"Man muss eben in die Köpfe der eigenen Jugend investieren"

Stefan Rinke im Gespräch mit Dieter Kassel · 26.08.2011
In Chile gehen Hunderttausende auf die Straße. Sie demonstrieren für ein kostensloses Bildungssystem und fordern mehr soziale Gerechtigkeit. Das Land, das mit seinen hohen Wachstumsraten beeindruckt, werde zwar immer reicher, sagt der Wissenschaftler Stefan Rinke. Dieser Reichtum sei jedoch sehr ungleich verteilt.
Dieter Kassel: Chile hat ungefähr 17 Millionen Einwohner, seit über 20 Jahren wieder demokratisch gewählte Regierungen und ein vergleichsweise sehr solides Wirtschaftswachstum. Aber es gibt auch Schattenseiten: So hat eine Studie der OECD ergeben, dass Studieren nirgendwo auf der ganzen Welt so teuer ist wie in Chile. Und damit fing denn auch alles an: Studenten, Lehrer und Schüler waren es, die vor rund drei Monaten mit ihren Protesten für ein gerechteres Bildungssystem begangen, für ein Bildungssystem, das für alle zugänglich und möglichst kostenlos sein soll.

Mehrere 100.000 Menschen gingen da an einigen Tagen auf die Straße, und es kam erwartungsgemäß natürlich auch zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Für gestern und vorgestern hatte dann die größte chilenische Gewerkschaft zu einem Generalstreik aufgerufen. Die Wurzeln der sozialen Ungerechtigkeiten im Land, die die Menschen jetzt auf die Straße bringen, diese Wurzeln liegen für viele in der chilenischen Geschichte. Und deshalb begrüße ich jetzt am Telefon Professor Stefan Rinke, er ist Historiker am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin. Schönen guten Tag, Herr Rinke!

Stefan Rinke: Hallo!

Kassel: Diese Generalstreiks, zu denen Gewerkschaften und Regierung aufgerufen hatten, wie erfolgreich die waren, das ist ein bisschen schwer zu beurteilen, weil Regierung und Gewerkschaften ganz unterschiedliche Zahlen nennen, was die Teilnehmer angeht. Aber davon mal ganz abgesehen, kann man davon ausgehen, dass diese Proteste inzwischen um längst sehr viel mehr gehen als nur um ein neues Bildungssystem?

Rinke: Ja, das denke ich schon. Es sind ja die ersten Proteste dieser Art seit dem Ende der Militärdiktatur. Von daher haben sie natürlich einen hohen symbolischen Charakter, denn zur Zeit der Militärdiktatur waren solche Generalstreiks … hatten ja dieses Ziel, das Ende der Militärdiktatur herbeizuführen. Das war natürlich noch ein viel höher gestecktes Ziel, und die Menschen damals haben viel riskiert, um solche Demonstrationen in Gang zu setzen. Heute sind die Voraussetzungen anders, aber die Ziele sind für die Beteiligten scheinbar ähnlich hoch gesteckt oder werden ähnlich hoch bewertet, sodass man das als einen sehr wichtigen Moment in der chilenischen Geschichte einschätzen kann.

Kassel: Woran liegt es denn, dass die sozialen Ungerechtigkeiten offenbar so groß sind? Ich habe es ja am Anfang schon erwähnt, die wirtschaftliche Lage in Chile ist ja so schlecht nicht.

Rinke: In der Tat, die ist nicht nur so schlecht nicht, sondern Chile kann Wachstumsraten vorweisen, über die wir hier in Europa doch recht neidisch sein würden. Ich denke, die Lage lässt sich vor allem daraus erklären, dass dieses Wirtschaftswachstum weiten Teilen der chilenischen Gesellschaft nicht zugutegekommen ist.

Das Wirtschaftswachstum ist ja, wenn man so will, auch ein Erbstück der Militärdiktatur, die damals in den 70er-, 80er-Jahren das Wirtschaftssystem auf eine neoliberale Logik hin umgestellt hat, und seitdem haben sich von Krisen abgesehen, die makroökonomischen Werte in Chile gut entwickelt. Aber wenn man genauer hinschaut und sich das Leben der Menschen vor Ort, vor allem der großen Zahl der Armen und dann eben auch zunehmend der Mittelschichten anschaut, dann stellt man fest, dass da erhebliche Defizite nach wie vor bestehen, und dass sich diese Defizite zum Teil im Laufe der Zeit vergrößert haben. Das heißt, wir haben es hier mit dem Paradox zu tun: Das Land wird von außen gesehen und von den Statistiken her gesehen eigentlich immer reicher, aber dieser Reichtum wird sehr ungleich verteilt.

