"Man muss die Wahrheit erzählen"
Die Zeitzeugen Gertrud Seehaus und Peter Finkelgruen gehen in Schulen, um dort mit Kindern über die Nazi-Zeit, Flucht und den Holocaust zu sprechen. Es ginge dabei vor allem um eine kindgerechte Vermittlung, die auch "die Erfahrung von Kindern dazwischen lasse". Sie haben über ihre Erinnerungen das Buch "Opa und Oma hatten kein Fahrrad" geschrieben.
Frank Meyer: Soll man mit Kindern über den Holocaust sprechen? Kann man ihnen das zumuten, von Millionen Toten zu hören, von ermordeten Kindern, von dieser ganzen unfassbaren Brutalität der Nazizeit? Die frühere Grundschullehrerin und heutige Autorin Gertrud Seehaus und ihr Mann, der Journalist Peter Finkelgruen, sie gehen in Grundschulen, und sie sprechen mit den Kindern dort über die Nazizeit, über Flucht und Holocaust. Peter Finkelgruens Familie war vor der Judenverfolgung geflohen, bis nach Schanghai, dort ist Peter Finkelgruen 1942 zur Welt gekommen. Gertrud Seehaus und Peter Finkelgruen sind jetzt für uns im Studio. Sie waren heute gerade in einer Grundschule. Wie fangen Sie dort ein Gespräch an mit Kindern über den Holocaust?
Gertrud Seehaus: Also natürlich erst einmal fragt man, was die Kinder überhaupt wissen. Dann fragt man sie, ob sie mit ihren Eltern oder Großeltern oder Onkeln und Tanten sprechen, wie es war, als die Kinder waren. So kommt man sehr schnell zu diesem Thema, was ja, auch wenn diese Zeit längst hinter uns liegt, was ja ein Thema für jede Familie ist. Also der Holocaust und der Zweite Weltkrieg hat in jede Familie in irgendeiner Form hineingespielt. Und das ist sozusagen der Anfang, genauso wie es so der Anfang zu unserem Buch ist.
Meyer: Was hören Sie da von den Kindern? Inwieweit ist dieses Thema heute präsent in den Familien?
Peter Finkelgruen: Also es ist schon erstaunlich, dass ein grundsätzliches Wissen wirklich vorliegt. Also das waren jetzt Zwölfjährige, die wussten, dass es den Nationalsozialismus gab, die konnten assoziieren, also da bin ich schon sehr beeindruckt – und auch davon, dass sie überhaupt keine Probleme haben, Fragen zu stellen. Es sind ja meistens die Erwachsenen, die Probleme haben zu antworten.
Meyer: Sie spielen auch Szenen nach mit den Kindern, habe ich gelesen. Was für Szenen sind das?
Seehaus: Das sind verhältnismäßig einfache Szenen. Also mein Mann ist ja als Kind in Schanghai gewesen, wo er auch geboren ist, und wir lassen die Kinder spielen, wie es ist, in einem fremden Land zum Beispiel nicht mit Messer und Gabel, plötzlich mit Stäbchen zu essen. Oder wie es ist zu sagen: Ich bin müde und will schlafen. Das geht relativ leicht. Aber wann ein Satz kommt, den man nur mit Händen und Füßen sprechen kann, das sind so Sachen, die wir mit den Kindern spielen.
Meyer: Wenn Sie in eine heutige Schule gehen, werden Sie auch auf Migrantenkinder treffen. Was Sie gerade beschreiben, das sind ja Erfahrungen von Migration, in der Fremde ankommen, auf fremde Verhältnisse treffen …
Finkelgruen: Sehr richtig.
Meyer: Können die Kinder aus Migrantenfamilien damit etwas anfangen?
Seehaus: Das können sie sehr wohl. Wir waren neulich in einer Klasse, wo also die Hälfte der Kinder Eltern aus anderen Ländern hatte, und zwar nicht nur aus europäischen Ländern, sondern sogar aus südamerikanischen Ländern.
