Marathon im Schleier
Nach Jahren des Terrors und der Unterdrückung hat sich die Lage der Frauen in Algerien in jüngster Zeit deutlich verbessert - jedenfalls in Städten wie Algier, wo ein großer Teil von ihnen gut ausgebildet einem Beruf nachgeht.
Dutzende von Schulkindern begleiten zwei Läuferinnen auf den letzten Metern des Internationalen Marathons von Tiout. Die Lehrerin Yamina aus Algier schnauft:
"Ich habe lange keinen Sport getrieben. Freundinnen haben mich bei diesem Marathon eingeschrieben. Jetzt weiß ich, dass man über sich selbst hinauswachsen kann."
Unter den 120 Teilnehmern der Veranstaltung sind etwa zwei Dutzend Frauen: Yamina, die Nummer 111 trägt und die 14 Kilometer pro Tag in knielanger Hose, ärmellosem T-Shirt und mit einer Baseballmütze auf dem Kopf läuft. Die rundliche Nassima, Versicherungskauffrau aus Thlemcen, die eher im Schritttempo geht und einen Schal um den Kopf gebunden hat, über den sie auch noch einen Hut gestülpt hat. Saliha, die zierliche Literaturprofessorin aus Algier, die mit weißer Jogginghose, langärmligem Hemd und einem weißen Schleier bekleidet ist, der nur das Gesicht frei lässt:
"Der Schleier stört nicht beim Laufen. Es geht darum, dass kein einziges Haar zu sehen ist. Ich trage den Schleier aus persönlicher Überzeugung. Aber auch wir Muslima emanzipieren uns."
Die Frauen laufen durch die Oase von Tiout, dann weiter durch bergige Wüstenlandschaften, vorbei an Ziegen, Schafen, Eseln. Sie haben für das Marathon-Wochenende rund 100 Euro bezahlt, inklusive Essen, Unterkunft und Transport. Der gesetzliche Mindestlohn liegt in Algerien bei umgerechnet 150 Euro im Monat. Ärztinnen, Apothekerinnen oder Lehrerinnen leisten sich einen solchen Ausflug. Nach dem Lauf am Morgen besichtigen die Frauen am Nachmittag die Umgebung.
"Eine tolle Oase ist das hier, mit schönen Palmen und vielen Vögeln. Es gibt wundervolle Pflanzen, ich habe einen Kaktus gesehen mit mehrfarbigen Schellen! Dass es hier prähistorische Wandmalereien und die Knochen von Dinosauriern gibt, wussten wir Menschen aus Algier gar nicht!"
Saliha genießt es, sich ohne Angst im Freien zu bewegen. Das war bis vor Kurzem in Algerien nicht möglich. Terroristen oder Banditen lauerten an allen Ecken. Im sogenannten blutigen Jahrzehnt verloren ab Anfang der 90er Jahre Schätzungen zufolge bis zu 200.000 Menschen das Leben. Deswegen sei es immer noch eine besondere Freude, durch die Natur zu laufen, meint die Literaturprofessorin:
"Wir haben lange wie eingeschlossen gelebt. Erst jetzt entdecken wir unser eigenes Land, den Süden. Wir Menschen aus den Großstädten kennen dieses Algerien nicht. Hier verfliegt der Stress, hier sind alle glücklich. Die Leute aus der Gegend sind sympathisch."
Die Frauen sind die Attraktion des Marathons. Männer und Jungen schauen zuerst fragend, dann staunend über das für sie ungewohnte Bild aus vorbeifahrenden Autos. Die meisten ermutigen dann aber die Läuferinnen und winken ihnen freundlich zu. Als an einer Verkehrssperre ein Bus voller Menschen anhält, steigen spontan zwei Frauen aus, um ein paar Meter Marathonstrecke mitzulaufen, trotz Schleier und Stöckelschuhen! Später versprechen sie, beim nächsten Mal in Sportkleidung dabei zu sein:
"Das Leben hier ist sehr hart, obwohl die Umgebung so schön ist. Aber wir können nicht ausgehen, so wie wir wollen, wegen der Eltern, wegen der Tradition. (Lacht.) Die Leute hier sind verklemmt."
