"Man wird die Wirtschaft umorganisieren müssen"
Hermann Knoflacher, Verkehrsplaner an der Technischen Universität Wien, hat über ein Szenario nachgedacht, wie sich die Menschen ohne privaten Wagen fortbewegen könnten. "Auf das Auto kann man weitgehend verzichten, man muss allerdings Strukturen bauen", sagte Knoflacher.
Britta Bürger: Willkommen in der Zukunft. Ökotopia heißt der Ort, an dem wir in Gedanken durchspielen, wie sich unser Leben ändern würde, wenn wir nicht nur von Klimaschutz redeten, sondern Taten folgen ließen. Stellen wir uns vor, die Regierungen würden den gesamten privaten Autoverkehr verbieten. Wie sähe unsere Welt dann aus? Kim Kindermann reist voraus und beschreibt Ökotopia am Beispiel Berlin.
Ein Szenario, das dem Wiener Verkehrsplaner Hermann Knoflacher vermutlich gut gefällt. Schönen guten Morgen, Herr Knoflacher!
Hermann Knoflacher: Einen schönen guten Morgen!
Bürger: Als Professor am Institut für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik der TU Wien haben Sie selbst schon so manches Szenario entworfen. Haben Sie noch weitere Ideen, wie und womit wir uns künftig fortbewegen könnten?
Knoflacher: Ja, vor allem zu Fuß ist eine sehr verlässliche Art. Das heißt, wir werden wieder zur Normalität zurückkehren, die uns ja Jahrtausende begleitet hat. Der Kater nach dem Ölrausch wird etwas schlimm sein, aber das Szenario, das gerade geschildert wurde, passt relativ gut.
Bürger: Es wird dann ein Muskelkater.
Knoflacher: Es ist ein geistiger Muskelkater, das heißt, wir haben die geistige Mobilität erheblich reduziert zugunsten der physischen Mobilität. Wir haben Hunderte PS in den Beinen, aber natürlich ist im Kopf nichts Adäquates dazugewachsen. Und wenn diese PS aus den Beinen verschwinden, dann wird man klügere Städte bauen müssen, man wird die Wirtschaft umorganisieren müssen.
Die Wirtschaft ist immer dümmer geworden, in Deutschland lässt sich das sehr gut analysieren. Es müssen heute viel mehr Kilometer zurückgelegt werden, um einen Euro zu verdienen, als etwa vor 50 Jahren. Also die geistige Mobilität ist sicher die Zukunft, und zur geistigen Mobilität gehören einfach die Beine auch dazu.
Der Radverkehr ist sicherlich die Option für mittlere Distanzen, und der öffentliche Verkehr. Auf das Auto kann man weitgehend verzichten, man muss allerdings Strukturen bauen – nicht, um das Auto zu verbieten, sondern damit die Leute von selbst auf das Auto verzichten. Wir haben ja heute Strukturen gebaut oder finden sie vor, die auf die Reichsgaragenordnung zurückgehen, die die Menschen zum Autofahren nahezu zwingen aufgrund ihrer physiologischen Ausstattung.
Wenn man diese Situation ändert und der Parkplatz weiter entfernt ist als die Haltestelle des öffentlichen Verkehrs am Quellort, wo man weggeht, und am Zielort, dann verzichten die Menschen von selbst auf das Auto. Wien ist schon gar so weit.
Bürger: Bleiben wir mal bei diesem Beispiel, dass Sie sagen, mit dem Auto ist man gar nicht unbedingt schneller: Darüber denken die meisten Leute wahrscheinlich genau das Gegenteil. Was ist zum Beispiel mit der Mutter, die morgens im Regen mit dem Auto ihr kleines Kind in die Kita bringt, das größere in die Schule, anschließend fährt sie selbst zur Arbeit, danach noch schnell einkaufen, bevor sie die Kinder wieder einsammelt und nacheinander zum Sport- und Musikunterricht fährt. Das würde die Frau doch ohne Auto gar nicht schaffen.