Meyer: Treffen Sie auch, wenn Sie auf Kinder aus Migrantenfamilien kommen, die aus dem arabischen Raum zum Beispiel kommen, treffen Sie gelegentlich auch auf antijüdische Vorurteile Ihnen gegenüber?
Finkelgruen: Nein, nein, in dem Alter schon überhaupt nicht.
Meyer: Aber wir haben jetzt gesprochen über Emigrationserfahrungen, Fluchterfahrungen, aber wie weit gehen Sie da? Zu diesem Thema Holocaust gehört ja eben auch der Massenmord an den Juden. Was erzählen Sie davon Kindern gegenüber?
Finkelgruen: Was mir wichtig wäre, vorwegzusagen: Unser Buch "Opa und Oma hatten kein Fahrrad" handelt ja nicht nur von Holocaust, Emigration und Vertreibung, es handelt auch von einer Jugend in Deutschland im Bombenkrieg im Keller. Das heißt, wir präsentieren den Kindern zwei jugendliche Biografien aus der Zeit, die eine in Deutschland und die eine außerhalb. Das war uns eigentlich sehr wichtig, sozusagen diese beiden Parallelitäten gleichzeitig zu zeigen, und dass Krieg und Verfolgung ein Schrecken sozusagen auf allen Seiten ist.
Seehaus: Wir haben eine Szene in dem Buch, wir werden bei einer Party gefragt, was wir denn gerade schreiben. Und wir sagen, was wir schreiben über unsere Kindheiten und das, was darin geschehen ist. Also die Leute wussten über unsere Kindheiten Bescheid und fragten dann, ja, wie kann man Kindern so schreckliche Sachen erzählen. Und dann haben wir gefragt: Was sollen wir sagen, wenn man den kleinen Peter zwischen lauter chinesischen Kindern sieht? Sollen wir sagen: Da haben die Eltern ihn hingeschleppt, damit er endlich mal einen Reis mit Stäbchen isst. Man kann doch nicht so einen Unfug erzählen, man muss die Wahrheit erzählen.
Meyer: Das ist jetzt die Frage, wie man innerhalb einer Familie umgeht mit dem Thema, innerhalb Ihrer Familie. Aber es ist ja tatsächlich eine Streitfrage: Wann spricht man mit Kindern darüber, wie weit geht man da, wo sind die Grenzen? Wir haben im vergangenen Jahr hier in unserem Programm mit dem Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik darüber gesprochen, über die Frage, wie weit man mit Kindern über den Holocaust sprechen kann. Und er hat Folgendes dazu gesagt:
Micha Brumlik: Also ich habe da eine ganz extreme Meinung. Ich glaube, man sollte das Kindern und Jugendlichen nicht, bevor sie zwölf oder vierzehn Jahre alt sind, nahebringen. Es gibt innerhalb der Pädagogik eine sehr breite Diskussion, es gibt sogar Versuche, das schon Grundschulkindern im Alter von fünf und sechs beizubringen. Es gibt entsprechende Bilderbücher. Ich vertrete die entwicklungspsychologische Meinung, dass man das mit zehn, zwölf nicht wirklich begreifen und auch schon überhaupt nicht verarbeiten kann. Ich fand erzählende Literatur, etwa von Judith Kerr "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" und anderes, was kindgemäß ist, angemessen. Ich glaube nicht, dass die Erfahrungen der Vernichtungslager kindgemäß darstellbar sind.
Meyer: Das sagt der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik. Gertrud Seehaus und Peter Finkelgruen, was machen Sie für Erfahrungen? Machen Sie die Erfahrung, dass Kinder, mit denen Sie sprechen, Ihre Erzählungen begreifen und verarbeiten können?
