Reis allein reicht nicht
Nicht nur Hunger und Unterernährung sind ein Problem in Indien und Bangladesch, sondern auch eine Mangelernährung. In Südasien ist die Mehrheit der Kinder davon betroffen. Das liegt auch am Mangel an Aufklärung über gesunde Ernährung.
Badatoli, ein Dorf aus strohbedeckten Bambushütten im Süden von Bangladesch. In der Grundschule des Dorfes deutet Schulleiterin Sumea Nasrin auf einige still in der Bank sitzende Kinder – Kinder mit leerem Blick, viel zu klein für ihr Alter.
"Um diese Kinder mache ich mir große Sorgen. Ständig sind sie müde. Sie können sich nicht konzentrieren und verstehen fast nichts von dem, was wir ihnen erklären. Bei mindestens 20 unserer 200 Kinder sieht es ähnlich aus. Und noch viel mehr solcher Kinder leben versteckt irgendwo im Dorf. Ihre Eltern schicken sie gar nicht erst zur Schule, weil sie es für sinnlos halten."
Die Sorgenkinder der Grundschule in Badatoli leiden an chronischer Mangelernährung; sie sind stunted – erklärt der Kinderarzt und Ernährungsexperte Professor Michael Krawinkel.
"Bei dem Zurückbleiben des Längenwachstums, dass wir mit diesem Begriff stunting ausdrücken, handelt es sich darum, dass die Kinder chronisch entweder zu wenig Nahrungsenergie und Eiweiß bekommen oder aber, dass bestimmte Spurenelemente wie Kupfer und Zink nicht ausreichend aufgenommen werden."
Diese Kinder sind stark beeinträchtigt in ihrer Entwicklung und höchst anfällig für Infektionskrankheiten; sie bleiben zeitlebens kleiner als andere Menschen; sie lernen später laufen und sprechen – erklärt in Dhaka Professor Tahmeed Ahmed, Leiter des "internationalen Zentrums für Durchfallforschung".
"Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass "stunting" sehr stark auch die Gehirnentwicklung betroffener Kinder beeinträchtigt. Sie versagen in der Schule, weil es ihnen an kognitiven Fähigkeiten fehlt. Auch als Erwachsene werden sie Probleme haben, Dinge zu verstehen. Sie werden deshalb deutlich weniger als andere Menschen zur Entwicklung unseres Landes beitragen können."
Millionen Bangladeschis seien de facto behindert, weil Regierungen und Entwicklungspolitiker jahrzehntelang weggeschaut haben – meint Professor Ahmed.
Auf allen bebaubaren Flächen: Reis
Eine Ursache der verbreiteten Mangelernährung in Bangladesch springt dem Besucher sofort ins Auge. Auf fast allen bebaubaren Flächen steht Reis, nichts als Reis. Gemüsefelder, Obstbäume, Rinder, Ziegen und Hühner sind dagegen nur vereinzelt zu sehen.
Für die Konzentration der Landwirtschaft auf den Reisanbau gibt es gute Gründe: Bis vor 30 Jahren erlebte Bangladesch immer wieder Hungersnöte; heute kann das kleine Land mit einer Fläche von gerade zweimal Bayern seine 160 Millionen Menschen selbst mit dem Grundnahrungsmittel Reis versorgen. Durch hocheffizienten Reisanbau ernten viele Bauern dreimal im Jahr. Reissicherheit jedoch sei keine Ernährungssicherheit, sagt Sukanta Sen, Leiter einer lokalen Hilfsorganisation. Es fehle den Menschen an Proteinen und Spurenelementen. Für einen Liter Milch, zum Beispiel, muss ein Bauer fast einen Tag lang arbeiten.
"Immer weniger Kleinbauern halten Rinder und Kühe, weil es ihnen an Futter fehlt. Freie Gemeinflächen, auf denen die Kühe grasen können, gibt es kaum mehr. Und weil der heute angebaute Hochertragsreis kürzere Halme hat als traditionelle Reissorten, haben die Bauern auch weniger Stroh."
