Ann-Kristin Tlusty, geboren 1994, hat Kulturwissenschaften und Psychologie studiert. Sie arbeitet als Redakteurin bei "Zeit Online" in Berlin. Im September 2021 erschien im Hanser Verlag ihr erstes Buch „Süß. Eine feministische Kritik“.
Manifestieren
Wer positive Energie ins Universum sendet, erhält positive Energie zurück: So beschreibt Ann-Kristin Tlusty die Grundidee, auf der die Kunst des Manifestierens beruht. © Getty Images / Qi Yang
Gegen Ohnmacht hilft kein Hoffen
Auf Instagram und TikTok wird ein Esotrend wieder populär: Manifestieren heißt das Konzept, demzufolge private Wünsche mithilfe der Kraft der Gedanken wahr werden. Ein allzu verlockendes Versprechen, kommentiert die Journalistin Ann-Kristin Tlusty.
Achtsamkeit hat ausgedient, zumindest in sozialen Netzwerken. War es jahrelang das vielversprechendste Gebot der Selbsthilfeindustrie, zu akzeptieren, anstatt zu werten, wahrzunehmen, anstatt zu fühlen, deutet sich auf Instagram und TikTok nun ein neuer Trend an, der wesentlich weniger bescheiden ist.
Junge Influencerinnen werben in sozialen Netzwerken jetzt damit, das eigene Schicksal nicht länger dem Universum zu überlassen, sondern endlich unter weltliche Kontrolle zu bringen – und zwar mittels der eigenen Gedanken.
Dieses sogenannte Manifestieren betrifft letztlich die immer gleichen Wünsche: Es geht darum, einen ehemaligen Partner zurückzugewinnen, auf andere begehrenswert zu wirken, durch wenig Arbeit viel Geld zu verdienen, kurzum: um all die Dinge, die sich im Leben oftmals der eigenen Willenskraft entziehen.
Altbekanntes Konzept neu entdeckt
Sogenannte Vision Boards, Meditationen und Affirmationen sollen dabei helfen – und nehmen schnell masochistische Ausmaße an: Bei der 55-mal-5-Manifestation notiert man beispielsweise die gleiche Affirmation 55-mal hintereinander und das an fünf aufeinanderfolgenden Tagen.
Dabei handelt es sich um alten Wein in neuen Distributionskanälen: Die Idee des Manifestierens geht auf die Neugeist-Bewegung des 19. Jahrhunderts zurück. Kernkonzept war schon damals das pseudowissenschaftliche Gesetz der Anziehung, demzufolge Gleiches Gleiches anzieht: Wer positive Energie ins Universum sendet, erhält positive Energie zurück.
Wie in jeder Selbsthilfedisziplin haben auch die Manifestationsinfluencerinnen der Gegenwart fast ausnahmslos die Erzählung einer nahezu religiösen Heilungserfahrung parat: Noch vor wenigen Jahren sei man depressiv, pleite und in einer unglücklichen Beziehung gefangen gewesen, jetzt habe man die eigene Handlungsfähigkeit erkannt: das Manifestieren. Dabei handele es sich selbstverständlich nicht um Zauberei, sondern um Vorleistung.
Mit Gedanken die Wirklichkeit beeinflussen
Bei allem spirituellen Weichzeichner offenbart sich hier ein strenges Gebot: In der Formulierung "Ich will mehr Geld verdienen", heißt es in einem Video, sei schließlich noch immer die Tatsache enthalten, dass man in der Gegenwart nicht genügend auf dem Konto habe.
Besser seien Formulierungen wie "Alles, was ich anfasse, wird zu Geld" oder "Ich habe mir meinen Reichtum verdient". Manifestieren ist die spirituell überformte Version eines „Fake it till you make it“.
Sicherlich ist etwas dran an der Überzeugung, dass unsere Gedanken auf die soziale Wirklichkeit Einfluss nehmen. Als selbsterfüllende Prophezeiung bezeichnet man in der Sozialpsychologie das Phänomen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Ereignis eintritt, allein durch die Erwartung dieses Ereignisses erhöht wird.
Indem der Trend des Manifestierens behavioristisches Basiswissen mit magischem Topping und delikatem Größenwahn garniert, ist er vor allem für eine von der Pandemie desillusionierte Generation verlockend. Ihre Jugend begann mit Lockdowns und Kontaktbeschränkungen und setzt sich nun mit Inflation und Klimakrise fort.
Enorme Erwartungen an Selbstwirksamkeit
Manifestieren lässt sich jedoch auch als Ausdruck eines grundsätzlichen spätmodernen Dilemmas deuten, das die Soziologinnen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey in ihrem kürzlich erschienenen Buch „Gekränkte Freiheit“ beschreiben.
Individuen, heißt es da, "haben enorme Erwartungen an die eigene Selbstwirksamkeit – aber genau diese erfahren sie häufig nicht." Die eigene Laufbahn sei schwer kalkulierbar geworden, das politische Weltgeschehen entziehe sich vollends der eigenen Kontrolle. "Hinter dem Anspruch der Selbstwirksamkeit", schreiben Amlinger und Nachtwey, "verbirgt sich eine schleichende Ahnung der Ohnmacht."
Ohnmacht lässt sich jedoch selten durch individuelles Wunschdenken, sondern am besten gemeinsam bekämpfen. Im Französischen hat „manifestation“ eine gänzlich andere Bedeutung: Demonstration.