Finkelgruen: Das war eine Frage, die wir uns auch gestellt haben, die Frage, ob es denn überhaupt möglich ist. Und wir sind stufenweise vorgegangen, wir haben erste und zweite Fassungen des Manuskripts gehabt, und wir haben es zuerst den eigenen Kindern vorgelesen, dann sind wir an einige andere Schulen gegangen. Man kann ihnen alles erzählen, es ist die Frage, wie man es tut. Und ich denke, gerade ein Pädagoge müsste wissen, dass es immer die Frage ist, wie man Kindern etwas nahebringt. Nahebringen kann man ihnen alles. Man muss aber vorsichtig, angemessen … Wir haben jetzt festgestellt, dass also wir mit unserem Buch und wir haben insgesamt inzwischen an 20 Grundschulen gelesen, aber auch Realschulen und Gymnasien, Sonderschulen, zwischen sieben und zwölf konnten wir dieses lesen, und es kam zu einem, ja, beinahe Meinungsaustausch mit diesen Jugendlichen.
Meyer: Und was ist das für ein Wie, das Sie gefunden haben? Auf welche Weise erzählen Sie da von Ihren Erfahrungen?
Seehaus: Wir erzählen schlichtweg, einfach was war. Wir erzählen, das eine Kind war da, das andere Kind war da. Man musste von da bis da Fersengeld geben, weglaufen vor den Leuten, die einen bedrohten. Dann ist man da und da hingekommen. Da ist es so gewesen. Und als man zurückkam, gab es viele Menschen, die nicht mehr da waren. Also mein Vater, der ein Deutscher war, der im Krieg geblieben ist, Peters Vater, der im Exil umkam in einer Notsituation, in der man nicht richtig versorgt werden konnte, das sind alles Tatsachen. Und man darf nicht vergessen, Kinder von heute kennen – das zeigten ja gerade die letzten Wochen –, sie kennen Krieg in jeder Form, sie kennen Grausamkeiten. Und ich glaube nicht, dass Kinder von heute immer verschont sind vor einem Blick, den sie vielleicht nicht unbedingt jetzt riskieren sollten. Man kann nicht immer schnell genug den Fernseher ausmachen, wo sie Krieg in schlimmster Form sehen.
Finkelgruen: Heute an der Schule, das war ein wunderbares Beispiel. Als wir nämlich mit dem Stichwort "Krieg" kamen, kam gleich von den Kindern das Stichwort "Gaza". Das heißt, die kriegen das ja mit, die wissen, dass die Welt nicht so ist, wie sie sie sich wünschen vielleicht.
Seehaus: Und sie haben in Gaza ja nicht nur Feuer und Bomben und kaputte Häuser gesehen, vor allen Dingen, sie haben auch viele tote und verletzte Kinder gesehen. Die Kinder wussten das, und sie hatten solche Bilder. Ich teile deswegen auch die Meinung von Herrn Brumlik nicht. Ich finde, wenn die Welt so ist, wie sie ist, dann muss man mit Kindern früh sprechen, und so, dass man ihren Seelen nichts Schlimmes tut. Denn alles, was man sagt, muss man gut portionieren. Und man muss dazwischen immer Atempausen bringen, das tun wir auch, und man muss dazwischen auch andere Erzählungen bringen oder die Erfahrungen von Kindern dazwischen lassen.
Meyer: Die Frage taucht ja auch auf, weil man mancherorts in Deutschland so eine Art schwarze Pädagogik beobachten kann im Umgang mit diesem Thema Nazizeit. Es gab im Herbst in Berlin ein Symposium zum Thema "NS und Holocaust – ein Thema für Kinder?", da wurden dann schockierende Geschichten erzählt von Erziehern, aber auch von Eltern, von einer Mutter zum Beispiel, die ihr Kind in eine KZ-Gedenkstätte mitnehmen wollte, und als ihr eine Gedenkstättenmitarbeiterin gesagt hat, das sei nichts für Kinder, diese Ausstellung, sagt die Mutter, die jüdischen Kinder hätten aber auch keine Wahl gehabt.
Finkelgruen: Das finde ich natürlich sehr fragwürdig. Nein, nein, das war uns sehr wichtig beim Schreiben des Buches, wir haben lange Zeit dafür gebraucht, das – ich sage jetzt mal den Begriff – kindgerecht aufzuarbeiten, das heißt sowohl in der Sprache als auch Auflockerungen im Text, die vorkommen, die gibt es auch, damit, wenn eine kleine Passage kommt, die sagt, es gab Gettos, es gab Tod, es gab Verfolgung, natürlich auch etwas kommen muss, was die Kinder wieder auffängt.