Auch Hühnerfleisch ist knapp. Seit die Bauern zur Zeit der Vogelgrippe vor einigen Jahren ihre Hühner keulen mussten, scheuen sie das Federvieh wie der Teufel das Weihwasser. Und: immer weniger Fische tummeln sich in Bangladeschs Flüssen, Teichen und Reisfeldern. Denn die Flüsse versanden, weil, zum Schutz des Reisanbaus vor Fluten, tausende Dämme und Deiche das Land durchziehen; Außerdem wurden zahlreiche zuvor öffentliche Teiche privatisiert. Dort betreiben jetzt kommerzielle Unternehmen Aquakultur für den Konsum der Wohlhabenden und für den Export.
"Fast alle Teiche gehören wohlhabenderen Leuten, die deren Fische für sich beanspruchen. Sicher, unsere Regierung sagt, dass vorrangig arme Fischer bei der Vergabe von Fischerei-Lizenzen berücksichtigt werden sollen. Tatsächlich aber schauen die Fischer in die Röhre."
Nicht zuletzt, klagt Sukanta Sen, habe die grassierende Privatisierung auch öffentliche Landflächen erfasst, wo sich früher Millionen Arme mit wild wachsendem Obst und Gemüse versorgten. Obst und Gemüse werden deshalb immer teurer. Armut und der immer stärker eingeschränkte Zugang zu früher öffentlichen Ressourcen sind die wohl wichtigste Ursache für Mangelernährung in Bangladesch.
Zum Vergleich ein Blick auf das Nachbarland Indien. An einer Kreuzung im Norden New Delhis verkauft der weißbärtige Suresmal Bananen, das Dutzend zu 60 Rupien, 75 Euro-Cent. Das Kilo Papaya kostet 50 Euro-Cent, das Kilo Mangos einen Euro. Stolze Preise für Indien.
Die meisten seiner Kunden kämen aus dem Reichenviertel dort drüben, sagt denn auch Suresmal und deutet auf gepflegte Mietshäuser inmitten von Bäumen. Auf der anderen Straßenseite liegt Pilanji – schäbige, achtstöckige Mietskasernen, in denen Tagelöhnerfamilien wohnen. Die kauften selten Gemüse, sagt Suresmal, höchstens mal Zwiebeln zu 25 Rupien das Kilo. Auch die in Indien sehr beliebten Kürbisse oder Okra, ein aus Ostafrika stammendes Gemüse, leisten sich Bewohner von Pilanji selten.
Wenig Zeit und Raum zum Kochen
Am Nachbarstand qualmt es: Kashmira Begum, deren blauer Sari vor Fettflecken starrt, brät in schwarzem Öl Khasta kachori – traditionelle Küchlein, gefüllt mit Kartoffeln und Curry. Zwei achtjährige Jungen essen sich satt mit den Küchlein – für je 15 Rupien, weniger als 20 Euro-Cent. Khasta kachori füllen den Bauch billiger als Obst und Gemüse. Das Problem: Sie enthalten, außer reichlich Kalorien, kaum Nährstoffe,
600 Millionen Inder leben in miserablen, oft feuchten Verschlägen; ohne Toiletten und sauberes Wasser; unter stetem Druck, das Überlebensnotwendige irgendwie zu erarbeiten. Unter anderem deshalb nehmen sich immer weniger Inder Zeit zum Kochen. Immer seltener essen sie raffiniert gewürztes Curry mit Strauch- und Kichererbsen mit viel Gemüse, immer öfter Fettig-Süßes vom Straßenhändler.
Eine Grundschule außerhalb der Stadt Aurangabad im indischen Bundesstaat Rajasthan. Ein Lied noch singen die Kinder mit Kalpana, ihrer jungen Lehrerin im gelb-grauen Sari.
Dann heißt es "Hände waschen"; geduldig bilden die sieben, acht Jahre alten Jungen und Mädchen eine Schlange in blau-weiß karierten Blusen – während die streng blickende Schulleiterin Sarala Indapuri Kelle um Kelle currygelben Eintopfs in silbrig glänzende Blechteller füllt.
