"Man muss sich gut überlegen, ob man da hinfahren will"

Moderation: Tom Grote |
Für den Gewinner des diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs, den Berliner Schriftsteller Lutz Seiler, war das Lesen ursprünglich "eine Art Überlebensstrategie". Zur Literatur sei er erst während seiner Armeezeit gekommen, erzählte Seiler. "Und dann war das Lesen so etwas Überraschendes, dass das Schreiben auch gleich mit dabei war", ergänzte er.
Tom Grote: "Das ist eine Kulturabtreibung." So ätzte noch vor ein paar Jahren der Dichter Peter Handke über den Ingeborg-Bachmann-Preis und das damit verbundene Live-Vorlesen der nominierten Autoren vor der Jury. Wie man dieses Vorlesen auch finden mag, ist egal. Fakt ist aber, der Bachmann-Preis ist einer der wichtigsten Auszeichnungen für deutschsprachige Literatur. Gestern wurde er zum 31. Mal vergeben, und zwar an Lutz Seiler, und der ist in unserem Studio in Klagenfurt. Guten Tag, Herr Seiler, und herzlichen Glückwunsch erst mal.
Lutz Seiler: Ja, hallo, danke schön.
Grote: Die Entscheidung der Jury ist öffentlich. Jeder schlägt seinen Favoriten vor und begründet dann, warum der jetzt den Preis bekommen soll. Anschließend wird abgestimmt. Was ist Ihnen da im Kopf rumgegangen, als langsam klar wurde, ich gewinne da?
Seiler: Es war spannend. Man hat angefangen, die Stimmen zu zählen. Man braucht ja diese Mehrheit. Und als es dann klar war, habe ich mich gefreut.
Grote: Haben Sie schon nach dem Vorlesen gedacht, den Preis hab ich im Sack?
Seiler: Nee, natürlich nicht. Und das habe ich auch später nicht gedacht. Auch nach der Diskussion, nach der Kritik nicht, die erfreulich war, über die ich mich gefreut habe, habe ich das nicht gedacht. Weil ja eine dieser Klagenfurt-Legenden ist, dass die Diskussion nicht unbedingt die spätere Preisvergabe widerspiegelt. Man muss da also bis zuletzt vorsichtig sein. Und das war ich auch, also ich war gewappnet.
Grote: Bleiben wir bei der Diskussion. Ein erotischer Text, der sich auch nach den Kriterien einer Schwulenästhetik lesen lasse, ein Märchen aus uralter Zeit, oder auch der Text weckt so ein bisschen die hermeneutische Geilheit unter anderem. Das haben die Kritiker in Klagenfurt an Ihrem Text gelobt. Als Sie das so gehört haben, haben Sie sich da verstanden gefühlt oder eher gedacht, mein Gott, was reden die da bloß?
Seiler: Nein, ich war überrascht, wie viele Momente dann in dieser doch Kurzkritik gekommen sind, von denen ich selber dachte, dass sie für den Text wichtig sind und von denen ich selber geglaubt habe, dass ich sie im Text angelegt habe. Insofern habe ich mich darüber gefreut.
Grote: Da liest man jetzt also als Autor live im Fernsehen, vor dem Publikum im Saal und vor der Jury, die einen hinterher im schlimmsten Fall auseinander nimmt. Klingt nicht nach einer Situation, auf die man sich freut, oder?
Seiler: Nee, das ist ganz und gar richtig, was Sie sagen. Man muss sich gut überlegen, ob man da hinfahren will, ob man sich dem aussetzen will, ob man dieses Risiko für die eigene Person noch eingehen möchte. Und ich habe lange überlegt und mich dann dazu entschlossen. Und wenn man sich dazu entschließt, muss einem vollkommen klar sein, wie gefährlich das für einen selber sein kann als Autor.
Grote: Warum haben Sie sich entschieden hinzufahren?
Seiler: Weil ich irgendwann der Meinung war, dass der Text so wasserdicht ist, dass ich mich dann auch dahinter hätte zurückziehen können, und gedacht habe, okay, wenn sie ihn nicht mögen, dann ist es ihre Sache. Aber ich selbst war mit diesem Text einverstanden. Also mit einem leisen Zweifel am eigenen Text wäre ich niemals nach Klagenfurt gefahren.
Grote: Was war denn das Schlimmste für Sie bei den vergangenen Tagen der deutschen Literatur in Klagenfurt?
