"Man schämt sich über das, was hier geschehen ist"
Der israelische Schriftsteller Eshkol Nevo hat die jüngste Militäraktion gegen einen palästinensichen Konvoi kritisiert. "Man ist bestürzt", sagte der Autor des Romans "Wir haben noch das ganze Leben".
Dieter Kassel: Um vier Männer geht es in Eshkol Nevos Roman "Wir haben noch das ganze Leben". Um vier Männer, die seit ihrer Kindheit eine enge Freundschaft verbindet, zu der es unter anderem auch gehört, egal, was man beruflich macht, egal, wozu man eigentlich Zeit hätte, alle vier Jahre zwei Wochen miteinander zu verbringen, um die Fußballweltmeisterschaft zu sehen.
Und beim Anschauen einer dieser WMs 1998 schlägt dann einer der Freunde vor, man möge doch drei Wünsche für die Zukunft notieren, diese verstecken und dann erst bei der nächsten Fußball-WM nachgucken, was daraus geworden ist. Ein scheinbar harmloser Vorschlag, der die Freundschaft auf eine harte Probe stellt.
Ich habe mit Eshkol Nevo gestern über dieses Buch gesprochen. Das ist deshalb wichtig zu sagen, weil die Sprache natürlich auch auf die Militäraktion Israels im Mittelmeer kam, und das hat sie gestern, nach dem Stand von gestern. Begonnen haben wir unser Gespräch allerdings nicht damit, sondern wirklich mit dem Buch.
Dem Buch, in dem eine Frau sagt: Alle fünf Minuten ruft dich einer von deinen Freunden an und dann quatscht ihr euch fest, aber es ist dann nicht dieses Jungsgequatsche, sondern es sind richtige Gespräche. Ich habe Eshkol Nevo gefragt, ob er da eigentlich einen Wunsch beschreibt oder ob er in seinem Privatleben tatsächlich solche Freunde hat?
Eshkol Nevo: Ja, ich erlebe das durchaus so in meinem persönlichen Leben. Ich fühle da auch eine Art Auftrag, denn üblicherweise werden Freundschaften zwischen Männern in Israel als aus dem soldatischen Leben gegriffen dargestellt, oder sie entstammen der Zeit nach dem Wehrdienst.
Und die Gespräche zwischen den Männern sind meistens sehr seicht, sie dümpeln so dahin. Als ich mit dem Schreiben anfing, wollte ich tatsächlich hier eine Freundschaft beschreiben, die nicht auf diesen Militärerfahrungen beruht.
Ich wollte tatsächlich diese vier Männer zusammenbringen, die dann diese ausgedehnten und auch tief schürfenden Gespräche, auch philosophischer Art, miteinander führen. Es gibt ja auch einen wesentlichen Unterschied zwischen den Zweiergesprächen und den Gruppengesprächen bei Männern.
Und so ist es auch in diesem Buch: Wenn die Gruppen zusammentreffen, dann lacht man viel, man erzählt irgendwelche Witze. Anders ist es dann bei den Einzelgesprächen zwischen zwei einzelnen Männern, und genau das wollte ich als echte Erfahrung auch in diesem Buch darstellen.
Kassel: Sie haben gesagt, Sie selber wollten das in dem Buch als echte Erfahrung darstellen, aber wie ist es, was die Männerrolle angeht in der israelischen Gesellschaft? Diese Freundschaften, die oft im Militär, im Militärdienst geschlossen werden, sind ja doch - Sie haben es selber gesagt - etwas ganz anderes als das, was Sie hier beschreiben. Es gibt ja auch noch diese Machogesellschaft bei den Männern, es gibt Bündnisse. Ändert sich da die Gesellschaft oder haben Sie einfach in ihrem Buch schon Mal angefangen sich das auszumalen?
Nevo: Das ist sicherlich so. Ich beobachte diesen Wandel in der Auffassung der Armee. Für die Generation unserer Väter, die noch Kriege ausgefochten haben, war der Wehrdienst sicherlich Anlass für Stolz, dass sie dem Land diesen Dienst erweisen konnten. Sie haben Freundschaften aus der Armee mit nach Hause genommen, haben die nach dem Militärdienst weitergepflegt.
