Manfred Spitzer: Einsamkeit. Die unerkannte Krankheit
Droemer & Knaur Verlag, München 2018
19,99 Euro
Schon in der Kindheit vorbeugen mit Sport und Musik
Immer mehr Menschen klagen über Einsamkeitsgefühle. Der Psychiater Manfred Spitzer widmet sich in seinem neuen Buch nicht nur dieser Zustandsbeschreibung, sondern macht auch Vorschläge, wie Menschen sich davor schützen können und wie man Betroffenen helfen kann.
"Ich denke mir, es ist einfach so, wenn man die Daten mal sich zusammennimmt, dass Einsamkeit tatsächlich schmerzhaft ist, wie 2003 erstmals herausgefunden wurde, dass sie ansteckend ist, wie 2009 zum ersten Mal herausgefunden wurde, und dass sie wirklich die Todesursache Nummer eins in der westlichen Welt darstellt", sagte der Psychiater Manfred Spitzer im Deutschlandfunk Kultur. Sein Buch "Einsamkeit. Die unerkannte Krankheit" widmet sich diesem Phänomen und gibt auch Ratschläge, wie es sich vorbeugen lässt.
Frühe Gegenmaßnahmen
Schon Kinder und Jugendliche könnten frühzeitig gegen spätere Einsamkeitsphasen immunisiert werden, sagte der Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik Ulm.
"Es gibt viele Dinge, die machen Menschen Spaß – Sport machen, Musik machen, was gemeinsam herzustellen oder irgendwas herstellen oder Theater spielen." All diese Tätigkeiten machten gemeinsam noch viel mehr Spaß als alleine.
Freude an Sport und Musik
"Wenn man also einem Kind eine Sportart mitgibt, weil es eben im Fußball- oder im Basketballverein war, ein Musikinstrument beigebracht hat, vielleicht sogar noch eine zweite Fremdsprache, in der er sich auch gut unterhalten kann, dann hat es Kompetenzen, Fähigkeiten, die hat es sein Leben lang, und die werden letztlich dafür sorgen, dass es mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit im Alter einsam ist als jemand, der diese Fähigkeiten nicht hat."
Spitzer kritisierte das in den Schulen ausgerechnet Fächer wie Sport und Musik gestrichen würden. Dabei sei es wichtig, darüber zu sprechen, was Kindern gut tue, und zwar ein Leben lang.
Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Ich wage jetzt mal eine Behauptung, ohne empirische Daten vorlegen zu können. Ich bin mir ziemlich sicher, dass absolut jeder von uns, jeder von Ihnen, der jetzt zuhört, schon mal Erfahrungen mit Einsamkeit gemacht hat, wenn man ehrlich ist, auch persönlich, auf jeden Fall aber in Form von Menschen, die man getroffen hat und denen man diese Einsamkeit regelrecht angesehen hat. Wenn Phasen der Einsamkeit nicht lange andauern, dann muss das nicht unbedingt ein Problem sein. Längere Phasen allerdings können weitreichende Folgen haben, körperlich und seelisch. Der Psychiater und Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik Ulm, Martin Spitzer, spricht deshalb in seinem gleichnamigen, neuen Buch sogar von der Einsamkeit als unerkannter Krankheit. Schönen guten Morgen, Herr Spitzer!
Manfred Spitzer: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Dass Einsamkeit Folgeerkrankungen verursachen kann, körperliche, das hat mich nicht überrascht, das belegen Sie ja auch in Ihrem Buch ganz gut. Aber warum ist die Einsamkeit an sich für Sie schon wirklich eine Krankheit?
Spitzer: Ich denke mir, es ist einfach so, wenn man die Daten mal sich zusammennimmt, dass Einsamkeit tatsächlich schmerzhaft ist, wie 2003 erstmals herausgefunden wurde, dass sie ansteckend ist, wie 2009 zum ersten Mal herausgefunden wurde, und dass sie wirklich die Todesursache Nummer eins in der westlichen Welt darstellt, was uns alle, also viele, die sich damit beschäftigen, richtig umgehauen hat – zwei große Studien, eine 2010, eine 2015 haben das gezeigt –, dann ist die Frage, warum soll ich hier nicht von einer Krankheit reden? Zumal man ja auch den Mechanismus kennt.