Seiler: Das Schlimmste?
Grote: Ja.
Seiler: Das Schlimmste war mein Hotelzimmer, das war unheimlich laut. Ich habe ein Zimmer zu einer Straße, die an irgendeiner Durchgangsstraße sein muss, wo außerdem dauernd ein- und ausgeparkt wird. Und ich glaube, ich habe ganz wenig geschlafen in den letzten Tagen. Und Zimmertauschen war auch nicht möglich. Also insofern war das, das war vielleicht das Schlimmste. Ansonsten fand ich Klagenfurt wunderschön. Ich finde den Wörthersee wunderbar. Und wir wollen uns jetzt noch eine Woche Zeit nehmen, Kärnten und Slowenien zu besichtigen.
Grote: Dafür, dass Sie so unausgeschlafen waren, haben Sie sich aber prima geschlagen.
Seiler: Ja, man reißt sich da halt zusammen.
Grote: Wie ist das, haben Sie denn den anderen Schriftstellern bei deren Lesungen hinter der Bühne oder vorher zugehört, oder waren Sie auch viel zu nervös?
Seiler: Nee, ich habe alle Lesungen gehört. Aber ich war im Hotel auf meinem Bett und habe Kaffee getrunken und Wasser getrunken und war natürlich interessiert, was die anderen machen. Ich glaube, ich habe alle gesehen und auch fast alle Diskussionen gehört.
Grote: Und dann auch gleich bewertet?
Seiler: Man macht sich halt seine Gedanken, aber ich habe kein persönliches Ranking gehabt oder so was.
Grote: Herr Seiler, Ulrich Plenzdorf, Sten Nadolny, Birgit Vanderbeke oder auch Teréza Mora, um nur ein paar zu nennen, sind Bachmann-Preisträger. Jetzt gehöre ich auch in diese Liga, ist das so ein Satz, der Ihnen schon im Kopf rumgegangen ist?
Seiler: Nee, über so was habe ich nicht nachgedacht. Ich kenne im Übrigen diese Reihe der Preisträger überhaupt nicht. Ich habe einige Preisträger in den letzten Jahren gesehen beziehungsweise kenne sie auch persönlich. Ich habe den Text von Uwe Tellkamp gelesen, den ich großartig finde, aber ich habe nicht über Ligen, über Champions-League oder so was nachgedacht.
Grote: "Turksib", so heißt Ihr Text, und darin geht’s um die Reise eines deutschen Schriftstellers mit der Eisenbahn und einem Geigerzähler in die kasachische Ebene. Haben Sie das selber erlebt, oder wie sind Sie drauf gekommen auf diesen Text?
Seiler: Ja, ich bin in der Tat auf dieser Strecke gefahren. Ich war in Kasachstan, das war im Jahr 2001, im Dezember, als man sich gut überlegen musste, ob man diese Reise überhaupt macht, weil gerade die Anschläge in New York passiert waren kurz zuvor und die Kasachen gerade sich bereiterklärt hatten, quasi als Aufmarschgebiet für die Amerikaner mitzutun.

Die amerikanischen Flugzeuge sind vom kasachischen Territorium aus … hätten von dort starten können bei einer Invasion in Afghanistan oder Ähnliches. Es war ja damals geplant oder im Schwange. Also man war ein bisschen angespannt. Ich habe mich dann doch entschlossen, die Reise zu machen, und es war eine faszinierende Reise, in jeder Beziehung voller starker Eindrücke, die dann aber immer ein paar Jahre ruhten. Und irgendwann hatte ich Lust dazu, zu schreiben.
Grote: Also es war Ihnen noch nicht bei der Reise klar, Mensch, das ist eine prima Idee für einen Text?
Seiler: Nein, überhaupt nicht, überhaupt nicht. Also was ich gemacht habe, ist das, was ich immer mache, dass ich das Notizbuch dabei habe und mir Sachen aufschreibe. Aber es gab noch keinen Plan.
Grote: Zuerst haben Sie ja Lyrik veröffentlicht und viel später dann Prosa. Wie und warum kam es zu diesem Wechsel?