In meiner Generation ist es anders, meine Generation hat ja den Wehrdienst zu Zeiten der Intifada, der ersten Intifada insbesondere geleistet, die im Wesentlichen ziviler Art war, und das hat natürlich ganz andere Erfahrungen mit sich gebracht als bei unseren Vätern. Mindestens haben wir da eine zwiespältige Haltung gegenüber der Armee entwickelt, und nach dem Wehrdienst wollen viele einfach etwas anderes machen.
Sie wollen diese Erfahrung hinter sich lassen, sie wollen sozusagen das Gleis wechseln und anderes anstreben, auch ganz andere Werte. Wir sehen ganz sicherlich einen Wandel in den Männlichkeitsidealen in Israel, aber nicht nur in Israel.
Die Rolle des Mannes in der Familie ändert sich, ich weiß nicht, wie es in Deutschland damit steht, aber in Israel ist es sicherlich so, dass die Väter, die früher mehr oder minder als Besucher nach Hause kamen - nach Hause, wo eben die Mutter ihr Zepter schwang und sich um die Kinder kümmerte. Die Väter in Israel nehmen das jetzt nicht mehr so hin, sie suchen eine neue Rolle.
Und auch in meinem Buch habe ich ja eine Hauptgestalt eingeführt, die sehr stark melancholisch, nachdenklich, sanft gestimmt ist. Jetzt, wo ich mich hier in Berlin aufhalte, denke ich, ich habe hier viele dieser (…) zu sehen. Kurzum: Die Auffassung der Rolle des Mannes ändert sich in Israel ganz erheblich.
Kassel: Sie haben es schon selber erwähnt, Sie haben die letzten beiden Tage in Berlin verbracht, das heißt, Sie haben auch hier in Deutschland die Nachricht gehört, dass die israelische Armee den Konvoi von Schiffen angegriffen hat, der auf einer Hilfsmission, so haben die Initiatoren das genannt, unterwegs war in den Gazastreifen.
Ein offenbar – nach allem, was wir wissen – wirklich relativ brutaler Angriff, es hat Tote und Verletzte gegeben. Was haben Sie sich gedacht, wie waren Ihre Empfindungen, als Sie das in Deutschland gehört haben?
Nevo: Ja, in der Tat, ich bin aufgewacht, und ich habe gleich danach von Freunden in Israel Telefonanrufe bekommen über das, was geschehen ist. Was waren die ersten Reaktionen, meine Gefühle? Scham, man ist bestürzt, man schämt sich über das, was hier geschehen ist.
Man hat oft Anlass, auf das eigene Land Israel stolz zu sein für all das, was es vollbracht hat und geschafft hat. Aber dann gibt es auch immer wieder Anlässe, wo man sich des Landes schämt. Und hier ist es wirklich eine Tragödie, die vorgefallen ist, und es sind Menschen gestorben.
Es tut mir leid für diese Menschen, für ihre Angehörigen, das hätte so nicht passieren dürfen. Aber die eigentliche Erbsünde liegt viel tiefer, und da müssen wir weiter zurückgreifen. Ich glaube, dass dieser politische Ansatz durch eine Blockade der Zivilgesellschaft, durch das Absperren von Lebensmitteln und sonstigen Lieferungen politischen Druck ausüben zu wollen, das ist verfehlt. Möglicherweise ist dies aber auch ein unlösbarer Teil dessen, was es heißt, ein Israeli zu sein.
Mir wird das besonders jetzt in diesen Tagen in Berlin bewusst. Berlin ist ja für mich eine zum Optimismus stimmende Stadt, eine Stadt, die mindestens zwei Schichten von Vergangenheit in sich birgt. Einerseits die 30er-, 40er-Jahre, andererseits die Ost-West-Spaltung Europas, und beide historischen Bürden hat Berlin überwinden können und hat etwas ganz Schönes aus diesen Aschen der Vergangenheit, aus der Berliner Mauer erstehen lassen.