Wer sich also einsam fühlt, und das hat man zum Beispiel ganz simpel gemessen, man fragt einfach: Der letzte, den du getroffen hast, könntest du bei dem nachts um drei klingeln? Wenn man das 25 mal jemanden fragt, einfach so über zwei Wochen verteilt, und der sagt immer, ja, ja, doch, könnte ich, dann hat der offenbar – fühlt der sich gut aufgehoben in seiner Gemeinschaft. Und wer sagt, nein, also wirklich nicht, der hat eine Gemeinschaft, der kennt auch Leute, aber fühlt sich da nicht so gut aufgehoben. Und jetzt weiß man, dass das mit – wenn man dann den Stresshormonspiegel misst, dann findet man, der, der sich gut aufgehoben fühlt, der hat einen geringeren Stresshormonspiegel als der andere, der sich nicht aufgehoben fühlt. Und chronischer Stress ist Killer Nummer eins auf verschiedene Weise.
Einsamkeit als Gefühl
Kassel: Aber gerade dieses Beispiel, kennt man jemanden, bei dem man nachts um drei klingeln könnte – ich finde, da stellen sich ganz viele Fragen. Die eine ist natürlich, wie geht man auf Menschen zu? Denn ich kenne Menschen, die würden sich niemals trauen, auch in großer Not, das zu tun. Und die andere Frage ist, na ja, man kann nur sich auf jemanden so sehr verlassen, dass man ihm eine solche Hilfeanfrage zumuten kann, wenn das wirklich ein Freund ist. Und Freundschaften muss man aufbauen, und man muss sie aber im Lauf der Zeit auch immer wieder pflegen.
Spitzer: Richtig, genau darum geht es, dass wir … Also zunächst mal muss man, richtig, das Gefühl der Einsamkeit unterscheiden von der tatsächlichen sozialen Isolation. Und es gibt eben Leute, die sind dauernd unter Leuten, fühlen sich aber einsam. Und das ist das, was so pathologisch an dem Gefühl ist: Es kann auch auftreten, wenn eigentlich gar kein Grund da ist. Umgekehrt gibt es Leute, die sind gern allein, die suchen auch das Alleinsein auf. Die Einsamkeit, die sucht man eigentlich nicht, weil die ist immer, zumindest so, wie sie wissenschaftlich betrachtet wird, unangenehm, weil sie eben mit Schmerzen einhergeht, und das will keiner.
Kassel: Aber ich frage mich trotzdem, kann man sich auf eine gewisse Art und Weise vorbereiten? Nehmen wir mal eine klassische Situation, in der es sehr häufig dann zu Einsamkeit kommt. Man war verheiratet, hatte Kinder, der Partner stirbt, und man lebt allein in der Wohnung, und die Kinder leben vielleicht 300, 400 Kilometer weit weg. Viele Menschen werden dann einsam, nicht alle. Da habe ich immer, ich merke das auch im eigenen Freundeskreis, das Gefühl, auf eine gewisse Art und Weise kann man sich auf so was vorbereiten, indem man eben darauf achtet, dass zum Beispiel der eigene Partner nicht der einzige soziale Kontakt ist, den man hat, auch schon, solange er noch lebt.
Spitzer: Ja, das ist völlig richtig. Die meisten Menschen haben ja auch Gott sei Dank ein soziales Netzwerk, das weit über den Partner hinausgeht. Wenn man tatsächlich da sehr eng ist in der Weite des sozialen Netzwerks, dann lebt man in der Hinsicht gefährlicher. Es ist Gott sei Dank so, dass keineswegs jeder ältere Mensch automatisch einsam ist, wenn der Partner wegstirbt. Gott sei Dank ist das nicht so. Es sind ja vor allem die Frauen, denen die Männer wegsterben, weil die Männer einfach früher, sechs Jahre im Mittel früher sterben als die Frauen.
Aber Frauen sind ja auch sozial, ich sag mal kompetenter als Männer, weswegen sie mehr Ressourcen haben, eben dann mit anderen Frauen sich zusammenzutun. Aber Sie haben völlig recht, es ist natürlich sehr gut, wenn das schon vorher passiert. Man kann das noch weitertreiben. Kann man denn Kinder oder Jugendliche schon gegen spätere Einsamkeitsphasen in gewisser Weise immunisieren? Und die Antwort heißt tatsächlich ja, denn es gibt viele Dinge, die machen Menschen Spaß – Sport machen, Musik machen, was gemeinsam herzustellen oder irgendwas herstellen oder Theater spielen.
All diese Tätigkeiten machen gemeinsam noch viel mehr Spaß als allein. Wenn man also einem Kind eine Sportart mitgibt, weil es eben im Fußball- oder im Basketballverein war, ein Musikinstrument beigebracht hat, vielleicht sogar noch eine zweite Fremdsprache, in der er sich auch gut unterhalten kann, dann hat es Kompetenzen, Fähigkeiten, die hat es sein Leben lang, und die werden letztlich dafür sorgen, dass es mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit im Alter einsam ist als jemand, der diese Fähigkeiten nicht hat. Und ich sage das ganz bewusst, weil das sind ja die Schulfächer, die gestrichen werden, und nicht die, die wir voranbringen wollen. Und deswegen ist es mir so wichtig, darüber zu sprechen, was Kindern gut tut, und zwar ein Leben lang.
