindest indirekt – für OB Schuster ausgesprochen, der jetzt die Verantwortung trägt. Sind Sie von ihm enttäuscht, von seinem Verhalten? Was stört Sie an ihm jetzt?
Boris Palmer: Ich verstehe ihn nicht. Ich verstehe ihn wirklich nicht! Denn ich habe ihn immer für einen seriösen, freundlichen und umgänglichen Menschen gehalten und kann bis heute nicht begreifen, weil er's mir nicht erklärt hat, warum er nicht zu seinem Wort steht. Sein Wort damals im Wahlkampf 2004 war ziemlich eindeutig: "Ich bin bereit, selbst einen Bürgerentscheid durchzuführen über Stuttgart 21, wenn die Kosten für die Stadt Stuttgart sehr wesentlich" – und wir haben da über 100 Mio. Euro gesprochen – "steigen". Tatsächlich zahlt die Stadt Stuttgart jetzt eine halbe Milliarde Euro mehr als damals im Wahlkampf 2004 im Gespräch war. Und er hat den Bürgerentscheid verweigert.
Deutschlandradio Kultur: Aber wozu soll so eine Volksabstimmung eigentlich gut sein? Eine lokale Bevölkerung entscheidet über ein Riesenprojekt, das ja auch europäisch und national von Bedeutung ist. Aber so richtig hat sie innerhalb der 15 Jahre ja doch nichts zu sagen. Sie braucht ihre Abgeordneten.
Boris Palmer: Da müssen wir doch erst mal die Frage nach der europäischen Bedeutung stellen. Da trifft es sich gut, dass ich in Brüssel sitze, weil meine Frau Europaabgeordnete ist und ich in Vaterschaftszeit bin und auf das Parlament sehen kann. Das Parlament hat sich natürlich nie für den Stuttgarter Bahnhof interessiert, das wäre absurd, sondern für die Ost-West-Verbindung. Und da geht es vor allem um die Neubaustrecke nach Ulm. Die kann man aber auch an den bestehenden Kopfbahnhof anbinden. Deswegen ist es sehr legitim, dass die Frage Kopfbahnhof oder Durchgangsbahnhof in Stuttgart entschieden wird, denn das ist fast ausschließlich eine städtebauliche, keine verkehrliche Fragestellung, die überregionale Bedeutung hat.
Sie haben aber Recht, wenn man die Neubaustrecke hinzunimmt, und so wird es heute diskutiert das Gesamtprojekt, dann darf man auch die Frage stellen: Können die Stuttgarter das allein entscheiden? Nein, das sollte nicht so sein. Wenn man über das Gesamtprojekt entscheiden lassen möchte, das wollen die Befürworter, dann ist meiner Meinung nach das Land Baden-Württemberg die richtige Ebene. Dann sollte dort ein Volksentscheid herbeigeführt werden, weil es keine andere Möglichkeit mehr gibt, das Ganze zu befrieden.
Wollen Sie denn wirklich, dass die Baustelle die nächsten Jahre von Hundert- und Tausendschaften Polizei abgesichert werden muss, dass im Stuttgarter Kessel Zäune wie an der DDR-Grenze errichtet werden, um eine Baustelle zu sichern im Herzen der Stadt, einer Stadt, in der die Menschen dieses Bauvorhaben ablehnen, nicht nur inhaltlich, sondern auch weil sie sich einfach übergangen fühlen? Das kann man nur befrieden, wenn man den Leuten endlich die Möglichkeit gibt zu entscheiden, wo es langgeht.
Deutschlandradio Kultur: Also, Sie plädieren für diese Volksabstimmung, sagen, das müsste man auf baden-württembergischer Ebene möglicherweise machen. Wenn man das als transnationale Trasse betrachtet, könnte man auch sagen, das müssen wir in Europa mit entscheiden. Letztendlich stellt sich die Frage: Wie kommen Sie denn aus diesem Dilemma raus? Es gibt ja bereits Kosten, die angelaufen sind im dreistelligen Millionenbereich für diese ganzen Vorplanungen. Die würden Sie dann alle auf Null stellen und sagen, dann bezahlen wir das und wir bleiben bei der alten Geschichte?