Für mich ist Berlin also eine Stadt der Inspiration, wo ich gerne auch mal vergesse, wo ich herkomme. Dann aber habe ich immer wieder diese ernüchternden Augenblicke, wo ich an Israel erinnert werde.
Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur an diesem Tag mit Eshkol Nevo, dem Auto des Romans"Wir haben noch das ganze Leben", und wir haben wieder das Problem, dass wir eben nicht nur über ein Buch reden können, sondern alles was sich drum herum tut.
Nun gibt es, Herr Nevo, ja nicht diese eine israelische Gesellschaft, das haben Sie in Ihrem ersten Roman sehr gut beschrieben, wie zersplittert die Gesellschaft auch ist, zwischen Hardlinern, politisch und religiös, bis zu sehr liberalen Menschen.
Dieser erste Roman ist zum Teil Schullektüre inzwischen in Israel. Sie selber unterrichten kreatives Schreiben, haben also sehr viel mit jungen Leuten zu tun. Ist das Hoffnung für Sie, die jungen Menschen, gibt es da eine große Veränderung oder sind da die Meinungen, die Weltbilder genauso zersplittert wie bei den Älteren?
Nevo: Zunächst einmal glaube ich, dass jeder Schriftsteller, wenn er schreibt, Hoffnung ausstrahlen sollte. Wenn ich nicht diese Hoffnung in mir verspürte, würde ich nicht schreiben, denn ich gehe ja davon aus, dass jemand dieses Buch auch liest.
Ich vertrete nicht die Meinung, dass ein Schriftsteller etwas wie Verzweiflung ausstrahlen sollte. Nein, er muss ja schon das Gefühl haben, dass es sich lohnt, mindestens das Buch zu lesen. Mein erstes Buch war stark nach hinten gewandt - "Sehnsucht". Es ging um die Vergangenheit und ganz bewusst wollte ich jetzt in diesem Buch den Blick in die Zukunft richten.
Nicht zufällig beginnt ja das Buch mit dem Ausdrücken von Wünschen, und jeder, der Wünsche ausdrückt, hat schon im Grunde diese Zuversicht, dass es auch wohl in seiner Macht steht, diese Wünsche Wirklichkeit werden zu lassen.
David Großman, ein sehr berühmter israelischer Schriftsteller, hat ja auch einmal gesagt, über die Zukunft zu sprechen sei in Israel ein Tabu. Ich wollte ganz bewusst mich auf die Zukunft richten, also ein sehr optimistisches Grundgefühl da verkörpern, denn es gibt ja auch in Israel so viel positive Impulse im Bereich der Kunst, der Literatur, der Musik.
Es gärt überall in Israel, in Tel Aviv, in Jerusalem, überall sind diese fruchtbaren Ansätze. Und ich sehe auch, wie eine ganz neue, interessante Annäherung von Israelis säkularer Jugend mit dem Judentum erfolgt. Nicht in dem Sinne, dass die Jungen jetzt plötzlich alle wieder fromm werden, sondern dass sie eben wissen, woher sie kommen. Es ist eine Verbindung von Seele zu Seele, und das gilt es zu schildern. Es gibt so viele Kräfte des Guten.
Ich sehe auch so viel Fürsorge füreinander, auch besondere Züge in der israelischen Gesellschaft, wie die Menschen miteinander umgehen. Nicht zufällig steht dieses Buch im Zeichen der Freundschaft. Die Menschen sind miteinander innig verknüpft, und man kann es sich gar nicht erlauben, lieblos gegenüber einem anderen zu sein, denn der Bruder dieses Menschen, gegenüber dem man so hart ist, ist dann sicherlich der Bruder des Nachbarn, und man bekommt es irgendwann doch zurück.
Also, es gibt Kräfte des Guten, Kräfte des Schlechten in der israelischen Gesellschaft. Manchmal stehen die in Harmonie zueinander, manchmal stehen sie im Widerstreit. Beides gehört dazu. Ich habe versucht, dieses Buch wirklich auf Zukunft hin zu schreiben und nicht mich niederschmettern zu lassen. Es ist sicherlich das optimistischste Buch, das ich je verfasst habe, trotz all dieser teilweise niederschmetternden oder auch schlimmen Nachrichten, die es natürlich auch gibt.