"Die Kinder sind vormittags zwischen acht und eins bei uns. Zum Frühstück bekommen Sie, zum Beispiel, Poha, Reis mit Zwiebeln, Chili Koriander und Curry; oder Upama, eine Zubereitung aus Weizenmehl und Gemüse. Mittags gibt es Hülsenfrüchte und Reis."
Das Mittagessen an dieser Schule und für insgesamt 300 Millionen indische Kinder wird vom staatlichen Kinderdienst finanziert, berichtet Sarala Indapuri. Der Staat versuche damit sicherzustellen, dass Indiens Kinder zumindest eine warme Mahlzeit täglich erhalten.
Gutes Ziel, katastrophale Umsetzung
Das Ziel sei gut, die Umsetzung in der Regel jedoch katastrophal, kritisiert in Neu-Delhi Jee Rah, eine koreanische Ernährungsexpertin, die für das UN-Kinderhilfswerk UNICEF arbeitet. Die meisten warmen Schulmahlzeiten seien ähnlich wertlos wie das auf der Straße verkaufte Essen: Die Ernährung der Armen Indiens bedürfe dringend der Modernisierung, fordert deshalb die UNICEF-Mitarbeiterin. Nur so könne man der verbreiteten Mangelernährung begegnen.
"Vor kurzem habe ich in Hyderabad eine Fabrik mit dem Namen "Telangana Foods" besucht. Diese Fabrik produziert Nahrungsmittel, die man praktisch ohne Zubereitung konsumieren kann: Cracker, angereichert mit etlichen Mikronährstoffen. Diese Cracker wären ideal für Vorschulkinder, die vom Kinderdienst betreut werden. Die Kinder bekämen ein äußerst schmackhaftes Produkt, das bei der Bevölkerung beliebt ist und zugleich alle wichtigen Mikronährstoffe enthält."
Ganz anders denkt Biraj Patnaik, Leiter der Bürgerrechtsorganisation "Kampagne für das Recht auf Nahrung". Der kleine, bescheiden auftretende Mann, der ständig unter Strom zu stehen scheint, hat dazu beigetragen, einiges in Indien durchzusetzen: ein Gesetz, das den 800 Millionen Armen des Landes je fünf Kilo Getreide monatlich zu einem Zehntel des Marktpreises garantiert; ein Gesetz, das das Ernährungsprogramm des staatlichen Kinderdienstes auf ganz Indien ausdehnt.
Von diesen Leistungen im Wert von zig Milliarden Euro wolle auch die nationale wie internationale Nahrungsmittelindustrie profitieren, sagt Patnaik. Wie UNICEF wolle die Industrie die noch überwiegend traditionelle Ernährung der Inder verändern. Und wie UNICEF nenne die Industrie diese Veränderung "Modernisierung".
"Vor einigen Jahren unternahm der Verband der indischen Kekshersteller einen groß angelegten Versuch, das Mittagessen an unseren Schulen grundlegend zu ändern. Unter Führung von Vinita Bali, der Chefin des Britannia-Konzerns, gewann man fast 50 Parlamentsabgeordnete dafür, einen Brief an das Bildungsministerium zu schreiben.
Das frisch gekochte Mittagessen an Indiens Schulen sollte ersetzt werden durch ein Päckchen mit Vitaminen und Mineralstoffen angereicherter Kekse, hieß es in dem Brief. Das traditionelle Schulmittagessen sei schlecht; immer wieder erlitten Kinder durch verdorbenen Reis und verfaultes Gemüse Lebensmittelvergiftungen; man könne den Kindern die nötigen Kalorien und Nährstoffe viel besser in einem hygienisch verpackten Kekspäckchen verabreichen."
Nur ausgewogene Ernährung liefert Vitamine
Wären die Kekshersteller erfolgreich gewesen mit Ihrem Vorschlag, hätte das ihren Umsatz vervielfacht, erklärt Biraj Patnaik. Nur energischer Protest der "Kampagne für das Recht auf Nahrung", vieler Wissenschaftler und Politiker habe die Keksinitiative gestoppt und Indien davor bewahrt, diesen Weg einzuschlagen.