Boris Palmer: Noch mal: Ich glaube, dass die Situation zu aufgeheizt ist, dass Parlamentsbeschlüsse alleine nicht ausreichen und die Bevölkerung deswegen das letzte Wort haben soll. So verstehe ich auch Demokratie. Volksvertreter sind dazu da, das Volk zu vertreten. Und wenn das Volk die Entscheidung wieder an sich ziehen will, dann kann doch ein Volksvertreter nicht sagen, das ist mir egal, was ihr dazu denkt, ich vertrete ich euch jetzt so, wie ich das für richtig halte.
Wie kommt man raus? Sollte sich tatsächlich eine Mehrheit der Bevölkerung gegen Stuttgart 21 aussprechen, sind Verträge aufzulösen. Das kommt vor im Geschäftsleben. Hier ist es besonders einfach, weil die Verträge nur zwischen Bahn, Stadt, Bund und Land geschlossen wurden, außerdem eigentlich nur Absichtserklärungen sind. Da steht kaum was drin. Es sind 20 Seiten, mehr ist es nicht. Die öffentlichen Einrichtungen können sich also sehr wohl drauf einigen, wir machen das nicht.
Und dann ist nur die Frage zu klären: Wer trägt die Kosten des Ausstiegs?
Die gibt es. Nach meiner Auffassung dreht es sich um 500 bis 700 Mio. Euro. Die Bahn redet von 1,4 Milliarden. Die Differenz ist vor allem ein Grundstücksgeschäft, wo die Stadt Stuttgart von der Bahn Geld bekäme, wo es also im Topf verbleibt. Nehmen wir mal 700 Millionen als echte Ausstiegskosten und nehmen weiter an, dass das Land Baden-Württemberg wegen eines Volksentscheids das Projekt beendet, dann müsste eben das Land Baden-Württemberg diese Ausstiegskosten tragen – 700 Mio. Euro.
Bisher ist aber vorgesehen, dass Baden-Württemberg für das Gesamtprojekt 1,7 Milliarden aus freien Landesmitteln beisteuert. Das heißt, danach ist noch eine Milliarde übrig, die man immer noch in Schulen und Hochschulen stecken kann. Es ist also sehr wohl möglich auszusteigen. Und nach meiner Auffassung sind diese 700 Millionen weniger als das, was schon in sehr naher Zukunft als Kostensteigerungen bei Realisierung des Projektes von jemandem bezahlt werden muss. Und da wird man auch auf das Land schauen.
Deutschlandradio Kultur: Noch mal: Ausstieg ja oder nein? Ich finde es, ehrlich gesagt, schon einen Witz, dass Sie gewählte Kommunalparlamente in der Stadt Stuttgart, in der Regierung Stuttgart haben. Die sollten das doch richten. Und wenn es einen Stimmungsumschwung gibt, könnten es die Kommunalparlamentarier richten. Wozu eine Volksentscheidung, wenn die sich gegen ihre eigenen Parlamente wendet, die sie eben erst bestimmt haben?
Boris Palmer: Es gibt eben Situationen, in denen die Entscheidung für eine Partei und die Entscheidung für eine Sache nicht dieselbe sind. Meistens spielt es keine Rolle, weil man ein Gesamtpaket hat und sich dann eben für eines entscheidet oder auch nicht und daheim bleibt und nicht wählen geht. Wenn aber ein Thema so wichtig wird, dass die Leute darüber alleine entscheiden möchten, ohne zugleich über die Frage, wo verlaufen Straßen und wie viel Lehrer werden eingestellt, entscheiden zu wollen und ohne über ihre eigenen Parteipräferenzen hinweggehen zu müssen, dann sollte man diesen Konflikt für die Leute auflösen.