Meyer: "Opa und Oma hatten kein Fahrrad", so heißt das Buch von Gertrud Seehaus und Peter Finkelgruen. Das können Sie beziehen über Books on Demand, für 10 Euro gibt es dieses Buch, und wir haben hier im Deutschlandradio Kultur über die Frage geredet, soll man mit Kindern über den Holocaust sprechen. Ich danke Ihnen beiden sehr für das Gespräch!
Finkelgruen: Wir danken Ihnen!
Seehaus: Wir danken!
Gertrud Seehaus: Also natürlich erst einmal fragt man, was die Kinder überhaupt wissen. Dann fragt man sie, ob sie mit ihren Eltern oder Großeltern oder Onkeln und Tanten sprechen, wie es war, als die Kinder waren. So kommt man sehr schnell zu diesem Thema, was ja, auch wenn diese Zeit längst hinter uns liegt, was ja ein Thema für jede Familie ist. Also der Holocaust und der Zweite Weltkrieg hat in jede Familie in irgendeiner Form hineingespielt. Und das ist sozusagen der Anfang, genauso wie es so der Anfang zu unserem Buch ist.
Meyer: Was hören Sie da von den Kindern? Inwieweit ist dieses Thema heute präsent in den Familien?
Peter Finkelgruen: Also es ist schon erstaunlich, dass ein grundsätzliches Wissen wirklich vorliegt. Also das waren jetzt Zwölfjährige, die wussten, dass es den Nationalsozialismus gab, die konnten assoziieren, also da bin ich schon sehr beeindruckt – und auch davon, dass sie überhaupt keine Probleme haben, Fragen zu stellen. Es sind ja meistens die Erwachsenen, die Probleme haben zu antworten.
Meyer: Sie spielen auch Szenen nach mit den Kindern, habe ich gelesen. Was für Szenen sind das?
Seehaus: Das sind verhältnismäßig einfache Szenen. Also mein Mann ist ja als Kind in Schanghai gewesen, wo er auch geboren ist, und wir lassen die Kinder spielen, wie es ist, in einem fremden Land zum Beispiel nicht mit Messer und Gabel, plötzlich mit Stäbchen zu essen. Oder wie es ist zu sagen: Ich bin müde und will schlafen. Das geht relativ leicht. Aber wann ein Satz kommt, den man nur mit Händen und Füßen sprechen kann, das sind so Sachen, die wir mit den Kindern spielen.
Meyer: Wenn Sie in eine heutige Schule gehen, werden Sie auch auf Migrantenkinder treffen. Was Sie gerade beschreiben, das sind ja Erfahrungen von Migration, in der Fremde ankommen, auf fremde Verhältnisse treffen …
Finkelgruen: Sehr richtig.
Meyer: Können die Kinder aus Migrantenfamilien damit etwas anfangen?
Seehaus: Das können sie sehr wohl. Wir waren neulich in einer Klasse, wo also die Hälfte der Kinder Eltern aus anderen Ländern hatte, und zwar nicht nur aus europäischen Ländern, sondern sogar aus südamerikanischen Ländern.
Meyer: Treffen Sie auch, wenn Sie auf Kinder aus Migrantenfamilien kommen, die aus dem arabischen Raum zum Beispiel kommen, treffen Sie gelegentlich auch auf antijüdische Vorurteile Ihnen gegenüber?
Finkelgruen: Nein, nein, in dem Alter schon überhaupt nicht.
Meyer: Aber wir haben jetzt gesprochen über Emigrationserfahrungen, Fluchterfahrungen, aber wie weit gehen Sie da? Zu diesem Thema Holocaust gehört ja eben auch der Massenmord an den Juden. Was erzählen Sie davon Kindern gegenüber?