"Das Problem der Ernährung wird zu einem medizinisch-technischen Problem gemacht, obwohl es sich eigentlich um ein politisches Problem handelt. Und für das technische Problem propagiert man technische Lösungen. Tatsächlich aber geht es bei Ernährung um den Kampf gegen Armut, um Politik und Kultur, Geschmack und Geruch; es geht auch um Kontrolle. Wer kontrolliert unsere Nahrung? Und wie wird sie produziert?"
Künstliche Vitamine und Mineralstoffe würden nicht umsonst auch Nutrazeutika genannt, sagt Patnaik. Es handle sich um Medikamente, die man nur gezielt und begrenzt verabreichen dürfe: jodiertes Speisesalz an die Bevölkerung in Jod-Mangelgebieten; Eisenpräparate an anämische Frauen; Vitamin A-Präparate an Kleinkinder schwer mangelernährter Familien. Für den Einsatz mit der Streubüchse dagegen seien Nutrazeutika nicht geeignet.
Der menschliche Körper verwerte sie nicht richtig; und angereicherte Nahrungsmittel enthielten höchstens 15 oder 20 Spurenelemente; der Mensch aber brauche Hunderte, die er nur aus ausgewogener Ernährung gewinnen könne. Kurz, der Kampf gegen Mangelernährung sei ein Kampf für ausgewogene Ernährung, wenngleich dieser Kampf langwierig und mühsam sei. Man müsse Armut und Stress der Menschen lindern; ihnen Zugang verschaffen zu Toiletten und sauberem Wasser, zu Bildung; man müsse die fürs Essen der Familie verantwortlichen Frauen stärken.
Ernährung aus der Pillendose
Ähnlich argumentiert im Dorf Badatoli in Bangladesch Erica Roy Khetran. Sie ist Mitarbeiterin der amerikanischen Hilfsorganisation "Helen Keller International", die sich auf Ernährungsfragen spezialisiert hat. Bei vielen in Bangladesch arbeitenden Hilfsorganisationen würden Nutrazeutika immer beliebter – erzählt Roy Khetran. Die Ernährungshilfe aus der Pillendose lasse sich, in großem Stil, schnell und unkompliziert einsetzen. 80 Prozent der Kinder unter fünf Jahren, zum Beispiel, bekommen halbjährlich Kapseln mit Vitamin A. Eigentlich eine Überbrückungsmaßnahme, meint Erica Roy Khetran.
"Wir wollten Vitamin A-Kapseln nie zu einem festen Bestandteil der Gesundheitsversorgung zu machen. Wir wollten nur die Kinder hier vor Mangelerkrankungen schützen, solange es keine Ernährungssicherheit gab. Heute haben diese Kinder vordergründig Ernährungssicherheit; aber sie essen nicht das Richtige. Sie leiden nach wie vor unter einem eklatanten Mangel an Mikronährstoffen."
...und sind oft abhängig von synthetischen Nährstoffen wie der Junkie von der Nadel – von Zinktabletten, Eisen- und Vitaminpräparaten.
Künstliche Nahrungsergänzung jedoch kuriere nur einzelne Symptome des Mangels, meint Erica Roy Khetran. Ein nachhaltiger Kampf gegen Mangelernährung könne nur das Ziel haben, dass sich die Bevölkerung Bangladeschs aus eigener Kraft gesund ernährt. Die Bauern müssten, neben Reis, viele andere Nahrungsmittel produzieren; die Regierung müsse das mit gezielten Subventionen fördern; sie müsse die Rinder-, Milch- und Hühnerproduktion ankurbeln und – soweit nötig – den Import wichtiger Nahrungsmittel. Hinzu komme die Aufklärung der Menschen, die einfach zu wenig wüssten über gesunde Ernährung.
"Es wäre falsch zu denken, dass wir Armut völlig überwinden müssen, um gegen Mangelernährung erfolgreich zu sein. Die meisten Haushalte in Bangladesch können schon mit den Mitteln, die sie haben, die Ernährung ihrer Mütter und Kinder dramatisch verbessern. Sie müssen nur in Schlüsselbereichen ihr Verhalten ändern."