Kassel: Dann gehen wir doch zurück in die Zeit der Diktatur, 1973 bis Ende der 80er-Jahre. Wie extrem war denn die wirtschaftliche Entwicklung hin zu diesem neoliberalen Vorzeigeland in dieser Zeit?

Rinke: Auch da wird man natürlich wieder die Details anschauen müssen, aber wenn wir mal grosso modo sprechen, dann lässt sich sagen, dass die Militärs nach einem zunächst also einmal heftigen wirtschaftlichen Einbruch in den 70er-Jahren dann Experten, die sich in den Vereinigten Staaten ausgebildet hatten, ausgebildet wurden, das wirtschaftliche Heft in die Hand gaben. Und die haben dann unter Anleitung des bekannten Wirtschaftswissenschaftlers Friedman oder dessen Lehren folgend praktisch das Wirtschaftssystem, das chilenische, weitgehend umgebaut, die Staatsbeteiligung zurückgefahren – eigentlich genau das Gegenteil dessen versucht, was zuvor die Volkseinheit, die Unidad Popular, unter Salvador Allende versucht hatte, nämlich dort ging es ja darum, einen friedlichen Weg zum Sozialismus zu finden, mit Verstaatlichung, und so weiter.

All dies sollte nun umgekehrt werden, man wollte dem freien Spiel der Kräfte Raum geben und damit ein Wirtschaftswachstum erzielen. Das ging einige Jahre auch ganz gut, dann kam es zu Beginn der 80er-Jahre wiederum zu großen Krisenerscheinungen, denen man wiederum begegnete mit erneuten Privatisierungsmaßnahmen, sodass letztendlich durch den Verkauf von nationalem Tafelsilber, wenn man so will, hier die Wirtschaft gerettet wurde, und dieses Vertrauen in die Privatwirtschaft ist dann auch von den neuen demokratischen Regierungen mit übernommen worden.

Mittlerweile hat es wieder einen Regierungswechsel gegeben vor Kurzem, zurück zu den konservativen Kräften. Und seit diese an der Macht sind, hat sich der Widerstand gegen die neoliberale Politik sehr stark verstärkt, das sehen wir jetzt eben vor allem an den Demonstrationen.

Kassel: Was mir bei dieser Entwicklung nicht recht einleuchtet, ist, warum die doch eher bürgerlich-mitte-gerichteten Regierungen in den 90er-Jahren und auch bisweilen ja noch in den Nuller-Jahren, warum die nicht wirklich versucht haben, diese neoliberale Entwicklung der Pinochet-Zeit wieder komplett zurückzudrehen, nicht zuletzt weil sie eben auch mit der verhassten Diktatur doch verknüpft war?

Rinke: Ja, das ist in der Tat eine Frage, die man sich stellt. Man muss sich viele Faktoren vor Augen führen: Zum Einen waren diese Mitte-Links-Regierungen der 90er-Jahre und des Beginns des 21. Jahrhunderts nicht so ganz frei in ihren Entscheidungen. Sie haben ein kräftiges Erbe der Diktatur mit übernommen, mit übernehmen müssen, denn es handelte sich im chilenischen Fall um eine paktierte Transition zurück zur Demokratie.

Das heißt, dieser Weg zurück in die Demokratie war kein revolutionärer Bruch mit großem Blutvergießen, sondern man hatte das ausgehandelt mit den Militärs, und die Militärs hatten über Jahre, ja, Jahrzehnte eigentlich noch einen großen Einfluss auf die chilenische Politik. Auch im wirtschaftlichen Bereich gab es verschiedene feste Verankerungen, die während der Endphase der Militärdiktatur noch angelegt wurden, um zu verhindern, dass die Politiker sozusagen wiederum den Kurs zurücksteuern würden und versuchen würden, wie der einen linken oder sogar linksradikalen Kurs einzuschlagen, wie ihn Allende seinerzeit verfolgt hatte.