Kassel: Ein Gespräch mit dem israelischen Schriftsteller Eshkol Nevo, ein Gespräch, das wir gestern Nachmittag aufgezeichnet haben. Sein Buch heißt: "Wir haben noch das ganze Leben" und ist auf Deutsch gerade bei DTV erschienen.
Und beim Anschauen einer dieser WMs 1998 schlägt dann einer der Freunde vor, man möge doch drei Wünsche für die Zukunft notieren, diese verstecken und dann erst bei der nächsten Fußball-WM nachgucken, was daraus geworden ist. Ein scheinbar harmloser Vorschlag, der die Freundschaft auf eine harte Probe stellt.
Ich habe mit Eshkol Nevo gestern über dieses Buch gesprochen. Das ist deshalb wichtig zu sagen, weil die Sprache natürlich auch auf die Militäraktion Israels im Mittelmeer kam, und das hat sie gestern, nach dem Stand von gestern. Begonnen haben wir unser Gespräch allerdings nicht damit, sondern wirklich mit dem Buch.
Dem Buch, in dem eine Frau sagt: Alle fünf Minuten ruft dich einer von deinen Freunden an und dann quatscht ihr euch fest, aber es ist dann nicht dieses Jungsgequatsche, sondern es sind richtige Gespräche. Ich habe Eshkol Nevo gefragt, ob er da eigentlich einen Wunsch beschreibt oder ob er in seinem Privatleben tatsächlich solche Freunde hat?
Eshkol Nevo: Ja, ich erlebe das durchaus so in meinem persönlichen Leben. Ich fühle da auch eine Art Auftrag, denn üblicherweise werden Freundschaften zwischen Männern in Israel als aus dem soldatischen Leben gegriffen dargestellt, oder sie entstammen der Zeit nach dem Wehrdienst.
Und die Gespräche zwischen den Männern sind meistens sehr seicht, sie dümpeln so dahin. Als ich mit dem Schreiben anfing, wollte ich tatsächlich hier eine Freundschaft beschreiben, die nicht auf diesen Militärerfahrungen beruht.
Ich wollte tatsächlich diese vier Männer zusammenbringen, die dann diese ausgedehnten und auch tief schürfenden Gespräche, auch philosophischer Art, miteinander führen. Es gibt ja auch einen wesentlichen Unterschied zwischen den Zweiergesprächen und den Gruppengesprächen bei Männern.
Und so ist es auch in diesem Buch: Wenn die Gruppen zusammentreffen, dann lacht man viel, man erzählt irgendwelche Witze. Anders ist es dann bei den Einzelgesprächen zwischen zwei einzelnen Männern, und genau das wollte ich als echte Erfahrung auch in diesem Buch darstellen.
Kassel: Sie haben gesagt, Sie selber wollten das in dem Buch als echte Erfahrung darstellen, aber wie ist es, was die Männerrolle angeht in der israelischen Gesellschaft? Diese Freundschaften, die oft im Militär, im Militärdienst geschlossen werden, sind ja doch - Sie haben es selber gesagt - etwas ganz anderes als das, was Sie hier beschreiben. Es gibt ja auch noch diese Machogesellschaft bei den Männern, es gibt Bündnisse. Ändert sich da die Gesellschaft oder haben Sie einfach in ihrem Buch schon Mal angefangen sich das auszumalen?
Nevo: Das ist sicherlich so. Ich beobachte diesen Wandel in der Auffassung der Armee. Für die Generation unserer Väter, die noch Kriege ausgefochten haben, war der Wehrdienst sicherlich Anlass für Stolz, dass sie dem Land diesen Dienst erweisen konnten. Sie haben Freundschaften aus der Armee mit nach Hause genommen, haben die nach dem Militärdienst weitergepflegt.
In meiner Generation ist es anders, meine Generation hat ja den Wehrdienst zu Zeiten der Intifada, der ersten Intifada insbesondere geleistet, die im Wesentlichen ziviler Art war, und das hat natürlich ganz andere Erfahrungen mit sich gebracht als bei unseren Vätern. Mindestens haben wir da eine zwiespältige Haltung gegenüber der Armee entwickelt, und nach dem Wehrdienst wollen viele einfach etwas anderes machen.