Ich kann eben sehr wohl für die CDU und gegen Stuttgart 21 sein. Ich kann auch für Stuttgart 21 sein und Grünenanhänger. Das kommt alles vor. Und aus diesem Grund, um das aufzulösen, meine ich, dass es richtig ist, hier die Bevölkerung entscheiden zu lassen.
Es gibt noch einen anderen, den ich Ihnen als langjähriger Parlamentarier benennen kann. Das ist der, dass die Politik in solchen Situationen nicht mehr frei agiert. Es ist eben nicht so, dass jetzt ein Politiker hinstehen könnte und sagen, hm, wir haben uns geirrt, jetzt machen wir das mal nicht. Sondern hier geht's auch ganz stark um Gesichtswahrung, um Machtinteressen. Da wird nicht an der Sache entlang entschieden, sondern immer sehr stark entlang der politischen Linien, die sich aus der Vergangenheit heraus entwickelt haben. Und wenn man sich mal so verrannt hat, wie die Befürworter von Stuttgart 21, dann gibt es kein Zurück. Für die ist das tatsächlich ein Sackbahnhof, aus dem sie nicht mehr rauskommen. Sie können eigentlich nur über einen Volksentscheid den Ausstieg akzeptieren.
Deutschlandradio Kultur: Und nun kommt Heiner Geißler? Das ist doch jämmerlich, dass sie sich einen Externen suchen müssen, weil sie am Ort die Geschäfte nicht mehr richtig führen können.
Boris Palmer: Ich finde, Stärke zeigt sich nicht dadurch, dass man behauptet, man könne alles selbst, sondern es ist eine Stärke, Hilfe zu akzeptieren. Heiner Geißler ist ein Schlichter, der viel Erfahrung hat. Wenn es jemand überhaupt erreichen kann, dann er. Und ich meine, dass es beiden Seiten hoch anzurechnen ist, dass sie nach der Eskalation im Schlosspark, nach den Verletzten, nicht gesagt haben, wir bleiben in unseren Schützengräben hocken und lassen weiter eskalieren, sondern wir gehen jetzt endlich aufeinander zu und versuchen wieder eine friedliche Lösung zu finden, übrigens ein Weg, den ich vor zwei Monaten schon vorgeschlagen habe, ziemlich exakt dasselbe Verfahren. Damals war die Landesregierung noch der Meinung, sie könne es durchziehen. Erst der Polizeieinsatz, der furchtbar ausgegangen ist, hat ja jetzt die Bereitschaft überhaupt zu Gesprächen bei der Landesregierung erzeugt.
Deutschlandradio Kultur: Herr Palmer, wenn Sie sagen, der Volksentscheid ist der einzige Weg, dann stellt sich doch trotzdem die Frage: Was soll denn Heiner Geißler dann ausrichten, wenn Sie schon die Vorgabe geben, dass es nur den Weg gibt?
Boris Palmer: Der Volksentscheid ist der einzige Weg, wirklich Frieden herzustellen und aus dem Projekt auszusteigen. Ich sehe nicht, dass eine parlamentarische Mehrheit diesen Ausstiegsbeschluss fassen könnte. Denn außer den Grünen ist ja niemand für den Ausstieg.
Es sind so viele Argumente im Umlauf, auch so viele Nebelkerzen gezündet worden, dass es eigentlich kaum noch möglich ist, da durchzublicken, wenn man nicht ein kleines Stuttgart-21-Studium betreibt.
Tatsächlich haben das zig-Tausende Menschen mittlerweile gemacht, aber in ganz Baden-Württemberg ist das ja noch nicht der Fall. Und deswegen glaube ich, dass das Hauptergebnis dieser "Sach- und Faktenschlichtung", so sagt Heiner Geißler, darin bestehen könnte, dass man eine von beiden Seiten akzeptierte Darstellung des Sachverhalts erstellt, dass also klarer wird, wo laufen eigentlich die Konfliktlinien, was sind die Argumente, was sind die Vor- und Nachteile, und dass man sich dabei auf das Wesentliche beschränken kann. Und wenn das mal dann ans Licht der Öffentlichkeit kommt, da geht's auch noch um einige Gutachten, die bisher nicht vorgelegt wurden, einige Daten, die wirklich entscheidungserheblich sind, wenn das alles Ergebnis dieser Sach- und Faktenschlichtung vorliegt, dann besteht zumindest die Möglichkeit, einen Volksentscheid rational durchzuführen. Ob der dann kommt, das steht auf einem anderen Blatt. Ich glaube auch nicht, dass das Schlichtungsergebnis diese Frage entscheiden wird.