Für einheimische Frauen wie die 36-jährige Fatiha aus dem Nachbarort Ain Sefra, die in dieser ländlichen Region nur selten aus dem Haus kommen, ist der Lauf eine hochwillkommene Abwechslung. Sie ist geschieden und wird von ihrem Sohn, ihrer Schwester und einer Nichte begleitet. Fatiha kleidet sich westlich. Ebenso wie ihre Schwester, die 19-jährige Soumia, die ein knappes grünes Kleidchen über dem weißen langärmligen T-Shirt und der weißen knallengen Jeans trägt. Ihr langes, mit einem Haarband geschmücktes Haar trägt sie offen, anders als ihre Cousine Aischa, deren Kleidung nur das Gesicht sehen lässt. Das liege daran, dass Aischa einen strengeren Bruder und einen strengen Vater habe, erklärt Soumia.
Der Alltag der algerischen Frauen sieht so unterschiedlich wie ihre Kleidung aus, je nachdem, in welcher Region sie leben, aus welcher Familie sie stammen. Drei Viertel der Mädchen gehen heute aufs Gymnasium - und nur 43 Prozent der Jungen. Gleichzeitig haben auf dem Land über ein Drittel der Frauen nie eine Schule besucht. Die Zahl der Geburten sinkt: 1972 bekam eine Algerierin noch im Schnitt 7 Kinder! 2006 sind es nicht einmal mehr drei. Laut einem Bericht des Nationalen Gesundheitsinstituts nimmt die Mehrheit der algerischen Frauen die Pille.
Hassi Messaoud liegt im Osten Algeriens, Richtung Tunesien, 800 Kilometer von der Hauptstadt Algier entfernt, mitten in der Wüste, in Sand- und Kieslandschaften, durch die Kamele ziehen. 1950 war der Ort noch ein kleines Dorf mit gerade mal 1500 Einwohnern. Heute, dank der Gas- und Erdölindustrie, ist er zur Industriestadt geworden, in der über 50.000 Menschen leben.
Palmen säumen die breiten geteerten Straßen, es gibt zahlreiche Internetstuben, Cafés und Fastfood-Läden, einen Park und ein Schwimmbad. Doch das Stadtzentrum ist von Elendsvierteln umgeben, in denen ihre Häuser gleich neben Öl-Pipelines und Gasrohren gebaut haben. In gigantischen Siedlungen liegt Müll auf den Sandstrassen. Bis 2016 will die Regierung eine neue Stadt in der Nähe bauen. Als urbane Oase der Zukunft soll sie Platz bieten für 80.000 Menschen.
Menschen aus ganz Algerien kommen auf der Suche nach Arbeit nach Hassi Messaoud. In den umliegenden Gas- und Erdölraffinerien finden auch Frauen Arbeit. Als Wanderarbeiterinnen kommen sie aus dem Norden, misstrauisch beäugt von Einheimischen, deren Frauen das Haus nicht verlassen, geschweige denn arbeiten gehen. Den hier lebenden Männern nähmen die Gastarbeiterinnen die Arbeit weg, den einheimischen Frauen die Männer. Den Höhepunkt erreichte der Konflikt zwischen Einheimischen und Zugewanderten vor neun Jahren, als nach einer flammenden Predigt des Imam Männer aus Hassi Messaoud die Arbeiterinnen aus dem Norden des Landes angriffen:
"Sie haben einen Kreis um mich gebildet. Einer gab mir eine Ohrfeige, ein anderer schlug mit der Faust auf mich ein, ein anderer trat mit dem Fuß, ein weiterer schlug auf meinen Kopf."
"Laissées pour mortes" – zu deutsch: sterbend im Stich gelassen - heißt der Titel des Buches, in dem Fatiha Maamoura und Rahmouna Salah der algerischen Schauspielerin Nadia Kaci ihre Geschichte erzählten. Es ist im Februar in Frankreich herausgekommen und soll auch ins Deutsche übersetzt werden.
In den 90er Jahren herrschte eine starke Wirtschaftskrise. Dazu kam der Terror: Fundamentalisten kidnappten junge Frauen, Tausende wurden ermordet oder verschwanden für immer. Die Krise brachte die Familien in so große Schwierigkeiten, dass Frauen grünes Licht bekamen, woanders zu arbeiten, damit sie der Familie Geld schicken konnten. Manche Väter ließen ihre Töchter auch weggehen, weil woanders das Risiko, gekidnappt zu werden, geringer war. Dann gab es alleinstehende Mütter, die in ihrer Heimatstadt schief angesehen wurden und ihr Glück woanders versuchten. Später wurden diese Frauen finanziell autonom: Sie bekamen in den Erdölfirmen in Hassi Messaoud guten Lohn bekamen und mehr verdienten als in den Städten des Nordens. Ohne Druck durch Nachbarn und Verwandtschaft lebten sie mit anderen Frauen zusammen, gingen aus dem Haus, nahmen ein Taxi oder den Bus, um zur Arbeit zu gehen. Für die ansässige Bevölkerung war ein solches Verhalten unerträglich. Denn die zugereisten Frauen standen nicht mehr unter der Autorität eines Mannes und das stellte die bestehende Ordnung auf den Kopf.