Sie wollen diese Erfahrung hinter sich lassen, sie wollen sozusagen das Gleis wechseln und anderes anstreben, auch ganz andere Werte. Wir sehen ganz sicherlich einen Wandel in den Männlichkeitsidealen in Israel, aber nicht nur in Israel.
Die Rolle des Mannes in der Familie ändert sich, ich weiß nicht, wie es in Deutschland damit steht, aber in Israel ist es sicherlich so, dass die Väter, die früher mehr oder minder als Besucher nach Hause kamen - nach Hause, wo eben die Mutter ihr Zepter schwang und sich um die Kinder kümmerte. Die Väter in Israel nehmen das jetzt nicht mehr so hin, sie suchen eine neue Rolle.
Und auch in meinem Buch habe ich ja eine Hauptgestalt eingeführt, die sehr stark melancholisch, nachdenklich, sanft gestimmt ist. Jetzt, wo ich mich hier in Berlin aufhalte, denke ich, ich habe hier viele dieser (…) zu sehen. Kurzum: Die Auffassung der Rolle des Mannes ändert sich in Israel ganz erheblich.
Kassel: Sie haben es schon selber erwähnt, Sie haben die letzten beiden Tage in Berlin verbracht, das heißt, Sie haben auch hier in Deutschland die Nachricht gehört, dass die israelische Armee den Konvoi von Schiffen angegriffen hat, der auf einer Hilfsmission, so haben die Initiatoren das genannt, unterwegs war in den Gazastreifen.
Ein offenbar – nach allem, was wir wissen – wirklich relativ brutaler Angriff, es hat Tote und Verletzte gegeben. Was haben Sie sich gedacht, wie waren Ihre Empfindungen, als Sie das in Deutschland gehört haben?
Nevo: Ja, in der Tat, ich bin aufgewacht, und ich habe gleich danach von Freunden in Israel Telefonanrufe bekommen über das, was geschehen ist. Was waren die ersten Reaktionen, meine Gefühle? Scham, man ist bestürzt, man schämt sich über das, was hier geschehen ist.
Man hat oft Anlass, auf das eigene Land Israel stolz zu sein für all das, was es vollbracht hat und geschafft hat. Aber dann gibt es auch immer wieder Anlässe, wo man sich des Landes schämt. Und hier ist es wirklich eine Tragödie, die vorgefallen ist, und es sind Menschen gestorben.
Es tut mir leid für diese Menschen, für ihre Angehörigen, das hätte so nicht passieren dürfen. Aber die eigentliche Erbsünde liegt viel tiefer, und da müssen wir weiter zurückgreifen. Ich glaube, dass dieser politische Ansatz durch eine Blockade der Zivilgesellschaft, durch das Absperren von Lebensmitteln und sonstigen Lieferungen politischen Druck ausüben zu wollen, das ist verfehlt. Möglicherweise ist dies aber auch ein unlösbarer Teil dessen, was es heißt, ein Israeli zu sein.
Mir wird das besonders jetzt in diesen Tagen in Berlin bewusst. Berlin ist ja für mich eine zum Optimismus stimmende Stadt, eine Stadt, die mindestens zwei Schichten von Vergangenheit in sich birgt. Einerseits die 30er-, 40er-Jahre, andererseits die Ost-West-Spaltung Europas, und beide historischen Bürden hat Berlin überwinden können und hat etwas ganz Schönes aus diesen Aschen der Vergangenheit, aus der Berliner Mauer erstehen lassen.
Für mich ist Berlin also eine Stadt der Inspiration, wo ich gerne auch mal vergesse, wo ich herkomme. Dann aber habe ich immer wieder diese ernüchternden Augenblicke, wo ich an Israel erinnert werde.
Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur an diesem Tag mit Eshkol Nevo, dem Auto des Romans"Wir haben noch das ganze Leben", und wir haben wieder das Problem, dass wir eben nicht nur über ein Buch reden können, sondern alles was sich drum herum tut.