Deutschlandradio Kultur: Gesetzt den Fall, die Grünen sitzen nach der Landtagswahl im März auf der Regierungsbank, wird dann Stuttgart 21 fortgesetzt oder eingestellt werden?
Boris Palmer: Also, sicher kann ich Ihnen sagen, dass die Grünen nicht auf der Regierungsbank sitzen werden, wenn die Bedingung ist, Stuttgart 21 weiter zu bauen. Aus heutiger Sicht schließt das aus, mit der CDU zu regieren. Es bleibt die Möglichkeit einer Koalition mit der SPD. Die Umfragen geben das ja auch her. Und die SPD hat dafür schon erklärt, dass sie den Volksentscheid ihrerseits als Bedingung für das Projekt benennt.
Damit, denke ich, ist geklärt, wie es gehen könnte. Wenn Grüne und SPD die Landesregierung stellen, dann wird die Frage des Ausstiegs mit den entsprechenden Kosten dem Volk zur Entscheidung vorgelegt. Und das Ergebnis akzeptiert die Regierung dann auch selbstverständlich. Wenn dabei rauskommt, das Volk ist für Stuttgart 21, dann wird zwar das Regieren für die Grünen sehr schwer, aber dann muss man das akzeptieren.
Deutschlandradio Kultur: Aber, um noch mal auf die SPD zu kommen, den potenziellen Koalitionspartner nach dem 27. März. Bisher war die SPD für den Ausbau. Erst seit kurzem sagt Sigmar Gabriel, der Parteichef, wir wollen den Volksentscheid haben, um dann zu entscheiden. Glauben Sie den Sozialdemokraten, dass sie tatsächlich diesen Schwenk, diesen 180-Grad-Schwenk, machen und auch nachvollziehen werden?
Boris Palmer: In der Sache haben sie ja keinen 180-Grad-Schwenk gemacht. Sie bleiben weiter der Auffassung, dass Stuttgart 21 richtig ist. Sie haben tatsächlich einen Schwenk gemacht in der Frage der Bürgerbeteiligung. Denn viele Jahre haben sie in Stuttgart ja den Bürgerentscheid abgelehnt, auch im Regionalparlament sind sie da noch nicht auf dieser Linie. Aber der Bundesvorsitzende und der Landesvorsitzende haben erklärt, dass für sie der Volksentscheid zwingend ist. Und das glaube ich der SPD. Dahinter kann sie auch nicht zurück. Sollten wir gemeinsam eine Regierung bilden, dann wird die SPD sich dem Volksentscheid sicherlich nicht verweigern können. Und dann ist der Ausstieg möglich.
Deutschlandradio Kultur: Wie ist es denn mit der Alternative? Gesetzt den Fall, Baden-Württemberg entschließt sich, Stuttgart 21 als "unterirdisches Projekt", sag ich jetzt einmal, fallen zu lassen, war es das dann? Wird dann alles gemacht wie vorher? Wiederaufbau des Alten?