Knoflacher: Wird sie auch nicht brauchen, weil die Strukturen, wenn das Auto nicht mehr die Räume so zerreißt und so isolierte Räume schafft, dass um den fußläufigen Bereich nichts mehr ist - keine Sozialkontakte, keine Einkaufsmöglichkeiten, keine Arbeitsplätze und dergleichen –, dann entstehen diese Zwänge, insbesondere für die Frauen, weil die Männer natürlich ihre Welt primär gestaltet haben, in denen die Frauen, wie Sie richtig gesagt haben, sehr komplizierte Wege zurücklegen müssen. Die Welt wird dann wieder menschlicher und normaler.
Diese Fragen stellen sich dann nicht. Es ist die Schwierigkeit bei all diesen Dingen, dass man aus dem Ist-Zustand sehr schwer die geänderten Strukturen und das damit geänderte Verhalten sozusagen sich vorstellen kann. Mich verfolgt das schon seit 40 Jahren, ich habe sehr viele Dinge realisiert.
Und ich habe 1975 das Verkehrskonzept für Wien gemacht, und das hat 27 Jahre gedauert, dass es so stark durchschlägt, dass seit 2002 der Autobesitz in Wien abnimmt. Das heißt, die Wiener haben festgestellt, sie brauchen gar nicht mehr so viele Autos.
Bürger: Das heißt, damals hat man gesagt, Sie sind ein Spinner, und später hat man erkannt, das geht doch?
Knoflacher: Ja, ich habe natürlich die Stadtverwaltung mit meinen Studenten sozusagen immer versorgt, das heißt, es gibt sachkundige Leute, die mit Systemen umgehen können und die wissen, wo man zugreift. Das Verkehrswesen hat ja an völlig falschen Stellen Symptome behandelt und war im Wesentlichen die Ursache der heutigen Verkehrsprobleme. Das heißt, wenn man Fahrbahnen baut, dann reizt man die Menschen natürlich zum Autofahren, zerstört den öffentlichen Verkehr. Und wenn man die Reichsgaragenordnung umsetzt, nämlich die Parkplätze bei den Quell- und Zielorten optimal anordnet, dann hat der öffentliche Verkehr keine Chance. Lässt sich in Deutschland wunderbar nachweisen, das ist nach dem Krieg passiert.
Bürger: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem österreichischen Verkehrsplaner Hermann Knoflacher. Wenn Sie sagen, die schnelle Bewegung, die würde unseren Horizont keineswegs erweitern, sondern im Gegenteil, sie würde ihn einengen, dann frage ich mich doch, warum. Ist das keine Erweiterung, wenn ich nach der Arbeit von Ulm nach München fahre, dort abends ins Theater gehe und am nächsten Tag weiterdüse in die Berge zum Skifahren? Für viele sieht doch so ein schönes, ausgefülltes Wochenende aus.
Knoflacher: Ja, das ist richtig. Aber wenn in Ulm kein Theater ist, wenn in Ulm keine Vielfalt ist, wenn in den Dörfern alles zerstört wurde, was es seinerzeit gab, dann ist man gezwungen, sozusagen von einer Falle zur nächsten zu tappen und zu rasen. Die Lösung liegt genauso wie in der Evolution darin, dass die Strukturen, nämlich die künstlichen Strukturen der Menschen, wieder die Vielfalt anbieten, die sie ja im Laufe der Jahrtausende entwickelt haben, die in den letzten 50 Jahren total verloren gegangen ist. Das beginnt bei den reinen Wohngebieten, wo man nichts erreicht außer den Nachbarn, den man nicht kennt, weil man nur das Auto wahrnimmt, und geht bis hinein in die Kulturszene.
Ich bin in einem Dorf aufgewachsen, und es gab dort Gesangsvereine, es gab ein kulturelles Leben. Und wenn man andere Kultur haben wollte, dann ist man eben in eine andere Stadt gefahren, um sich das sozusagen anzuhören oder anzusehen. Das war dann ein entsprechendes Ereignis, aber man kam kulturell vorbereitet dorthin, nicht als Konsument. Das heißt, die heutige Gesellschaft ist eine Konsumgesellschaft, die ja selber nichts mehr produziert. Es macht ja viel mehr Spaß, dass man selber auch irgendetwas machen kann, denn das Tun ist ein wesentlicher Teil der Menschen. Der Irrtum von der Zeiteinsparung durch Geschwindigkeit beruht auf der individuellen Beobachtung.