"Die einheimischen Männer haben uns verfolgt, im Namen Gottes. Diese Männer sind Barbaren."
39 Frauen reichten Klage ein, verurteilt wurde nur eine Minderheit der Täter.
In Algier verfolgt die Journalistin Salima Thlemçani ein Kolloquium über die Opfer des Terrorismus, auf dem Witwen ermordeter Männer anwesend sind. Nach dem Spielen der algerischen Nationalhymne wird ein Film gezeigt: Die offizielle Version der Politik der Versöhnung, die Präsident Bouteflika 1999 in die Wege leitete. 2005 verfügte er eine Generalamnestie und ließ gemäßigte islamische Parteien zu. Gleichzeitig wurden die Opfer des Terrors entschädigt, aber auch die Witwen der von der Armee getöteten Terroristen.
Auf die Bilder von Massakern, die ein Film den Kolloquiumsbesuchern zeigt, folgen Aufnahmen vom Präsidenten, der jubelnde Frauen und Kinder küsst, die hoffnungsvoll in die Zukunft blicken, in ein Algerien, in dem Autobahnen und Hochhäuser gebaut werden.
Doch vielen Witwen reicht das Geld vom Staat nicht. Wovon soll ich mein Kind ernähren, fragt Lila Berkane. Die 44-jährige verlor ihren Mann, einen Postbeamten, als er gemeinsam mit der Armee die Umgebung durchkämmte und von einer Mine getötet wurde:
"Seit 12 Jahren kämpfe ich alleine, habe meine drei Kinder alleine großgezogen. Meine beiden großen Töchter gehen zur Uni. Aber ich bin obdachlos. Aus unserer Wohnung musste ich ausziehen, weil die Gegend zu gefährlich wurde. Ich ging zu meinen Eltern, die haben aber nur eine Drei-Zimmer-Wohnung, in der bereits mein Bruder mit seiner Frau und seinen zwei Kindern lebt. Deshalb ziehe ich jetzt von Haus zu Haus, wohne bei Freunden und Verwandten. Seit 12 Jahren!"
Der algerische Familien- und Solidaritätsminister Djamel Ould Abbès, der die Veranstaltung eröffnet hat, hat für die Klagen ein offenes Ohr, doch die reale Lage vieler Witwen wird sich dadurch nicht ändern.
Eine Hochzeit in Algerien – eine Feier, die sich über mehrere Tage erstreckt. Seite an Seite sitzen Braut und Bräutigam, wenn in einer langen Zeremonie die Geschenke überreicht werden. Auf dem Standesamt aber brauchen algerische Frauen bis heute einen Vormund. Früher waren es Vater oder Bruder, heute können sie sich ihren Vormund immerhin selbst aussuchen. So will es das reformierte Familienrecht, das 2005 gegen heftigen Widerstand seitens konservativer und fundamentalistischer Kräfte verabschiedet wurde. Danach ist die Polygamie zwar weiterhin erlaubt, allerdings ist nun das Einverständnis der ersten Frau nötig. Im Falle einer Scheidung brachte die Reform dagegen einen beträchtlichen Fortschritt: Heute darf ein algerischer Ehemann seine Frau nicht mehr einfach verstoßen. Bei einer Trennung muss er ihr und ihren Kindern eine Wohnung stellen. Außerdem erhält die Mutter das Erziehungsrecht.
Heute regeln in Algier auch Polizistinnen den Verkehr. Bei der Polizei und in der Armee gibt es immer mehr Frauen. In der Universität stellen sie die Mehrheit der Studenten. Frauen, verschleiert oder westlich gekleidet, spazieren in den Straßen, sie arbeiten, gehen in Restaurants, rauchen in Cafés. Großstädterinnen mit guter Ausbildung und Beruf haben mehr Freiheiten. Doch auch auf dem Land kämpfen die Algerierinnen für gleiche Rechte. Saida Benmiloud bietet Töpfer- und Schneiderkurse an für Hausfrauen im ländlichen Algerien: Gegen Depressionen, meint die energische Rentnerin:
"Wenn der Mann seine Frau daheim einschließt, ist das keine Lösung. Er bildet sich ein, es richtig zu machen. Leider ist das nicht richtig, sondern eine Dummheit. Ein Mann, der seine Frau kennt, vertraut ihr und weiß, dass sich seine Frau draußen anständig benimmt."