Kassel: Wir reden heute im Deutschlandradio Kultur über die Hintergründe der sozialen Proteste in Chile mit Stefan Rinke. Er ist Historiker am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin. Herr Rinke, was erwarten Sie denn nun für die Zukunft? Seit drei Monaten gibt es nun diese Proteste der Studenten, Lehrer und Universitätsprofessoren. Inzwischen fordern aber jetzt zum Beispiel die Gewerkschaften schon viel mehr als nur Veränderungen im Bildungssystem. Die Regierung hat inzwischen, was das Bildungssystem angeht, ja gewisse Angebote gemacht, damit sind die Leute auf der Straße aber nicht zufrieden. Wie wird das jetzt weitergehen?

Rinke: Ja, das zu beantworten, fällt mir schwer, ich kann nur sagen, die drei Monate, die sie jetzt gerade nannten, sind als Dauer für diese Proteste gar nicht so ganz zutreffend, weil wir sagen, die gehen noch viel länger zurück, sie ziehen sich jetzt schon über Jahre hin, immer mal wieder mit Eruptionen, dann gingen sie wieder zurück – auch dank des Verhandlungsgeschicks der alten Regierungen.

Der neuen Regierung fällt das sichtlich schwerer, auch deswegen, weil sie es zunächst nicht für nötig befunden hat, hier größere Gesprächsangebote zu machen, und dann kommt natürlich auch hinzu, das auch in Chile gerade die Jugend, die diese Bewegung trägt, doch eindeutig auch von einer neuen Stimmung profitiert, die sich weltweit bemerkbar macht, wo gerade junge Leute nicht mehr bereit sind, sich von den neoliberalen Wirtschaftsdogmen beeinflussen und abhängen zu lassen. Und da sind sie nicht mehr bereit, das hinzunehmen.

Von daher würde ich sagen, ich sehe mit großem Interesse der Zukunft entgegen, und ich stelle fest, dass hier bestimmte Strukturen, die man in der chilenischen Geschichte auch erkennen kann – eben die Möglichkeiten sozialen Protestes, auch sozialer Mobilisierung –, hier wieder greifen, die man in den letzten Jahrzehnten oder in den ersten nachdiktaturialen Jahrzehnten schon totgemeint hatte – sie sind jetzt wieder da, und es zeigt sich, wie kräftig sie auch wieder zum Vorschein kommen, und eine neue Regierung im Mark erschüttern.

Kassel: Nun gibt es in vielen europäischen Ländern, überhaupt Ländern der Welt ja das Problem: Es ist nicht nur die Politik, die blockt, das Geld, das man zum Teil bräuchte, ist einfach nicht da. Zum Schluss, wie ist das in Chile? Eine konkrete Forderung der Protestierenden auf den Straßen war: Kostenlose Bildung für alle, auch im Hochschulbereich, also einfach Studium darf nichts kosten. Wäre das denn finanzierbar, diesen ganzen Forderungen nachzugeben?

Rinke: Ja, sicherlich nicht alles auf einmal, aber man muss sich natürlich vor Augen führen, dass Chile einen enormen Boom erlebt hat in den letzten Jahren, und zwar vor allem eben durch die stark gestiegene Nachfrage nach ihrem Hauptexportrohstoff, nämlich dem Kupfer, der vor allem auf den asiatischen Märkten enorm nachgefragt wird – das heißt, da ist sehr, sehr viel Geld ins Land gespült worden. Und zum Teil ist ja damit auch das Programm finanziert worden, um die extreme Armut abzumildern. Das sind sicherlich Schritte in die richtige Richtung.

Aber man muss noch weitergehen, denn eins ist wichtig, und ich glaube, da hat man in der chilenischen Politik noch nicht weit genug gedacht: Wenn man das Bildungssystem nicht weiter befördert, dann wird man irgendwann, wenn das letzte Kupfer abgebaut ist, vor einem doch sehr problematischen Bild stehen, nämlich, dass dann keine Ressourcen mehr da sind, keine Alternativen mehr da sind, um neues Wachstum zu erwirtschaften. Da muss man eben in die Köpfe der eigenen Jugend investieren.

Kassel: Hintergründe zu den Protesten in Chile von Stefan Rinke. Er ist Historiker am Lateinamerika-Institut der Freien Universität in Berlin. Professor Rinke, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!

Rinke: Keine Ursache!


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