Wenn man die Geschwindigkeit in dem System erhöht, zerstört man die Strukturen. Das heißt, die hohen Geschwindigkeiten erzeugen Zentralismus. Die Supermärkte an der Peripherie sind ein Ergebnis der hohen Geschwindigkeiten. Die unglaubliche Vielfalt der Produktionen und die Vielfalt der Geschäfte und Handwerke und so weiter ist das Ergebnis der kleinen Geschwindigkeiten, der Fußgeher. Und wenn man das Auto herausnimmt und die Geschwindigkeiten aus dem System herausnimmt, entsteht eine unglaubliche Vielfalt.
Ich mache das, wie gesagt, mit entsprechenden, mutigen Politikern seit 40 Jahren, und es sind Phänomene entstanden, an die wir seinerzeit überhaupt nicht gedacht haben, die aber, wenn man nachträglich das System untersucht, ziemlich logisch sind. Das heißt, es entsteht eine Lebendigkeit.
Wenn man das Auto aus dem öffentlichen Raum herausnimmt, beginnt eine Stadt, wenn sie die richtigen Strukturen hat, sofort zu leben. Und man sieht das Leben einer Stadt an der Zahl der Fußgeher, die sich freiwillig im öffentlichen Raum aufhalten. Aus denen hat man die Menschen in den letzten 50 Jahren vertrieben und damit die Stadt ruiniert.
Bürger: Wie kann man heute als Autohasser wie Sie in einer Großstadt leben, ohne jeden Tag schlechte Laune zu haben?
Knoflacher: Also ich bin überhaupt kein Autohasser, ich bin ein Menschenliebhaber. Mich interessiert das menschliche Verhalten. Das Auto ist eine ganz faszinierende Geschichte, individuell, nur für das System der Gesellschaft ist das Auto wie ein Virus.
Das heißt, das Auto verbindet sich mit unserem Genum, das ist der sogenannte innere Schweinehund, gegen das Gehirn und zu einer unglaublichen Macht und wird enorm egoistisch, eigennützig und dergleichen. Das heißt, wir haben ein Verhalten durch das Auto, durch diesen Virusbefall erzeugt, das die DNA für die Autos macht und nicht mehr für die Menschen. Das ist insbesondere bei den Planern und Politikern zu beobachten.
Das heißt, die Entscheidungen werden in der Praxis zugunsten des Autos getroffen, aber nicht zugunsten der Kinder, zugunsten der Frauen, zugunsten der Zukunft, zugunsten der Umwelt. Wo eigentlich Kinder spielen sollten – und das war ja noch vor 50 Jahren auch in Wien der Fall –, stehen heute Autos herum, rasen Autos.
Wo man reine Luft einatmen sollte und bei offenem Fenster leben und auch schlafen könnte, ist eine Lärmkulisse entstanden, die unerträglich geworden ist, die die Menschen krank macht und dergleichen. Das heißt, wir haben die Werteskala umgedreht zugunsten des Autos. Genauso wie eine Zelle nicht mehr die DNA des Körpers eines Menschen oder eines Huhnes zum Beispiel repliziert, repliziert sie dann, wenn sie das Virus aufgenommen hat – das muss ja ihr sehr attraktiv erscheinen, sonst würde eine Zelle das ja nicht tun –, dann macht sie lauter Viren-RNAs.
Und genau das Gleiche machten die Menschen oder machen es immer noch. Das heißt, sie haben das Auto im Kopf, und das Auto lässt sie nicht einmal mehr die Realität sehen. Es gibt von mir sehr lustige Bilder, wo die Leute überhaupt nichts dran finden, wenn ein Auto irgendwo aus einer Garage herausfährt.
Und wenn ich dann mit dem Gehzeug, das ist ein Rahmen, der so groß ist wie ein Auto, zu Fuß herauskomme, dann merken sie plötzlich, dass da irgendetwas nicht in Ordnung ist, dass ich mich total asozial verhalte. Dabei bin ich ja ohnehin ohne Lärm und Abgase unterwegs.