Ehrenamt als Selbsthilfe
Kassel: Aber das ist Vorbeugung, was Sie gerade erwähnt haben. Aber was ist, wenn die Krankheit schon aufgetreten ist? Ich meine, wir wissen alle, was wir so im Alltag tun, wenn wir einem einsamen Menschen begegnen. Wir schlagen ihm vor, in einen Kirchenchor einzutreten, Kegeln zu gehen oder mal mit seinen Nachbarn zu reden, und Sie beschreiben das auch selbst in Ihrem Buch. Das ist gut gemeint, aber bringt in der Regel nichts. Was aber bringt denn dann was?
Spitzer: Zunächst mal eben nicht auf die Schulter klopfen und sagen, geh doch mal wieder unter Leute, weil das ist etwa so, wie wenn man einem Rollstuhlfahrer auf die Schulter klopft und sagt, steh doch mal auf. Genau das geht ja nicht, das ist ja der Punkt. Und ich glaube, wichtig ist, dass man klar sagen muss, jeder Mensch muss dann letztlich den ersten Schritt selbst gehen. Man kann ein bisschen Hilfestellung leisten.
Du bist wichtig, kann man zu jemandem sagen, und deswegen tu doch was für andere, das kannst du auf jeden Fall. Denn viele einsame Menschen haben auch, wie wir sagen, Kognitionen, also Gedanken entwickelt, die sie davon abhalten, auf andere zuzugehen. Ich bin doch eh nichts wert, ich gehe anderen auf den Geist, und all solche Dinge. Der Witz ist, wenn man eben sagt, hilf anderen, bewirb dich irgendwo bei einer Tafel oder so. Und wenn man jemandem, der hungrig ist, einen Teller Suppe hinstellt, dann ist klar, man geht dem nicht auf den Geist. Der lächelt vielleicht zurück und bedankt sich auch noch. Und das sind Erlebnisse, die dem, der hilft – und es gibt in Deutschland … Ein Viertel der Bevölkerung macht ein Ehrenamt, und die wissen alle, warum. Weil es ist eine sehr befriedigende und ein sehr positives Erlebnis, wenn man jemandem hilft, und zwar für einen selbst. Und so kann man – das ist ein Weg aus der Einsamkeit heraus.
Staatssekretärin gegen Einsamkeit
Kassel: Wir haben heute Morgen darüber berichtet, mir war das vorher nicht klar, dass es in Großbritannien inzwischen eine Staatssekretärin gibt, das ist da eigentlich wie bei uns so das nächste unterhalb dem Minister, also eine Staatssekretärin, die zuständig ist für die Bekämpfung der Einsamkeit. Das ist erst mal plakativ, das macht Schlagzeilen, aber halten Sie so was für sinnvoll, staatliche Programme gegen Einsamkeit.
Spitzer: Zunächst muss man sagen, das sind sicherlich staatliche Programme gegen soziale Isolation. Einsamkeit ist ein subjektives Erleben, da möchte ich keinen Minister, der sich um meine subjektiven Gefühle kümmert. Aber ich glaube schon, dass staatliche Stellen hier nicht nur eine Alibifunktion haben nach dem Motto, wir kümmern uns drum, sondern man kann jemanden haben, der dafür sorgt, dass man zum Beispiel Mehrgenerationenhäuser baut statt Kindergärten und Altenheime. Wenn man das erst mal ein bisschen klarer sieht und eben in Beton nicht die Trennung gießt, sondern in Beton die Gemeinschaft gießt und dann automatisch Kinder bei Älteren sind und umgekehrt, und ihnen wird vorgelesen und man hat Gemeinschaft – die tun sich gegenseitig sehr gut. Und das kann man eben sozusagen baulich verfestigen. Und da gibt es eine ganze Reihe von Dingen, die man da machen kann. Und ich glaube, deswegen ist sozusagen jemand, der sich darum speziell kümmert und dann eben auch Programme entwirft und die Gedanken noch hoch hält, wach hält, das ist sicher eine vernünftige Sache, weswegen ja die GroKo etwas Ähnliches jetzt auch vor hat.
Kassel: Manfred Spitzer über ein großes Thema unserer Gesellschaft und das Thema seines neuen Buchs. Das Buch trägt den Titel "Einsamkeit. Die unerkannte Krankheit" und ist im Droemer-Verlag erschienen. Herr Spitzer, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch und wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!
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