Manfred Brauneck: Die Deutschen und ihr Theater. Kleine Geschichte der "moralischen Anstalt" oder: ist das Theater überfordert?
Transkript Verlag, Bielefeld 2018
184 Seiten, 24,99 Euro
Wie Theater die Gesellschaft formen
Theater sind Orte der Selbstreflektion, an denen eine Gesellschaft sich selbst untersucht. Der Theaterwissenschaftler Manfred Brauneck erklärt in seinem Buch, dass die Bühnen mit diesem Anspruch überfordert sind.
"Das Jahrhundert ist meinem Ideal nicht reif. Ich lebe ein Bürger derer, welche kommen werden."
Friedrich Schiller glaubte nicht daran, dass eine Bühne den "Don Carlos" angemessen aufführen könnte. Er schrieb von dem "Theaterschafott", vor dem er sein Stück bewahren müsse. Auch Johann Wolfgang von Goethe war schnell desillusioniert, als er den Theateralltag seiner Zeit kennen lernte. Das Publikum verlangte nach derber Unterhaltung, Goethe musste als Theaterleiter so viele Kompromisse eingehen. Manfred Brauneck schreibt fast lapidar, dass in diesen Zeiten vom Theater keine wesentlichen Impulse an die nationalen und sozialen Bewegungen ausgingen. Wohl gemerkt: Es geht um die Weimarer Klassik, um Autoren und Werke, die bis heute als zentral gelten.
Theater als moralische Anstalt oder als Unterhaltung?
Literaturwissenschaftler schauen auf die Texte, auf die ästhetischen Schriften Schillers, auf seine Vision des Theaters als moralische Anstalt. Oder auf die Hamburger Dramaturgie Gotthold Ephraim Lessings, den Versuch, ein theoretisches Fundament für das angestrebte Nationaltheater zu schaffen. Aber Manfred Brauneck ist Theaterwissenschaftler. Er berichtet von der konkreten Umsetzung dieser Ideen. Das ist eine heraus ragende Qualität seines Buches "Die Deutschen und ihr Theater". In 174 eng bedruckten Seiten plus Literaturliste schlägt Brauneck einen großen historischen Bogen. Er beschreibt, wie das aufstrebende Bürgertum im 18. Jahrhundert ein Projekt formulierte, das Theater als Mittel der Aufklärung. Doch erst mit den gesellschaftlichen Veränderungen durch die industrielle Revolution fanden politische Stücke ein Publikum. Zum Beispiel als Gerhart Hauptmann mit seinem Sozialdrama "Die Weber" einen Skandal auslöste.
Am Ende des 19. Jahrhunderts gab es wieder Schriften die eine "Hebung des Kunstsinnes im Volke" und die "Veredelung des Unterhaltungsbedürfnisses" forderten. Neue Theater entstanden, gleichzeitig gab es Gegenbewegungen. Mit Fundamentalkritik konnten viele Bürger nichts anfangen und gründeten Festspiele, zum Beispiel in Salzburg. Hier konnten sich die Eingeweihten ungestört dem kulinarischen Kunstgenuss hingeben. Manfred Brauneck beschreibt eine Menge künstlerischer Aufbrüche, Frank Wedekind und sein Stück "Frühlings Erwachen", den Dadaismus, Erwin Piscator und sein politisches Theater, Peter Zadek, der dem deutschen Stadttheater endlich ehrliche Menschendarstellungen brachte. Bis in die Gegenwart reicht sein historischer Abriss. Der 84jähige gibt einen präzisen Einblick in die Arbeit von Rimini Protokoll und beleuchtet klar die Debatte um Chris Dercon und die Volksbühne.
Theater als Zukunftswerkstatt
Nüchtern stellt Brauneck die Frage, was die Theater zu den wichtigen Diskussionen der vergangenen Jahrzehnte beigetragen haben. Zu den Debatten über die Wiedervereinigung, die Globalisierung, die Digitalisierung. Es ist nicht viel. Claus Peymann erhält von Brauneck das Kompliment, in seinem aufklärerischen Anspruch glaubwürdig geblieben zu sein. Aber das reicht nicht. Das Theater als "moralische Anstalt" oder "Zukunftswerkstatt" - schreibt Brauneck – ist "wohl vor allem Legitimationsrhetorik der Funktionäre und der Statthalter des Theaters". Er meint das überhaupt nicht bitter. Sondern verweist darauf, dass Menschen in ihrer Freizeit ins Theater gehen. Und dort Unterhaltung erwarten. Was keinesfalls ausschließt, dass sie dort mit Kunst oder kritischen Aussagen konfrontiert werden. Brauneck plädiert dafür, das Theater nicht mit Erwartungen zu überfrachten, die es nicht erfüllen kann. Weise Worte, die wir lesen sollten.