Boris Palmer: Nein, jetzt reden Sie vom Nordflügel. Was da geschieht, da müssen sich Architekten Gedanken machen. Das halte ich jetzt nicht für den entscheidenden Punkt. Natürlich heißt Abbruch von Stuttgart 21 nicht, alles bleibt, wie es ist, sondern zunächst – und das könnte sehr schnell gehen – müsste der Bahnhof renoviert und modernisiert werden, also, das eigentliche Bahnhofsgebäude. Und dafür laufen jetzt Vorarbeiten, die man nutzen kann. Die sogenannte Rückverlegung der Gleise, die also von der Bahnsteigkante mehr als 100 Meter weggerückt werden, die kann man nutzen, um die alten Gepäckbahnsteige rauszuwerfen und um die runtergekommene Halle abzureißen und eine schöne neue Glashalle über dem künftigen Empfangsbereich zu errichten. Da gibt es sogar schon, wie ich finde, tolle Architekturmodelle. Und dann hätten wir eben einen schönen Kopfbahnhof, wie ihn Leipzig oder Frankfurt haben, modern und saniert, praktisch zum Umsteigen. Und das Ganze könnte viel, viel schneller und zu einem Bruchteil der Kosten von Stuttgart 21 realisiert werden.
Und dann kann man Stück für Stück weitermachen, zusätzliche Gleise in den Bahnhof hineinziehen, zusätzliche Weichen installieren und sich der Frage, wie kommt man schneller über die Schwäbische Alp, widmen. Auch dafür gibt es alternative Planungen, unter anderem die Planungen, die die Bahn bis Anfang der 90er-Jahre selbst verfolgt hat, weil damals ja noch niemand auf die verrückte Idee gekommen war, dass man alles abreißt und quer durchs Tal einen neuen Bahnhof baut.
Deutschlandradio Kultur: Herr Palmer, seit Monaten wird in Stuttgart demonstriert. Und von außen betrachtet stellt sich natürlich auch die Frage: Geht's da tatsächlich nur um ein Bahnhofsprojekt oder geht es vielmehr um eine neue Form von Demokratie, um Politikverdrossenheit, auch um den Versuch, was Herr Mappus ja gesagt hat, die Grünen wollen eigentlich nur versuchen, über diesen Hebel die CDU aus der Regierungsverantwortung rauszukriegen.
Boris Palmer: Also, was den letzten Punkt angeht, empfinde ich das als Kompliment. Da wird ja eine Genialität unterstellt, die auf diesem Planeten kaum jemand haben kann. Ich hab vor zehn Jahren im Landtag schon die Reden gegen Herrn Mappus und gegen Stuttgart 21 gehalten. Und ganz offensichtlich wussten wir damals schon ganz genau, wie im Herbst 2010 kurz vor der Landtagswahl dieser Widerstand entsteht und wie er sich instrumentalisieren lässt, um die CDU von der Macht zu verdrängen. Also, mit Verlaub, das ist einigermaßen absurd.
Was natürlich nicht bedeutet, dass Parteien keinen Wahlkampf machen. Es wäre ja dämlich, wenn die Grünen jetzt sagen würden, wir tun so, als gibt's keine Landtagswahl im Frühjahr. Das behaupte ich nicht, aber unser Widerstand ist so fundiert. Er läuft schon so lange, er ist so intensiv mit Argumenten hinterlegt in allen Debatten, in allen Parlamenten, dass man diesen Vorwurf wirklich nicht aufrecht erhalten kann.
Richtig ist allerdings, dass diese Bewegung so heterogen ist, dass Sie da ganz viele Leute finden. Ich habe auch Flugblätter von Anarchisten und von Kommunisten schon in die Hand gedrückt bekommen. Da finden sich natürlich Leute ein, die auch ganz eigene Ziele verfolgen. Es mag auch welche geben, die eigentlich die Demokratie nicht mehr mittragen und andere Gesellschaftsformen wollen. Dagegen können Sie sich schlecht wehren. Wenn 100.000 Leute durch die Stadt laufen, dann sind auch solche Ansichten vertreten. Sie sind aber so radikal in der Minderheit, dass man insgesamt von einem bürgerlich-demokratisch getragenen Protest sprechen kann. Und dem geht's um den Bahnhof, um den Park, um den Schienenverkehr und ganz stark um mehr Bürgerbeteiligung. Ich finde das legitim.
Deutschlandradio Kultur: Aber Sie sind doch Oberbürgermeister. Das heißt, Sie leiten in Tübingen wahrscheinlich, nehme ich mal an, ein kleines Unternehmen. Wie viel Mitarbeiter werden Sie haben? Bis an die 4.000 vielleicht?