"Ich habe lange keinen Sport getrieben. Freundinnen haben mich bei diesem Marathon eingeschrieben. Jetzt weiß ich, dass man über sich selbst hinauswachsen kann."
Unter den 120 Teilnehmern der Veranstaltung sind etwa zwei Dutzend Frauen: Yamina, die Nummer 111 trägt und die 14 Kilometer pro Tag in knielanger Hose, ärmellosem T-Shirt und mit einer Baseballmütze auf dem Kopf läuft. Die rundliche Nassima, Versicherungskauffrau aus Thlemcen, die eher im Schritttempo geht und einen Schal um den Kopf gebunden hat, über den sie auch noch einen Hut gestülpt hat. Saliha, die zierliche Literaturprofessorin aus Algier, die mit weißer Jogginghose, langärmligem Hemd und einem weißen Schleier bekleidet ist, der nur das Gesicht frei lässt:
"Der Schleier stört nicht beim Laufen. Es geht darum, dass kein einziges Haar zu sehen ist. Ich trage den Schleier aus persönlicher Überzeugung. Aber auch wir Muslima emanzipieren uns."
Die Frauen laufen durch die Oase von Tiout, dann weiter durch bergige Wüstenlandschaften, vorbei an Ziegen, Schafen, Eseln. Sie haben für das Marathon-Wochenende rund 100 Euro bezahlt, inklusive Essen, Unterkunft und Transport. Der gesetzliche Mindestlohn liegt in Algerien bei umgerechnet 150 Euro im Monat. Ärztinnen, Apothekerinnen oder Lehrerinnen leisten sich einen solchen Ausflug. Nach dem Lauf am Morgen besichtigen die Frauen am Nachmittag die Umgebung.
"Eine tolle Oase ist das hier, mit schönen Palmen und vielen Vögeln. Es gibt wundervolle Pflanzen, ich habe einen Kaktus gesehen mit mehrfarbigen Schellen! Dass es hier prähistorische Wandmalereien und die Knochen von Dinosauriern gibt, wussten wir Menschen aus Algier gar nicht!"
Saliha genießt es, sich ohne Angst im Freien zu bewegen. Das war bis vor Kurzem in Algerien nicht möglich. Terroristen oder Banditen lauerten an allen Ecken. Im sogenannten blutigen Jahrzehnt verloren ab Anfang der 90er Jahre Schätzungen zufolge bis zu 200.000 Menschen das Leben. Deswegen sei es immer noch eine besondere Freude, durch die Natur zu laufen, meint die Literaturprofessorin:
"Wir haben lange wie eingeschlossen gelebt. Erst jetzt entdecken wir unser eigenes Land, den Süden. Wir Menschen aus den Großstädten kennen dieses Algerien nicht. Hier verfliegt der Stress, hier sind alle glücklich. Die Leute aus der Gegend sind sympathisch."
Die Frauen sind die Attraktion des Marathons. Männer und Jungen schauen zuerst fragend, dann staunend über das für sie ungewohnte Bild aus vorbeifahrenden Autos. Die meisten ermutigen dann aber die Läuferinnen und winken ihnen freundlich zu. Als an einer Verkehrssperre ein Bus voller Menschen anhält, steigen spontan zwei Frauen aus, um ein paar Meter Marathonstrecke mitzulaufen, trotz Schleier und Stöckelschuhen! Später versprechen sie, beim nächsten Mal in Sportkleidung dabei zu sein:
"Das Leben hier ist sehr hart, obwohl die Umgebung so schön ist. Aber wir können nicht ausgehen, so wie wir wollen, wegen der Eltern, wegen der Tradition. (Lacht.) Die Leute hier sind verklemmt."
