Manch "finstren Ort" selbst erlebt

Von Andreas Malessa |
Der Dichter und Pfarrer Albrecht Goes, vertrauter Freund von Hermann Hesse, wurde am 22. März 1908 in der Nähe von Ulm geboren. Während des Zweiten Weltkriegs versteckte er jüdische Flüchtlinge, später thematisierte Goes in seiner Novelle "Die Brandopfer" die Verfolgung der Juden. Das Wort Holocaust, in abgewandelter Übersetzung Griechisch für Brandopfer, geht auf ihn zurück.
"Dass dies geschieht. Dass so die Erde wieder
vergessen kann das angetane Leid,
dass sie Verstörung lohnt mit jungem Moosgrün,
mit roter Blüte blut’ge Grausamkeit.
Die Geißel schwingt nicht mehr. Es sind die Würger
hinabgefahren an den finstren Ort.
Das Kreuz nur dauert. Mildes Holz der Gnade,
Versöhnung deutend als der Worte Wort."


"Karwoche 1946" heißt dieses Gedicht und der es schrieb, hatte die "blut’ge Grausamkeit", die "Geißel" und "die Würger" an manchem "finstren Ort" des Zweiten Weltkriegs aus nächster Nähe erlebt: Der evangelische Pfarrer Albrecht Goes, geboren am 22. März 1908 in Langenbeutigen bei Ulm, gestorben am 23. Februar 2000 in Stuttgart.

"Am 22. März 1908, als ich zur Welt kam, gab mir der Vater, im Gedenken daran, dass es Goethes Todestag ist, doch als den zweiten Namen den Namen Wolfgang, den Namen als eines geistigen Paten, der mir die 50 Jahre nahe gewesen ist: Dass es ein Glück ist, begegnen zu dürfen und dass es Liebe empfangen heißt und auch Liebe weitergeben. In einer wunderbaren Vokabel des alten Goethe ist das zusammengefügt, wenn er sagt: ’Begegnen ist ein höchstes Liebeglück.’"

Das sagte der schwäbische Dorfpfarrer Albrecht Goes an seinem 50. Geburtstag. Vor einem haben Jahrhundert also, als seine vertrauten Freunde Hermann Hesse und Martin Buber noch lebten. Die Novelle "Unruhige Nacht" von Albrecht Goes, in 19 Sprachen übersetzt, erlangte gerade Weltruhm, wurde das erste Mal verfilmt - mit Hansjörg Felmy in der Hauptrolle - und machte sein Zitat von der "Entzauberung des Krieges" zeitweilig sprichwörtlich:

"Es kommt gar nicht darauf an, den Krieg nur zu hassen. Es ist viel notwendiger, ihn zu entzaubern. Man muss den Menschen klarmachen, wie schmutzig dieses Handwerk ist, um wie viel besser friedliche Arbeit wäre als die Jagd nach dem Ritterkreuz. Krieg - was ist das eigentlich? Fußschweiß, Eiter und Urin! Doch lassen Sie nur erst das neue Jahrzehnt herankommen und der alte Mythos vom Heldentum wird wieder wie Unkraut wuchern."

Ein tragisch prophetisches Wort, wie wir nach dem Vietnamkrieg, dem Golf-, dem Balkan- und dem Irakkrieg wissen. Albrecht Goes besuchte als Schüler das selbe Kloster-Internat in Maulbronn wie Hermann Hesse vor ihm, studierte
Geschichte und Literatur, später dann evangelische Theologie in Tübingen bei Karl Heim, heiratete 1933, war während des Zweiten Weltkrieges Lazarettpfarrer und Feldgeistlicher an der Ostfront und hat viele der hochsensibel und erschütternd dramatisch geschilderten Szenen seiner Prosa selbst erlebt: Dem zum Tode verurteilten Deserteur in der "unruhigen Nacht" vor seiner Hinrichtung beistehen und dann beim Lesen der Prozessakten feststellen, dass er unschuldig ist.

Als die Pfarrersfamilie Goes 1944 gefragt wurde, ob sie trotz ihrer drei kleinen Kinder im Haus eine Gruppe jüdischer Flüchtlinge verstecken könne - was sie tat - entstanden die ersten Notizen zur Novelle "Das Brandopfer", die 1954 erschien. 1978 erhielt Goes für diese Erzählung die "Buber-Rosenzweig-Medaille". Das griechische Wort für "Brandopfer", "Holokautama", verwendeten britische Filmproduzenten im Titel ihres Fernseh-Mehrteilers, der 1978 gesendet wurde "Holocaust: Die Geschichte der Familie Weiß". Es ist bis heute der geschichtswissenschaftliche Fachbegriff für die Judenvernichtung im Dritten Reich und, indirekt, aber nachhaltig, hat Albrecht Goes an dieser Begriffsgeschichte mitgewirkt.

"Politisches Engagement, das gab es vom Vater, von den Eltern und Großeltern her immer. Der Urgroßvater ist ein alter Württemberger 48er gewesen. Der als Rebell galt und als Rebell in die Verbannung geschickt wurde. Und etwas von dem Zorn des Urgroßvaters ist in mir bis zum heutigen Tag lebendig geblieben. Politisches Engagement gab es beim Vater und bei der Mutter, da bin ich zweiseitig belastet. Es war die Demokratie Uhlands und es war die Vorstellung einer europäischen Verantwortung. Man kannte die Grenzen nicht, die damals aufgerichtet wurden. Der humanistische Geist war ein europäischer Geist."

Ganz so rebellisch wie seine Vorfahren war der vom romantischen Idealismus und Naturalismus des 19. Jahrhunderts geprägte, eher introvertiert und zurückhaltende schwäbische Pfarrer dann aber doch nicht: Weder gehörte er zu den Frontfiguren der "Bekennenden Kirche", noch protestierte er gegen die Wiederbewaffnung der jungen Bundesrepublik unter Konrad Adenauer. Als der jüdische Religionsphilosoph und Bibelübersetzer Martin Buber 1953 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels bekam, hielt Albrecht Goes die Laudatio. Ebenfalls zu Thomas Manns 80. Geburtstag, wenige Wochen vor dessen Tod.

Als er selbst 85 wurde, konnte er in einer 300-seitigen Festschrift Ehrungen von Hilde Domin bis Richard von Weizsäcker über sich lesen. In Kenntnis seiner mehr als 120 Gedichte, die bis 1997 entstanden - wird Albrecht Goes seither abwechselnd als "Joseph von Eichendorff auf der Kirchenkanzel" oder als "Eduard Mörike des 20. Jahrhunderts" etikettiert. Was sicher nicht falsch ist.

"Ich liebe Dich. Es ist das alte Wort.
Wer wars, ders sprach zum allerersten Mal?
Das Wort der Lust, das Quellwort süßer Qual?
Und wie geschah’s, dass durch die Zeiten fort
es weiterdrang? Wer, sag, wer trugs zu Dir,
beladen so von vieler Schicksalsfracht.
Flamme des Tages und Musik der Nacht
und Übermacht - ach! Über Dir und mir?
Das alte Wort. Und doch, da ich Dirs jetzt
zusage, ist’s, als sei es nie zuvor
berührt von Lippen, zitternd, heiß und schwer.
Wort, neugeschaffen, rein und unverletzt
für diesen Mund nur und für dieses Ohr:
Hör mich, o Du! Ich liebe Dich so sehr."