Nun gibt es, Herr Nevo, ja nicht diese eine israelische Gesellschaft, das haben Sie in Ihrem ersten Roman sehr gut beschrieben, wie zersplittert die Gesellschaft auch ist, zwischen Hardlinern, politisch und religiös, bis zu sehr liberalen Menschen.
Dieser erste Roman ist zum Teil Schullektüre inzwischen in Israel. Sie selber unterrichten kreatives Schreiben, haben also sehr viel mit jungen Leuten zu tun. Ist das Hoffnung für Sie, die jungen Menschen, gibt es da eine große Veränderung oder sind da die Meinungen, die Weltbilder genauso zersplittert wie bei den Älteren?
Nevo: Zunächst einmal glaube ich, dass jeder Schriftsteller, wenn er schreibt, Hoffnung ausstrahlen sollte. Wenn ich nicht diese Hoffnung in mir verspürte, würde ich nicht schreiben, denn ich gehe ja davon aus, dass jemand dieses Buch auch liest.
Ich vertrete nicht die Meinung, dass ein Schriftsteller etwas wie Verzweiflung ausstrahlen sollte. Nein, er muss ja schon das Gefühl haben, dass es sich lohnt, mindestens das Buch zu lesen. Mein erstes Buch war stark nach hinten gewandt - "Sehnsucht". Es ging um die Vergangenheit und ganz bewusst wollte ich jetzt in diesem Buch den Blick in die Zukunft richten.
Nicht zufällig beginnt ja das Buch mit dem Ausdrücken von Wünschen, und jeder, der Wünsche ausdrückt, hat schon im Grunde diese Zuversicht, dass es auch wohl in seiner Macht steht, diese Wünsche Wirklichkeit werden zu lassen.
David Großman, ein sehr berühmter israelischer Schriftsteller, hat ja auch einmal gesagt, über die Zukunft zu sprechen sei in Israel ein Tabu. Ich wollte ganz bewusst mich auf die Zukunft richten, also ein sehr optimistisches Grundgefühl da verkörpern, denn es gibt ja auch in Israel so viel positive Impulse im Bereich der Kunst, der Literatur, der Musik.
Es gärt überall in Israel, in Tel Aviv, in Jerusalem, überall sind diese fruchtbaren Ansätze. Und ich sehe auch, wie eine ganz neue, interessante Annäherung von Israelis säkularer Jugend mit dem Judentum erfolgt. Nicht in dem Sinne, dass die Jungen jetzt plötzlich alle wieder fromm werden, sondern dass sie eben wissen, woher sie kommen. Es ist eine Verbindung von Seele zu Seele, und das gilt es zu schildern. Es gibt so viele Kräfte des Guten.
Ich sehe auch so viel Fürsorge füreinander, auch besondere Züge in der israelischen Gesellschaft, wie die Menschen miteinander umgehen. Nicht zufällig steht dieses Buch im Zeichen der Freundschaft. Die Menschen sind miteinander innig verknüpft, und man kann es sich gar nicht erlauben, lieblos gegenüber einem anderen zu sein, denn der Bruder dieses Menschen, gegenüber dem man so hart ist, ist dann sicherlich der Bruder des Nachbarn, und man bekommt es irgendwann doch zurück.
Also, es gibt Kräfte des Guten, Kräfte des Schlechten in der israelischen Gesellschaft. Manchmal stehen die in Harmonie zueinander, manchmal stehen sie im Widerstreit. Beides gehört dazu. Ich habe versucht, dieses Buch wirklich auf Zukunft hin zu schreiben und nicht mich niederschmettern zu lassen. Es ist sicherlich das optimistischste Buch, das ich je verfasst habe, trotz all dieser teilweise niederschmetternden oder auch schlimmen Nachrichten, die es natürlich auch gibt.
Kassel: Ein Gespräch mit dem israelischen Schriftsteller Eshkol Nevo, ein Gespräch, das wir gestern Nachmittag aufgezeichnet haben. Sein Buch heißt: "Wir haben noch das ganze Leben" und ist auf Deutsch gerade bei DTV erschienen.