Für einheimische Frauen wie die 36-jährige Fatiha aus dem Nachbarort Ain Sefra, die in dieser ländlichen Region nur selten aus dem Haus kommen, ist der Lauf eine hochwillkommene Abwechslung. Sie ist geschieden und wird von ihrem Sohn, ihrer Schwester und einer Nichte begleitet. Fatiha kleidet sich westlich. Ebenso wie ihre Schwester, die 19-jährige Soumia, die ein knappes grünes Kleidchen über dem weißen langärmligen T-Shirt und der weißen knallengen Jeans trägt. Ihr langes, mit einem Haarband geschmücktes Haar trägt sie offen, anders als ihre Cousine Aischa, deren Kleidung nur das Gesicht sehen lässt. Das liege daran, dass Aischa einen strengeren Bruder und einen strengen Vater habe, erklärt Soumia.
Der Alltag der algerischen Frauen sieht so unterschiedlich wie ihre Kleidung aus, je nachdem, in welcher Region sie leben, aus welcher Familie sie stammen. Drei Viertel der Mädchen gehen heute aufs Gymnasium - und nur 43 Prozent der Jungen. Gleichzeitig haben auf dem Land über ein Drittel der Frauen nie eine Schule besucht. Die Zahl der Geburten sinkt: 1972 bekam eine Algerierin noch im Schnitt 7 Kinder! 2006 sind es nicht einmal mehr drei. Laut einem Bericht des Nationalen Gesundheitsinstituts nimmt die Mehrheit der algerischen Frauen die Pille.
Hassi Messaoud liegt im Osten Algeriens, Richtung Tunesien, 800 Kilometer von der Hauptstadt Algier entfernt, mitten in der Wüste, in Sand- und Kieslandschaften, durch die Kamele ziehen. 1950 war der Ort noch ein kleines Dorf mit gerade mal 1500 Einwohnern. Heute, dank der Gas- und Erdölindustrie, ist er zur Industriestadt geworden, in der über 50.000 Menschen leben.
Palmen säumen die breiten geteerten Straßen, es gibt zahlreiche Internetstuben, Cafés und Fastfood-Läden, einen Park und ein Schwimmbad. Doch das Stadtzentrum ist von Elendsvierteln umgeben, in denen ihre Häuser gleich neben Öl-Pipelines und Gasrohren gebaut haben. In gigantischen Siedlungen liegt Müll auf den Sandstrassen. Bis 2016 will die Regierung eine neue Stadt in der Nähe bauen. Als urbane Oase der Zukunft soll sie Platz bieten für 80.000 Menschen.
Menschen aus ganz Algerien kommen auf der Suche nach Arbeit nach Hassi Messaoud. In den umliegenden Gas- und Erdölraffinerien finden auch Frauen Arbeit. Als Wanderarbeiterinnen kommen sie aus dem Norden, misstrauisch beäugt von Einheimischen, deren Frauen das Haus nicht verlassen, geschweige denn arbeiten gehen. Den hier lebenden Männern nähmen die Gastarbeiterinnen die Arbeit weg, den einheimischen Frauen die Männer. Den Höhepunkt erreichte der Konflikt zwischen Einheimischen und Zugewanderten vor neun Jahren, als nach einer flammenden Predigt des Imam Männer aus Hassi Messaoud die Arbeiterinnen aus dem Norden des Landes angriffen:
"Sie haben einen Kreis um mich gebildet. Einer gab mir eine Ohrfeige, ein anderer schlug mit der Faust auf mich ein, ein anderer trat mit dem Fuß, ein weiterer schlug auf meinen Kopf."
"Laissées pour mortes" – zu deutsch: sterbend im Stich gelassen - heißt der Titel des Buches, in dem Fatiha Maamoura und Rahmouna Salah der algerischen Schauspielerin Nadia Kaci ihre Geschichte erzählten. Es ist im Februar in Frankreich herausgekommen und soll auch ins Deutsche übersetzt werden.
In den 90er Jahren herrschte eine starke Wirtschaftskrise. Dazu kam der Terror: Fundamentalisten kidnappten junge Frauen, Tausende wurden ermordet oder verschwanden für immer. Die Krise brachte die Familien in so große Schwierigkeiten, dass Frauen grünes Licht bekamen, woanders zu arbeiten, damit sie der Familie Geld schicken konnten. Manche Väter ließen ihre Töchter auch weggehen, weil woanders das Risiko, gekidnappt zu werden, geringer war. Dann gab es alleinstehende Mütter, die in ihrer Heimatstadt schief angesehen wurden und ihr Glück woanders versuchten. Später wurden diese Frauen finanziell autonom: Sie bekamen in den Erdölfirmen in Hassi Messaoud guten Lohn bekamen und mehr verdienten als in den Städten des Nordens. Ohne Druck durch Nachbarn und Verwandtschaft lebten sie mit anderen Frauen zusammen, gingen aus dem Haus, nahmen ein Taxi oder den Bus, um zur Arbeit zu gehen. Für die ansässige Bevölkerung war ein solches Verhalten unerträglich. Denn die zugereisten Frauen standen nicht mehr unter der Autorität eines Mannes und das stellte die bestehende Ordnung auf den Kopf.