Bürger: Was wäre, wenn der private Autoverkehr verboten werden würde? Darüber hat sich der Verkehrsplaner Hermann Knoflacher viele Gedanken gemacht, einige davon zu hören in unserer Reihe "Ökotopia". Herr Knoflacher, danke für das Gespräch an Sie nach Wien!
Knoflacher: Ich danke auch und wünsche einen schönen Tag ohne Auto!
Bürger: Gleichfalls!
Ein Szenario, das dem Wiener Verkehrsplaner Hermann Knoflacher vermutlich gut gefällt. Schönen guten Morgen, Herr Knoflacher!
Hermann Knoflacher: Einen schönen guten Morgen!
Bürger: Als Professor am Institut für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik der TU Wien haben Sie selbst schon so manches Szenario entworfen. Haben Sie noch weitere Ideen, wie und womit wir uns künftig fortbewegen könnten?
Knoflacher: Ja, vor allem zu Fuß ist eine sehr verlässliche Art. Das heißt, wir werden wieder zur Normalität zurückkehren, die uns ja Jahrtausende begleitet hat. Der Kater nach dem Ölrausch wird etwas schlimm sein, aber das Szenario, das gerade geschildert wurde, passt relativ gut.
Bürger: Es wird dann ein Muskelkater.
Knoflacher: Es ist ein geistiger Muskelkater, das heißt, wir haben die geistige Mobilität erheblich reduziert zugunsten der physischen Mobilität. Wir haben Hunderte PS in den Beinen, aber natürlich ist im Kopf nichts Adäquates dazugewachsen. Und wenn diese PS aus den Beinen verschwinden, dann wird man klügere Städte bauen müssen, man wird die Wirtschaft umorganisieren müssen.
Die Wirtschaft ist immer dümmer geworden, in Deutschland lässt sich das sehr gut analysieren. Es müssen heute viel mehr Kilometer zurückgelegt werden, um einen Euro zu verdienen, als etwa vor 50 Jahren. Also die geistige Mobilität ist sicher die Zukunft, und zur geistigen Mobilität gehören einfach die Beine auch dazu.
Der Radverkehr ist sicherlich die Option für mittlere Distanzen, und der öffentliche Verkehr. Auf das Auto kann man weitgehend verzichten, man muss allerdings Strukturen bauen – nicht, um das Auto zu verbieten, sondern damit die Leute von selbst auf das Auto verzichten. Wir haben ja heute Strukturen gebaut oder finden sie vor, die auf die Reichsgaragenordnung zurückgehen, die die Menschen zum Autofahren nahezu zwingen aufgrund ihrer physiologischen Ausstattung.
Wenn man diese Situation ändert und der Parkplatz weiter entfernt ist als die Haltestelle des öffentlichen Verkehrs am Quellort, wo man weggeht, und am Zielort, dann verzichten die Menschen von selbst auf das Auto. Wien ist schon gar so weit.
Bürger: Bleiben wir mal bei diesem Beispiel, dass Sie sagen, mit dem Auto ist man gar nicht unbedingt schneller: Darüber denken die meisten Leute wahrscheinlich genau das Gegenteil. Was ist zum Beispiel mit der Mutter, die morgens im Regen mit dem Auto ihr kleines Kind in die Kita bringt, das größere in die Schule, anschließend fährt sie selbst zur Arbeit, danach noch schnell einkaufen, bevor sie die Kinder wieder einsammelt und nacheinander zum Sport- und Musikunterricht fährt. Das würde die Frau doch ohne Auto gar nicht schaffen.
Knoflacher: Wird sie auch nicht brauchen, weil die Strukturen, wenn das Auto nicht mehr die Räume so zerreißt und so isolierte Räume schafft, dass um den fußläufigen Bereich nichts mehr ist - keine Sozialkontakte, keine Einkaufsmöglichkeiten, keine Arbeitsplätze und dergleichen –, dann entstehen diese Zwänge, insbesondere für die Frauen, weil die Männer natürlich ihre Welt primär gestaltet haben, in denen die Frauen, wie Sie richtig gesagt haben, sehr komplizierte Wege zurücklegen müssen. Die Welt wird dann wieder menschlicher und normaler.
