Manuel Vilas: "Die Reise nach Ordesa"
Aus dem Spanischen von Astrid Roth
Berlin Verlag, Berlin 2020
400 Seiten Seiten, 24 Euro
Nostalgie und Zorn
05:39 Minuten
Manuel Vilas' autobiografischer Roman über einen aus einfachen Verhältnissen stammenden Dichter und dessen Kindheit zur Franco-Zeit ist in Spanien zum Bestseller geworden. Dabei ist es ein Buch der Klage und der Wut, sprachlich aber betörend bildhaft.
Das Kind armer Leute, das trotz aller Hindernisse studiert hat und nun als erwachsener, schreibender Mensch die eigene Herkunft und die gegenwärtige Situation reflektiert: Es gibt viele Bücher zu diesem Thema, großartige und zweifelhafte.
Eintauchen in schöne, aber arme Kindheit
Zu den großartigen gehören die der Französin Annie Ernaux: Sie war eine der ersten und radikalsten Autorinnen, die sich literarisch im Grenzgebiet zwischen Geschichtsschreibung, Soziologie und Autobiografie mit den Fragen nach Klasse, Bildung und Individualität auseinandergesetzt haben. Didier Eribon hat das - mit einem eher wissenschaftlichen Schwerpunkt - in "Rückkehr nach Reims" ebenfalls getan. Auch in der deutschen Literatur gibt es dafür Beispiele aus neuerer Zeit, wie Christian Barons Buch über seinen Vater: "Ein Mann seiner Klasse".
Nun ist der autobiografische Roman eines Spaniers auf Deutsch erschienen, der einen ähnlichen Ansatz verfolgt, sich aber fundamental von den genannten unterscheidet: "Die Reise nach Ordesa" von Manuel Vilas taucht in eine schöne, wenngleich arme Kindheit und zieht für die Gegenwart eine durchweg negative Bilanz. Die Ehe des Erzählers ist gescheitert, seine Bücher verkaufen sich nicht und sein Land stürzt von einer Krise in die andere.
Paradoxerweise wurde dann gerade dieses Buch der Klage und der Wut in Spanien zum Bestseller.
Paradoxerweise wurde dann gerade dieses Buch der Klage und der Wut in Spanien zum Bestseller.
Lebensfreude in Zeiten der Diktatur
Vilas, Jahrgang 1962, wuchs in Aragon, Nordspanien, auf. Sein Vater war Handelsvertreter, der mit Stoffen die Schneidereien kleiner Orte abklapperte, was nur solange gut ging, bis alle Welt Kleider von der Stange kaufte. Um diesen Vater, der sehr auf Stil hielt, gute Anzüge trug und ein geselliger, umgänglicher Mensch war, und die schöne Mutter, die einzig in der Gegenwart lebte, kreist das Buch des Sohnes: Aber da gibt es keine Distanz, keine kritische Auseinandersetzung mit der älteren Generation. Sie waren gute Menschen, diese Vilas-Eltern, kleinbürgerlich, unterprivilegiert und ungebildet, die nie über das sprachen, was sie bewegte. Aber sie waren, so der depressive Sohn, voller Lebensfreude.
Magischer Ort seiner Kindheit ist Ordesa, ein Tal der Pyrenäen, Ausflugsziel der Familie Vilas im Jahr 1969. Fast 50 Jahre später will Manuel Vilas, der Scheidungsvater, seinen Söhnen den Ort zeigen, an dem er einmal glücklich war, und findet keine Spuren mehr. Es bleibt nur die Behauptung, damals sei, trotz Armut und Diktatur, alles schöner, lebendiger, authentischer gewesen.
Nostalgie und bittere Poesie
Dass Vilas' Buch in seiner Heimat ein so großer Erfolg wurde, mag damit zu tun haben, dass sich viele Spanier mit solchen Erinnerungen identifizieren können – ebenso mit der Nostalgie, die, gepaart mit Zorn über damalige und heutige Verhältnissen, das ganze Werk durchtränkt. Es hat sicher auch Vilas' Sprache voll bitterer Poesie zu tun, die betörend bildhaft und kraftvoll sein kann, und gewürzt ist mit bissigen Bonmots über Staat, Ehe, Drogen, Schriftsteller, Alkohol und Anarchie.
Doch bei aller Kritik an Institutionen und Zuständen: Der emanzipatorische Aufbruch, der bei Ernaux wie bei Baron so wesentlich ist, findet in diesem Buch nicht statt. Der Mann, der da so ausführlich von seinen Eltern erzählt, scheint nie ein Leben nach eigenen Wünschen und Plänen geführt zu haben, trotz Studium und Dichterlaufbahn. Hier lebt die Vergangenheit, und zwar ausschließlich.