Mangelernährung in Deutschland

Wenn der Staat Übergewicht fördert

29:41 Minuten
Eine Portion des Fastfood Klassikers Pommes frites.
Ein Fastfood Klassiker: Pommes. Lecker, aber leider nicht gesund. © unsplash / JC Gellidon
Martin Rücker im Gespräch mit Susanne Führer |
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Es ist billiger, sich ungesund als gesund zu ernähren, sagt Fachjournalist Martin Rücker. Millionen Menschen in Deutschland seien mangelernährt und übergewichtig zugleich. Besonders treffe es die wirtschaftlich Schwachen. Die Politik müsse gegensteuern.
In Deutschland enthält eine Fanta Orange 7,6 g Zucker auf 100 ml, in Großbritannien nur 4,6 g. Das liegt daran, dass es in Großbritannien eine Zuckersteuer gibt, in Deutschland aber nicht. Das Beispiel zeigt, dass Rezepturen geändert werden, wenn es sich finanziell lohnt.
"Die Aufgabe des Staates ist natürlich nicht, den Menschen zu sagen, was sie essen sollen, sondern, dort zu steuern, wo wir sehen, es gibt Fehlentwicklungen", sagt der Fachjournalist für Ernährung und Lebensmittel Martin Rücker.

Wenn es leichter ist, sich ungesund als gesund zu ernähren, dann läuft hier etwas schief. Wenn das Budget fehlt für eine gesunde Ernährung der Kinder, dann läuft hier etwas schief.

Martin Rücker

Er hält es für skandalös, dass einkommensschwache Familien nicht die finanziellen Möglichkeiten haben, sich gesundheitsfördernd zu ernähren. Denn 1000 ungesunde Kalorien sind billiger als 1000 gesunde Kalorien.

Unterversorgung mit Nährstoffen

Und das hat weitreichende Folgen, sagt Rücker und zitiert eine Untersuchung aus Brandenburg, welche die über Jahre gesammelten Daten der Schuleingangsuntersuchungen ausgewertet hat:

Man hat festgestellt, dass Kinder aus einkommensschwachen Familien signifikant kleiner waren und auch in der geistigen Leistungsfähigkeit weiter zurück waren. Die Forscher, die daran beteiligt waren, führen das im Wesentlichen auch darauf zurück, dass es hier eine Unterversorgung mit wichtigen Nährstoffen gibt.

Martin Rücker

Auch bei den Erwachsenen ist der Zusammenhang zwischen Wohlstand beziehungsweise Armut und Gesundheit schon lange bekannt: Je ärmer, desto weniger gesund und desto geringer die Lebenserwartung. Insgesamt steigen seit Jahren die Zahl der Übergewichtigen wie die der Diabetiker.

Staatliches Armutsförderprogramm

„Wirklich schlimm finde ich, dass wir uns bei der Festsetzung der Regelsätze (für Hartz IV) noch nicht einmal die Mühe machen festzustellen: Wie groß ist der Geldbedarf für eine gesunde Ernährung?“, sagt Martin Rücker.
Stattdessen wird nur erhoben, wie viel einkommensschwache Menschen für Ernährung in der Vergangenheit ausgegeben haben. Da sie aber gar nicht die Mittel haben, sich gesund zu ernähren, bleibt alles beim Alten. „Das ist ein Armutsförderprogramm“, resümiert der Fachjournalist.
Eine weitere Kritik des Fachjournalisten: Der Staat verkenne die Marktlogik. Die Unternehmen machten nämlich mit Junkfood mehr Gewinn als mit natürlichen Lebensmitteln. Und deswegen fließen die Werbebudgets in diesen Bereich.

Deutschland weit hinten im Kampf gegen Übergewicht

Rücker plädiert für eine Zuckersteuer und im Gegenzug für eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Obst und Gemüse. Und er schließt sich der Forderung vieler Fachgesellschaften an, Werbung für Junkfood, die sich gezielt an Kinder richtet, zu verbieten.
Doch in Deutschland tue man sich sehr schwer mit solchen Regelungen. „Man will keinen Staat, der bevormundet, selbst wenn die Bevormundung bedeutet, dass am Ende Kinder gesund ernährt werden.“ Deutschland sei im europäischen wie im internationalen Vergleich „ganz weit hinten“ bei effektiven politischen Maßnahmen gegen Übergewicht und Diabetes.
Im Koalitionsvertrag der Ampelregierung fänden sich viele Absichtserklärungen, die zwar in die richtige Richtung gingen, sagt Rücker. Aber er wisse aus den vergangenen Jahren, welchen Einfluss die Zuckerlobby ausüben könne. Und in der Ampel gebe es sehr verschiedene Vorstellungen über die Rolle des Staates. Er bleibt daher, sagt Rücker, „verhalten pessimistisch“. (sf)

Martin Rücker ist Journalist und Autor, er war mehrere Jahre Pressechef und anschließend Geschäftsführer der Verbraucher-Organisation food watch. Soeben ist sein Buch erschienen „Ihr macht uns krank. Die fatalen Folgen deutscher Ernährungspolitik und die Macht der Lebensmittellobby“ (Econ Verlag).

Martin Rücker trägt das Haar nach hinten gefönt und Dreitagebart. Er hat einen dunklen Anzug an, ein helles Hemd und eine helle Krawatte.
© imago / photothek / Inga Kjer
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