Diese Fragen stellen sich dann nicht. Es ist die Schwierigkeit bei all diesen Dingen, dass man aus dem Ist-Zustand sehr schwer die geänderten Strukturen und das damit geänderte Verhalten sozusagen sich vorstellen kann. Mich verfolgt das schon seit 40 Jahren, ich habe sehr viele Dinge realisiert.
Und ich habe 1975 das Verkehrskonzept für Wien gemacht, und das hat 27 Jahre gedauert, dass es so stark durchschlägt, dass seit 2002 der Autobesitz in Wien abnimmt. Das heißt, die Wiener haben festgestellt, sie brauchen gar nicht mehr so viele Autos.
Bürger: Das heißt, damals hat man gesagt, Sie sind ein Spinner, und später hat man erkannt, das geht doch?
Knoflacher: Ja, ich habe natürlich die Stadtverwaltung mit meinen Studenten sozusagen immer versorgt, das heißt, es gibt sachkundige Leute, die mit Systemen umgehen können und die wissen, wo man zugreift. Das Verkehrswesen hat ja an völlig falschen Stellen Symptome behandelt und war im Wesentlichen die Ursache der heutigen Verkehrsprobleme. Das heißt, wenn man Fahrbahnen baut, dann reizt man die Menschen natürlich zum Autofahren, zerstört den öffentlichen Verkehr. Und wenn man die Reichsgaragenordnung umsetzt, nämlich die Parkplätze bei den Quell- und Zielorten optimal anordnet, dann hat der öffentliche Verkehr keine Chance. Lässt sich in Deutschland wunderbar nachweisen, das ist nach dem Krieg passiert.
Bürger: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem österreichischen Verkehrsplaner Hermann Knoflacher. Wenn Sie sagen, die schnelle Bewegung, die würde unseren Horizont keineswegs erweitern, sondern im Gegenteil, sie würde ihn einengen, dann frage ich mich doch, warum. Ist das keine Erweiterung, wenn ich nach der Arbeit von Ulm nach München fahre, dort abends ins Theater gehe und am nächsten Tag weiterdüse in die Berge zum Skifahren? Für viele sieht doch so ein schönes, ausgefülltes Wochenende aus.
Knoflacher: Ja, das ist richtig. Aber wenn in Ulm kein Theater ist, wenn in Ulm keine Vielfalt ist, wenn in den Dörfern alles zerstört wurde, was es seinerzeit gab, dann ist man gezwungen, sozusagen von einer Falle zur nächsten zu tappen und zu rasen. Die Lösung liegt genauso wie in der Evolution darin, dass die Strukturen, nämlich die künstlichen Strukturen der Menschen, wieder die Vielfalt anbieten, die sie ja im Laufe der Jahrtausende entwickelt haben, die in den letzten 50 Jahren total verloren gegangen ist. Das beginnt bei den reinen Wohngebieten, wo man nichts erreicht außer den Nachbarn, den man nicht kennt, weil man nur das Auto wahrnimmt, und geht bis hinein in die Kulturszene.
Ich bin in einem Dorf aufgewachsen, und es gab dort Gesangsvereine, es gab ein kulturelles Leben. Und wenn man andere Kultur haben wollte, dann ist man eben in eine andere Stadt gefahren, um sich das sozusagen anzuhören oder anzusehen. Das war dann ein entsprechendes Ereignis, aber man kam kulturell vorbereitet dorthin, nicht als Konsument. Das heißt, die heutige Gesellschaft ist eine Konsumgesellschaft, die ja selber nichts mehr produziert. Es macht ja viel mehr Spaß, dass man selber auch irgendetwas machen kann, denn das Tun ist ein wesentlicher Teil der Menschen. Der Irrtum von der Zeiteinsparung durch Geschwindigkeit beruht auf der individuellen Beobachtung.