Finkelgruen: Was mir wichtig wäre, vorwegzusagen: Unser Buch "Opa und Oma hatten kein Fahrrad" handelt ja nicht nur von Holocaust, Emigration und Vertreibung, es handelt auch von einer Jugend in Deutschland im Bombenkrieg im Keller. Das heißt, wir präsentieren den Kindern zwei jugendliche Biografien aus der Zeit, die eine in Deutschland und die eine außerhalb. Das war uns eigentlich sehr wichtig, sozusagen diese beiden Parallelitäten gleichzeitig zu zeigen, und dass Krieg und Verfolgung ein Schrecken sozusagen auf allen Seiten ist.
Seehaus: Wir haben eine Szene in dem Buch, wir werden bei einer Party gefragt, was wir denn gerade schreiben. Und wir sagen, was wir schreiben über unsere Kindheiten und das, was darin geschehen ist. Also die Leute wussten über unsere Kindheiten Bescheid und fragten dann, ja, wie kann man Kindern so schreckliche Sachen erzählen. Und dann haben wir gefragt: Was sollen wir sagen, wenn man den kleinen Peter zwischen lauter chinesischen Kindern sieht? Sollen wir sagen: Da haben die Eltern ihn hingeschleppt, damit er endlich mal einen Reis mit Stäbchen isst. Man kann doch nicht so einen Unfug erzählen, man muss die Wahrheit erzählen.
Meyer: Das ist jetzt die Frage, wie man innerhalb einer Familie umgeht mit dem Thema, innerhalb Ihrer Familie. Aber es ist ja tatsächlich eine Streitfrage: Wann spricht man mit Kindern darüber, wie weit geht man da, wo sind die Grenzen? Wir haben im vergangenen Jahr hier in unserem Programm mit dem Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik darüber gesprochen, über die Frage, wie weit man mit Kindern über den Holocaust sprechen kann. Und er hat Folgendes dazu gesagt:
Micha Brumlik: Also ich habe da eine ganz extreme Meinung. Ich glaube, man sollte das Kindern und Jugendlichen nicht, bevor sie zwölf oder vierzehn Jahre alt sind, nahebringen. Es gibt innerhalb der Pädagogik eine sehr breite Diskussion, es gibt sogar Versuche, das schon Grundschulkindern im Alter von fünf und sechs beizubringen. Es gibt entsprechende Bilderbücher. Ich vertrete die entwicklungspsychologische Meinung, dass man das mit zehn, zwölf nicht wirklich begreifen und auch schon überhaupt nicht verarbeiten kann. Ich fand erzählende Literatur, etwa von Judith Kerr "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" und anderes, was kindgemäß ist, angemessen. Ich glaube nicht, dass die Erfahrungen der Vernichtungslager kindgemäß darstellbar sind.
Meyer: Das sagt der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik. Gertrud Seehaus und Peter Finkelgruen, was machen Sie für Erfahrungen? Machen Sie die Erfahrung, dass Kinder, mit denen Sie sprechen, Ihre Erzählungen begreifen und verarbeiten können?
Finkelgruen: Das war eine Frage, die wir uns auch gestellt haben, die Frage, ob es denn überhaupt möglich ist. Und wir sind stufenweise vorgegangen, wir haben erste und zweite Fassungen des Manuskripts gehabt, und wir haben es zuerst den eigenen Kindern vorgelesen, dann sind wir an einige andere Schulen gegangen. Man kann ihnen alles erzählen, es ist die Frage, wie man es tut. Und ich denke, gerade ein Pädagoge müsste wissen, dass es immer die Frage ist, wie man Kindern etwas nahebringt. Nahebringen kann man ihnen alles. Man muss aber vorsichtig, angemessen … Wir haben jetzt festgestellt, dass also wir mit unserem Buch und wir haben insgesamt inzwischen an 20 Grundschulen gelesen, aber auch Realschulen und Gymnasien, Sonderschulen, zwischen sieben und zwölf konnten wir dieses lesen, und es kam zu einem, ja, beinahe Meinungsaustausch mit diesen Jugendlichen.
Meyer: Und was ist das für ein Wie, das Sie gefunden haben? Auf welche Weise erzählen Sie da von Ihren Erfahrungen?