Boris Palmer: Nicht ganz so groß. Es ist eine schlanke Verwaltung – 1.500.
Deutschlandradio Kultur: Aber das reicht ja auch schon so. Da werden Sie wissen, wie man komplexe Prozesse planen kann. Wenn Sie jetzt nun vorstellen, was da abgelaufen ist über 15 Jahre in Stuttgart, da fragen sich manche Leute doch zu recht: Sind solche Großprojekte überhaupt noch zu machen?
Boris Palmer: Die sind natürlich schwierig. Das ist aber nichts Neues. Es sind auch schon andere Großprojekte gescheitert, der Transrapid gleich mehrmals. Man hat auch einen schnellen Brüter für mehrere Milliarden Euro errichten wollen und als Ruine stehen lassen. Und manches Großprojekt ist vielleicht auch einfach falsch angelegt.
Wenn man aber Großprojekte machen will, dann kann man das nicht mehr im Bürokratenstil tun, sondern dann muss man von Anfang an mit der Bevölkerung über die Auswirkungen sprechen. Man darf nicht nur fragen, in welcher Zeit komme ich von Paris nach Bratislava, sondern man sollte auch die Frage stellen: Wie geht es den Leuten, die in Stuttgart durch den Park spazieren wollen? Beides muss man berücksichtigen. Nur dann kann man solche Großprojekte realisieren.
Deutschlandradio Kultur: Wenn ich Sie richtig verstehe, geht's auch um neue Wege der Bürgerbeteiligung. Sie versuchen das in Tübingen, indem Sie beispielsweise sagen, wir müssen 2011 im Etat sparen und die Bürger sollen mal Vorschläge machen, wie man das machen will. Nur, das Komische ist, die Bürger sind nicht so engagiert, wie Sie sich das vielleicht vorstellen.
Boris Palmer: Sie haben recht. Ich rede nicht nur über Bürgerbeteiligung, sondern wir versuchen in Tübingen die auch weiter auszubauen als bisher vom Gesetz gefordert, zum Beispiel in der Bauleitplanung. Wir machen da sehr, sehr viel mehr, machen Arbeitskreise mit den künftigen Nachbarn von Neubaugebieten. Auch da gibt's Streit. Und wenn Sie über Haushaltsfragen reden, dann wird's am schwierigsten. Ich habe jetzt auch mit Interesse gelesen, was bei unserer Befragung der Bürgerschaft über Einsparmöglichkeiten herausgekommen ist. Und da war eine Maßnahme am beliebtesten: die Erhöhung der Hundesteuer. Ich bin mir ziemlich sicher, dass nur die Leute, die keine Hunde haben, diesen Vorschlag so toll fanden. Da gibt es Schwierigkeiten. Und mit denen muss man umgehen. Trotzdem darf man nicht von vornherein unberücksichtigt lassen, was der Bürgerwille ist. Man darf ihn nicht übergehen.
Deutschlandradio Kultur: Nun mag es ja sein, dass Sie in einem kleinteiligen Bereich, wie einer Stadt, einer Kommune, in Nachbarschaften gut damit zurande kommen, aber denken Sie doch mal an Ihre eigene rot-grüne Regierungszeit im Bund zurück. Da sind Sie mit der Agenda 2010 – ich sage es mal – stimmungsmäßig, nicht inhaltlich, aber stimmungsmäßig voll auf die Nase gefallen, so sehr, dass sich die derzeitige Regierung gar nichts mehr traut und dadurch auf die Nase fällt. Noch mal die Frage: Wie muss man solche Projekte künftig angehen, wenn man handeln will, aber nicht die Wahlen haushoch verlieren möchte?
Boris Palmer: Jetzt haben Sie eine ganz andere Art Projekt genannt. Ich bin bisher im Bereich der großen Bauprojekte argumentativ gewesen. Und da glaube ich, es geht wirklich um Transparenz. Es geht um Offenheit, auch um Ehrlichkeit bei den Fakten, bei den Kosten, die Leute nicht immer für dumm verkaufen und sie einbeziehen.