Wenn man die Geschwindigkeit in dem System erhöht, zerstört man die Strukturen. Das heißt, die hohen Geschwindigkeiten erzeugen Zentralismus. Die Supermärkte an der Peripherie sind ein Ergebnis der hohen Geschwindigkeiten. Die unglaubliche Vielfalt der Produktionen und die Vielfalt der Geschäfte und Handwerke und so weiter ist das Ergebnis der kleinen Geschwindigkeiten, der Fußgeher. Und wenn man das Auto herausnimmt und die Geschwindigkeiten aus dem System herausnimmt, entsteht eine unglaubliche Vielfalt.
Ich mache das, wie gesagt, mit entsprechenden, mutigen Politikern seit 40 Jahren, und es sind Phänomene entstanden, an die wir seinerzeit überhaupt nicht gedacht haben, die aber, wenn man nachträglich das System untersucht, ziemlich logisch sind. Das heißt, es entsteht eine Lebendigkeit.
Wenn man das Auto aus dem öffentlichen Raum herausnimmt, beginnt eine Stadt, wenn sie die richtigen Strukturen hat, sofort zu leben. Und man sieht das Leben einer Stadt an der Zahl der Fußgeher, die sich freiwillig im öffentlichen Raum aufhalten. Aus denen hat man die Menschen in den letzten 50 Jahren vertrieben und damit die Stadt ruiniert.
Bürger: Wie kann man heute als Autohasser wie Sie in einer Großstadt leben, ohne jeden Tag schlechte Laune zu haben?
Knoflacher: Also ich bin überhaupt kein Autohasser, ich bin ein Menschenliebhaber. Mich interessiert das menschliche Verhalten. Das Auto ist eine ganz faszinierende Geschichte, individuell, nur für das System der Gesellschaft ist das Auto wie ein Virus.
Das heißt, das Auto verbindet sich mit unserem Genum, das ist der sogenannte innere Schweinehund, gegen das Gehirn und zu einer unglaublichen Macht und wird enorm egoistisch, eigennützig und dergleichen. Das heißt, wir haben ein Verhalten durch das Auto, durch diesen Virusbefall erzeugt, das die DNA für die Autos macht und nicht mehr für die Menschen. Das ist insbesondere bei den Planern und Politikern zu beobachten.
Das heißt, die Entscheidungen werden in der Praxis zugunsten des Autos getroffen, aber nicht zugunsten der Kinder, zugunsten der Frauen, zugunsten der Zukunft, zugunsten der Umwelt. Wo eigentlich Kinder spielen sollten – und das war ja noch vor 50 Jahren auch in Wien der Fall –, stehen heute Autos herum, rasen Autos.
Wo man reine Luft einatmen sollte und bei offenem Fenster leben und auch schlafen könnte, ist eine Lärmkulisse entstanden, die unerträglich geworden ist, die die Menschen krank macht und dergleichen. Das heißt, wir haben die Werteskala umgedreht zugunsten des Autos. Genauso wie eine Zelle nicht mehr die DNA des Körpers eines Menschen oder eines Huhnes zum Beispiel repliziert, repliziert sie dann, wenn sie das Virus aufgenommen hat – das muss ja ihr sehr attraktiv erscheinen, sonst würde eine Zelle das ja nicht tun –, dann macht sie lauter Viren-RNAs.
Und genau das Gleiche machten die Menschen oder machen es immer noch. Das heißt, sie haben das Auto im Kopf, und das Auto lässt sie nicht einmal mehr die Realität sehen. Es gibt von mir sehr lustige Bilder, wo die Leute überhaupt nichts dran finden, wenn ein Auto irgendwo aus einer Garage herausfährt.
Und wenn ich dann mit dem Gehzeug, das ist ein Rahmen, der so groß ist wie ein Auto, zu Fuß herauskomme, dann merken sie plötzlich, dass da irgendetwas nicht in Ordnung ist, dass ich mich total asozial verhalte. Dabei bin ich ja ohnehin ohne Lärm und Abgase unterwegs.
Bürger: Was wäre, wenn der private Autoverkehr verboten werden würde? Darüber hat sich der Verkehrsplaner Hermann Knoflacher viele Gedanken gemacht, einige davon zu hören in unserer Reihe "Ökotopia". Herr Knoflacher, danke für das Gespräch an Sie nach Wien!
Knoflacher: Ich danke auch und wünsche einen schönen Tag ohne Auto!
Bürger: Gleichfalls!