Seehaus: Wir erzählen schlichtweg, einfach was war. Wir erzählen, das eine Kind war da, das andere Kind war da. Man musste von da bis da Fersengeld geben, weglaufen vor den Leuten, die einen bedrohten. Dann ist man da und da hingekommen. Da ist es so gewesen. Und als man zurückkam, gab es viele Menschen, die nicht mehr da waren. Also mein Vater, der ein Deutscher war, der im Krieg geblieben ist, Peters Vater, der im Exil umkam in einer Notsituation, in der man nicht richtig versorgt werden konnte, das sind alles Tatsachen. Und man darf nicht vergessen, Kinder von heute kennen – das zeigten ja gerade die letzten Wochen –, sie kennen Krieg in jeder Form, sie kennen Grausamkeiten. Und ich glaube nicht, dass Kinder von heute immer verschont sind vor einem Blick, den sie vielleicht nicht unbedingt jetzt riskieren sollten. Man kann nicht immer schnell genug den Fernseher ausmachen, wo sie Krieg in schlimmster Form sehen.
Finkelgruen: Heute an der Schule, das war ein wunderbares Beispiel. Als wir nämlich mit dem Stichwort "Krieg" kamen, kam gleich von den Kindern das Stichwort "Gaza". Das heißt, die kriegen das ja mit, die wissen, dass die Welt nicht so ist, wie sie sie sich wünschen vielleicht.
Seehaus: Und sie haben in Gaza ja nicht nur Feuer und Bomben und kaputte Häuser gesehen, vor allen Dingen, sie haben auch viele tote und verletzte Kinder gesehen. Die Kinder wussten das, und sie hatten solche Bilder. Ich teile deswegen auch die Meinung von Herrn Brumlik nicht. Ich finde, wenn die Welt so ist, wie sie ist, dann muss man mit Kindern früh sprechen, und so, dass man ihren Seelen nichts Schlimmes tut. Denn alles, was man sagt, muss man gut portionieren. Und man muss dazwischen immer Atempausen bringen, das tun wir auch, und man muss dazwischen auch andere Erzählungen bringen oder die Erfahrungen von Kindern dazwischen lassen.
Meyer: Die Frage taucht ja auch auf, weil man mancherorts in Deutschland so eine Art schwarze Pädagogik beobachten kann im Umgang mit diesem Thema Nazizeit. Es gab im Herbst in Berlin ein Symposium zum Thema "NS und Holocaust – ein Thema für Kinder?", da wurden dann schockierende Geschichten erzählt von Erziehern, aber auch von Eltern, von einer Mutter zum Beispiel, die ihr Kind in eine KZ-Gedenkstätte mitnehmen wollte, und als ihr eine Gedenkstättenmitarbeiterin gesagt hat, das sei nichts für Kinder, diese Ausstellung, sagt die Mutter, die jüdischen Kinder hätten aber auch keine Wahl gehabt.
Finkelgruen: Das finde ich natürlich sehr fragwürdig. Nein, nein, das war uns sehr wichtig beim Schreiben des Buches, wir haben lange Zeit dafür gebraucht, das – ich sage jetzt mal den Begriff – kindgerecht aufzuarbeiten, das heißt sowohl in der Sprache als auch Auflockerungen im Text, die vorkommen, die gibt es auch, damit, wenn eine kleine Passage kommt, die sagt, es gab Gettos, es gab Tod, es gab Verfolgung, natürlich auch etwas kommen muss, was die Kinder wieder auffängt.
Meyer: "Opa und Oma hatten kein Fahrrad", so heißt das Buch von Gertrud Seehaus und Peter Finkelgruen. Das können Sie beziehen über Books on Demand, für 10 Euro gibt es dieses Buch, und wir haben hier im Deutschlandradio Kultur über die Frage geredet, soll man mit Kindern über den Holocaust sprechen. Ich danke Ihnen beiden sehr für das Gespräch!
Finkelgruen: Wir danken Ihnen!
Seehaus: Wir danken!