Manifest für die, die sonst keine Stimme haben
Jean-Marie Gustave Le Clézios erstes Buch nach der Verleihung des Literaturnobelpreises hat viele Kritiker enttäuscht - zu hoch waren wohl die Erwartungen. Doch Rezensentin Dina Netz widerspricht: Sie hat einfühlsame Geschichten in schönen Worten gelesen.
Dem Literaturnobelpreis haftet der Ruf eines "Kreativitäts-Sedativums" an, weil viele gekürte Autorinnen und Autoren nach der Verleihung kaum noch etwas Neues hervorbringen. Entsprechend gespannt ist das erste Buch erwartet worden, das Jean-Marie Gustave Le Clézio nach dem Nobelpreis veröffentlicht hat und das jetzt auf Deutsch vorliegt: "Der Yama-Baum und andere Geschichten". Viele Kritiker in Frankreich und bei uns sind enttäuscht, vielleicht ob der hochgesteckten Erwartungen. Dabei gibt es dafür keinen Grund.
In seinem Nachwort vergleicht Jean-Marie Gustave Le Clézio das Schreiben mit einer Fahrt in der Métro, da sei das Unvorhersehbare, "die Erschütterungen, der Rhythmus, die Begegnungen". Und solche Begegnungen verschafft Le Clézio sich und seinen Lesern in diesem Erzählband. Die Begegnung zum Beispiel mit Ujine in Paris, deren Geliebter sich entzieht. Sie bringt das gemeinsame Kind zur Welt, obwohl sie begriffen hat: "Das Leben ist unbeständig wie die Wolken, die über sie herziehen, wie das Meer, das das Geräusch von rieselndem Sand hervorbringt."
Diese "Geschichte vom Fuß" eröffnet den Band, sie ist die längste und vergleichsweise banal. Was sicher damit zu tun hat, dass Ujines Liebesleiden einen eher kalt lässt (auch wenn Ujines Gefühle meisterlich beschrieben sind) – Warum gibt sie diesem Mann, der sich nicht zu ihr bekennt, nicht einfach den Laufpass?
Die folgende Geschichte "Barsa oder barsaq" ist substantieller: Le Clézio erzählt von Watson und Fatou, die auf einer Insel vor Afrika leben. Watson will nach Spanien gehen, um zu Geld zu kommen und Fatou ein besseres Leben zu ermöglichen. Sie antwortet ihm lebensklug: "Was soll denn da besser sein, stirbt man da nicht?" Er geht trotzdem, um am Ende muss Fatou sie beide retten.
Frauen, die ihren Kontakt zum Ursprünglichen, zum Elementaren nicht verloren haben und deshalb noch die schlimmsten Krisen meistern, gibt es viele in diesem Buch. Die Männer hingegen entpuppen sich nicht selten als Schufte. Ganz so eindimensional schildert Le Clézio die Geschlechter-Dichotomie natürlich nicht, aber seine Sympathie liegt eindeutig bei den Frauen. Die eigentliche Hauptrolle spielen jedoch die Naturgewalten und die mystischen Kräfte. Seine Figuren haben ein Gespür dafür, und daraus erwächst ihre Stärke.
Le Clézios Geschichten sind niemals simpel oder kitschig, wie ihm manchmal vorgeworfen wird. Natürlich sind seine Bücher immer auch Manifeste für die, die sonst keine Stimme haben – und zwar vor allem in den entlegeneren Gegenden der Welt. Aber Le Clézios Bücher sind keine Sozialreportagen, sondern hochpoetische Literatur. Zum Beispiel kann er mehrere Seiten lang witzig und klug über die Einsamkeit des großen Zehs philosophieren, in vor Schönheit funkelnden Worten.
Le Clézio beschreibt Welten, die aus den Fugen geraten. Seine Figuren sammeln die Einzelteile in riesigen Kraftanstrengungen wieder ein. Den Kitt liefert ihr Autor mit seinem Vertrauen in sie und dem ruhigen Fluss seiner Sprache.
Besprochen von Dina Netz
In seinem Nachwort vergleicht Jean-Marie Gustave Le Clézio das Schreiben mit einer Fahrt in der Métro, da sei das Unvorhersehbare, "die Erschütterungen, der Rhythmus, die Begegnungen". Und solche Begegnungen verschafft Le Clézio sich und seinen Lesern in diesem Erzählband. Die Begegnung zum Beispiel mit Ujine in Paris, deren Geliebter sich entzieht. Sie bringt das gemeinsame Kind zur Welt, obwohl sie begriffen hat: "Das Leben ist unbeständig wie die Wolken, die über sie herziehen, wie das Meer, das das Geräusch von rieselndem Sand hervorbringt."
Diese "Geschichte vom Fuß" eröffnet den Band, sie ist die längste und vergleichsweise banal. Was sicher damit zu tun hat, dass Ujines Liebesleiden einen eher kalt lässt (auch wenn Ujines Gefühle meisterlich beschrieben sind) – Warum gibt sie diesem Mann, der sich nicht zu ihr bekennt, nicht einfach den Laufpass?
Die folgende Geschichte "Barsa oder barsaq" ist substantieller: Le Clézio erzählt von Watson und Fatou, die auf einer Insel vor Afrika leben. Watson will nach Spanien gehen, um zu Geld zu kommen und Fatou ein besseres Leben zu ermöglichen. Sie antwortet ihm lebensklug: "Was soll denn da besser sein, stirbt man da nicht?" Er geht trotzdem, um am Ende muss Fatou sie beide retten.
Frauen, die ihren Kontakt zum Ursprünglichen, zum Elementaren nicht verloren haben und deshalb noch die schlimmsten Krisen meistern, gibt es viele in diesem Buch. Die Männer hingegen entpuppen sich nicht selten als Schufte. Ganz so eindimensional schildert Le Clézio die Geschlechter-Dichotomie natürlich nicht, aber seine Sympathie liegt eindeutig bei den Frauen. Die eigentliche Hauptrolle spielen jedoch die Naturgewalten und die mystischen Kräfte. Seine Figuren haben ein Gespür dafür, und daraus erwächst ihre Stärke.
Le Clézios Geschichten sind niemals simpel oder kitschig, wie ihm manchmal vorgeworfen wird. Natürlich sind seine Bücher immer auch Manifeste für die, die sonst keine Stimme haben – und zwar vor allem in den entlegeneren Gegenden der Welt. Aber Le Clézios Bücher sind keine Sozialreportagen, sondern hochpoetische Literatur. Zum Beispiel kann er mehrere Seiten lang witzig und klug über die Einsamkeit des großen Zehs philosophieren, in vor Schönheit funkelnden Worten.
Le Clézio beschreibt Welten, die aus den Fugen geraten. Seine Figuren sammeln die Einzelteile in riesigen Kraftanstrengungen wieder ein. Den Kitt liefert ihr Autor mit seinem Vertrauen in sie und dem ruhigen Fluss seiner Sprache.
Besprochen von Dina Netz
Jean-Marie Gustave Le Clézio: Der Yama-Baum und andere Geschichten
Aus dem Französischen von Uli Wittmann
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013
362 Seiten, 19,99 Euro
Aus dem Französischen von Uli Wittmann
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013
362 Seiten, 19,99 Euro