Seiler: Ja, eigentlich ist das kein Wechsel. Für mich sind diese beiden Textsorten unabhängig voneinander wichtig. Ich habe nach jedem Lyrikband große Lust gehabt, Prosa zu schreiben, habe im Übrigen auch mit Prosa angefangen, bin dann immer wieder …

Die Lyrik hat mich immer wieder eingefangen. Weil das Gedicht hat eine Faszination, die, glaube ich, auch durch die Prosa nicht abgelöst werden kann, die Prosa aber andererseits macht es möglich, Dinge zu beschreiben, in den Text zu holen, die ich mit der Lyrik in den Gedichten nicht kriege.
Grote: Von Ihrer Geschichte würde man nicht sagen, dass da Lyrik sehr, sehr nahe liegt. Sie haben zuerst Baufacharbeiter gelernt und sind dann zur Literatur gekommen. Wie kam das?
Seiler: Ja, wie kam das? Autobiografisch gab es keine Disposition hin zur Kunst oder zur Literatur. Zu Hause gab es keine Bücher, es gab Meyers Lexikon, neun Bände plus Ergänzungsband, das war auch schon interessante Literatur. Aber zur Literatur bin ich in der Tat erst viel später gekommen während meiner Armeezeit, die so ein geschlossener Raum war, in dem dann das Lesen eine Art Überlebensstrategie vielleicht war.

Alle anderen auf meinem Zimmer haben mit Holzsägearbeiten, haben Schnittbögen gesägt und gefeilt und gemacht. Und das konnte ich nicht so gut. Bei mir sind die Sägeblätter immer zerbrochen. Und dann dachte ich, okay, jetzt musst du was anderes machen, und habe angefangen zu lesen, völlig ohne Auswahlkriterium und auch alles Mögliche querbeet. Und dann war das Lesen so etwas Überraschendes, ein großes Ereignis, dass das Schreiben auch gleich mit dabei war.
Grote: Das heißt, Sie haben sofort angefangen mit dem Schreiben, als Sie gelesen haben?
Seiler: Ja.
Grote: Und was war das Erste, was Sie geschrieben haben?
Seiler: Ja, das waren Gedichte. Es gab schon so eine … vielleicht ist das auch eher eine Art Tagebuchprosa gewesen, die ich vorher geschrieben habe. Aber das war sehr sparsam, das waren nur sehr wenige Texte. Und die Kontinuität mit dem Schreiben, die begann dann tatsächlich mit dem Lesen. Ich habe praktisch vor dem Lesen schon ein bisschen angefangen zu schreiben. Das war vielleicht gar nicht schlecht, wenn man durch die Lektüre nicht zu sehr behindert wird im Anfang. Das gibt es ja auch.
Grote: Ihr Vater war in Thüringen im Uran-Abbau tätig und wurde dabei verstrahlt, steht jedenfalls auf der Internetseite des ORF. Jetzt eine Reise in Ihrem Text in verstrahlte Gebiete. Der Text also eher eine persönliche Geschichte und kein Reisebericht?
Seiler: Es ist ein persönlicher Reisebericht.
Grote: Der Text, den Sie gelesen haben in Klagenfurt, der war ein Auszug aus einem viel längeren Text. Wann und wo gibt es das komplette Werk zu lesen?
Seiler: Ja, also es ist ein größeres Projekt, das ist in Arbeit, und dafür gibt es auch noch keinen Termin. Es ist jetzt erst mal geplant, einen Band mit Erzählungen zu machen im nächsten Jahr, und dann soll sich der Roman anschließen.
Grote: Sie sind der literarische Leiter des Peter-Huchel-Hauses. Machen Sie das weiter oder kündigen Sie jetzt und werden hauptberuflich Schriftsteller?
Seiler: Nee, ich kündige natürlich auf keinen Fall.
Grote: Warum nicht?
Seiler: Ich fühle mich schon als hauptberuflicher Schriftsteller, es ist es ja nicht so. Ich kümmere mich dort um die Veranstaltungen und kümmere mich auch um das Haus, aber ich bin kein Beamter oder ich habe keine Stelle da, ich bin also freiberuflicher Autor schon seit vielen Jahren.
Grote: Ist Huchel denn auch jemand, der Sie beeinflusst hat?
Seiler: Huchel ist einer der wichtigen Autoren für mich. Ich kann nicht sagen, es gibt einen … Ich habe keinen Götzenheiligen, wo ich mir alles holen konnte oder der derart prägend war, wie das ja bei anderen Autoren manchmal vorkommt. Es gibt einige Autoren, aber zu den wichtigsten zählt Huchel, in jedem Fall.
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