Ohne alle ist jeder nichts
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Keine großen Erfolge bei der Fußball-WM und in Tokio: Befinden sich die deutschen Ballsportmannschaften in der Krise? Katrin Weber-Klüver winkt ab: Man kann nicht immer erster sein. Wichtiger ist der Mannschaftsgeist - gerade in Pandemiezeiten.
Nehmen wir die deutsche Fußballnationalmannschaft der Männer: Zu Beginn des Jahrhunderts galt sie als elende Rumpelfüßler-Truppe. Absolut hoffnungslos. Und dann – kamen plötzlich ein Sommermärchen und wunderbare Jahre, bis zum Gewinn der Weltmeisterschaft 2014.
Wiederum ein Jahr später präsentierte der Deutsche Fußball-Bund ein güldenes Label für die Lieblinge der Nation: "Die Mannschaft". Es war der Anfang vom Ende, aller Zauber perdu. In der seelenlosen PR-Hülle rumpelte es wieder.
Mannschaftssport ist komplex. Mal finden Ausnahmeathleten perfekt zusammen, dann wieder fehlen Teamgeist, ein guter Trainer oder einfach Glück.
Aber auch wenn alles stimmt: Noch jede Erfolgsformel hat eine Halbwertszeit. Was man schon daran sieht, dass Deutschland zwar gelegentlich, aber nicht immer Fußballweltmeister wird. Andere Länder machen ähnliche Erfahrungen.
Dem fünften Platz jubelt keiner zu
An der ewigen Sehnsucht nach Erfolg, nach Pokalen und Medaillen ändert das nichts. Und da Begeisterung für Rang fünf dem hiesigen Sportpublikum nicht gegeben ist, war Olympia in Tokio in Sachen Mannschaftssport eine riesige Enttäuschung: keine einzige Medaille in Ballsportarten.
So ein Totalversagen hatte es zuletzt vor 25 Jahren gegeben.
Irgendeine Krise ist immer
Mangelte es in allen Teams an individueller Klasse, an Leistungsbereitschaft und Siegeswillen? Oder lag Systemversagen in Ausbildung und Auswahl vor? Möglicherweise beides. Oder beides nicht.
Tatsächlich bewegten sich die Athleten in Tokio im erwartbaren Rahmen. Die Hockeymänner spielten immerhin um Bronze. Für die Basketballer war die Qualifikation als solche ein Erfolg.
Und überhaupt: In Tokio traten fünf Ballsportteams an, zwei mehr als vor neun Jahren in London. Irgendeine Krise ist immer.
Erst im freien Spiel kommt der Erfolg
Mannschaftssport birgt spannungsreiche Widersprüche in sich. Jeder Athlet muss, ganz egoistisch, um seinen Platz kämpfen, um sich dann in eine Gruppe einzufügen. Ballsport ist immer zugleich Spiel und Wettkampf.
Die Ziele sind klar definiert – es geht um Tore, Körbe, Punkte. Aber erreichen lassen die sich nicht mit strenger Routine, sondern nur im freien Spiel. Das gilt für Profis wie für Amateure – und natürlich auch für Kinder.
Mannschaftsgeist ist nötiger denn je
Wenn sich mal kein Auswahlteam bei Olympia aufs Podest kämpft, ist das kein Drama. Es ist einfach: Sport. Schmerzlich ist, dass Millionen Kinder in den vergangenen eineinhalb Jahren im Teamspiel aus dem Tritt geraten sind, weil sie alleingelassen wurden.
Erwachsene Athletinnen und Athleten haben durch Erfahrung gelernt, was das ist: Mannschaftsgeist. Sie wissen, wie empfindlich er ist und wie unverzichtbar.
Kinder machen gerade die Erfahrung, dass eine Gemeinschaft – jede Schulklasse, jede Freizeitgruppe – gesundheitsgefährdend sein kann. Im Sport der postpandemischen Zeit braucht jedes Erfolgsrezept eine extra hohe Dosis Mannschaftsgeist.
Eine Mannschaft zu sein, ist ein Wert an sich. Ohne alle ist jeder nichts.