Wenn es jetzt um politische Projekte geht, dann kann man ja nicht sagen, dass die Bundesregierung gerade nichts Unpopuläres tut. Die Gesundheitsreform ist reine Klientelpolitik für wenige. Der Atomausstieg ist nicht gerade als Rückabwicklung von der Bevölkerung eingefordert worden – der Ausstieg aus dem Ausstieg. Und so können Sie durchgehen. Es ist ja nicht so, dass Politik derzeit nichts Unpopuläres, ich sage, nichts Falsches macht. Dass dabei auch direkte Demokratie eine Rolle spielen kann, aber nur eingegrenzt, sieht man in der Schweiz. Manches ist aus unserer Sicht besser im Ergebnis, manches ist schlechter im Ergebnis, aber der entscheidende Unterschied ist das Verfahren, dass eben die Menschen die Möglichkeit bekommen, wirklich mitzubestimmen.
Und ich denke, es ist eine Hybris der Volksvertreter, die sich in ihren eigenen Verfahren oft auch ziemlich verfangen, als Parlamentarier muss man das eingestehen, es ist eine Hybris der Volksvertreter, zu behaupten, das Volk ist zu dumm, seine Angelegenheiten selbst zu regeln.
Deutschlandradio Kultur: Aber Sie müssen das Volk natürlich rechtzeitig mit beteiligen. Und die Frage ist natürlich immer wieder: Wenn die Bagger kommen, sind wir alle aufgeregt. Vorher überlassen wir die Arbeit gern anderen, auch Bürgerinitiativen.
Boris Palmer: Dasselbe gilt für die Medien und die Politik. Wenn das Thema mal groß wird, sind plötzlich alle da und halten die Nase in die Kamera. Zehn Jahre vorher sieht man von denen nicht viel. Und ich hab jahrelang versucht, die Bundesmedien auf Stuttgart 21 und die darin liegenden Probleme aufmerksam zu machen. Das ist mir nie geglückt. Es scheint mir ein Problem, dass Sie in der repräsentativen Demokratie genauso haben, wie wenn Sie Bürgerentscheide zulassen.
Deutschlandradio Kultur: Aber nach wie vor gilt natürlich auch: Demokratie funktioniert über die Parlamente und über die Mehrheiten in den Parlamenten. Jetzt wird im Jahr 2012 ein neuer Oberbürgermeister in Stuttgart gewählt. Das wäre doch eine Chance auch für die Grünen, noch mal zu zeigen, dass sie es anders und besser machen können. Werden Sie denn noch mal antreten?
Boris Palmer: Ihre Aussage, dass nach wie vor die Parlamente bedeutungsvoll sind, unterstreiche ich. Es geht ja nicht um die Abschaffung von Parlamenten und der repräsentativen Demokratie, sondern um die Ergänzung in den Fällen, in denen die Bürger sagen, wir wollen diese Sache selbst regeln.
Was jetzt die Wahl im Jahr 2012 angeht, ich habe verschiedentlich erklärt, dass meine Aufgabe in Tübingen bis 2014 geht, so lang bin ich gewählt, und dass sie mich sehr stark in Anspruch nimmt und dass ich auch Freude dran hab. Deswegen ist für mich eine Kandidatur in Stuttgart wirklich auch kein Gedanke. Na ja, jetzt kommt immer gleich die Frage: Für alle Ewigkeiten? – Hätten Sie vor einem halben Jahr die Frage gestellt an Winfried Kretschmann, sind Sie bereit Ministerpräsident zu werden, hätte er Ihnen auch gesagt, was soll der Blödsinn. Jetzt scheint es plötzlich im Bereich des Möglichen. Wenn Sie mich aber fragen, was ich vor habe, was meine feste Absicht ist, dann ist es die, nicht in Stuttgart 2012 für den OB zu kandidieren.
Deutschlandradio Kultur: Herr Palmer, wir danken für dieses Gespräch.