"Die einheimischen Männer haben uns verfolgt, im Namen Gottes. Diese Männer sind Barbaren."
39 Frauen reichten Klage ein, verurteilt wurde nur eine Minderheit der Täter.
In Algier verfolgt die Journalistin Salima Thlemçani ein Kolloquium über die Opfer des Terrorismus, auf dem Witwen ermordeter Männer anwesend sind. Nach dem Spielen der algerischen Nationalhymne wird ein Film gezeigt: Die offizielle Version der Politik der Versöhnung, die Präsident Bouteflika 1999 in die Wege leitete. 2005 verfügte er eine Generalamnestie und ließ gemäßigte islamische Parteien zu. Gleichzeitig wurden die Opfer des Terrors entschädigt, aber auch die Witwen der von der Armee getöteten Terroristen.
Auf die Bilder von Massakern, die ein Film den Kolloquiumsbesuchern zeigt, folgen Aufnahmen vom Präsidenten, der jubelnde Frauen und Kinder küsst, die hoffnungsvoll in die Zukunft blicken, in ein Algerien, in dem Autobahnen und Hochhäuser gebaut werden.
Doch vielen Witwen reicht das Geld vom Staat nicht. Wovon soll ich mein Kind ernähren, fragt Lila Berkane. Die 44-jährige verlor ihren Mann, einen Postbeamten, als er gemeinsam mit der Armee die Umgebung durchkämmte und von einer Mine getötet wurde:
"Seit 12 Jahren kämpfe ich alleine, habe meine drei Kinder alleine großgezogen. Meine beiden großen Töchter gehen zur Uni. Aber ich bin obdachlos. Aus unserer Wohnung musste ich ausziehen, weil die Gegend zu gefährlich wurde. Ich ging zu meinen Eltern, die haben aber nur eine Drei-Zimmer-Wohnung, in der bereits mein Bruder mit seiner Frau und seinen zwei Kindern lebt. Deshalb ziehe ich jetzt von Haus zu Haus, wohne bei Freunden und Verwandten. Seit 12 Jahren!"
Der algerische Familien- und Solidaritätsminister Djamel Ould Abbès, der die Veranstaltung eröffnet hat, hat für die Klagen ein offenes Ohr, doch die reale Lage vieler Witwen wird sich dadurch nicht ändern.
Eine Hochzeit in Algerien – eine Feier, die sich über mehrere Tage erstreckt. Seite an Seite sitzen Braut und Bräutigam, wenn in einer langen Zeremonie die Geschenke überreicht werden. Auf dem Standesamt aber brauchen algerische Frauen bis heute einen Vormund. Früher waren es Vater oder Bruder, heute können sie sich ihren Vormund immerhin selbst aussuchen. So will es das reformierte Familienrecht, das 2005 gegen heftigen Widerstand seitens konservativer und fundamentalistischer Kräfte verabschiedet wurde. Danach ist die Polygamie zwar weiterhin erlaubt, allerdings ist nun das Einverständnis der ersten Frau nötig. Im Falle einer Scheidung brachte die Reform dagegen einen beträchtlichen Fortschritt: Heute darf ein algerischer Ehemann seine Frau nicht mehr einfach verstoßen. Bei einer Trennung muss er ihr und ihren Kindern eine Wohnung stellen. Außerdem erhält die Mutter das Erziehungsrecht.
Heute regeln in Algier auch Polizistinnen den Verkehr. Bei der Polizei und in der Armee gibt es immer mehr Frauen. In der Universität stellen sie die Mehrheit der Studenten. Frauen, verschleiert oder westlich gekleidet, spazieren in den Straßen, sie arbeiten, gehen in Restaurants, rauchen in Cafés. Großstädterinnen mit guter Ausbildung und Beruf haben mehr Freiheiten. Doch auch auf dem Land kämpfen die Algerierinnen für gleiche Rechte. Saida Benmiloud bietet Töpfer- und Schneiderkurse an für Hausfrauen im ländlichen Algerien: Gegen Depressionen, meint die energische Rentnerin:
"Wenn der Mann seine Frau daheim einschließt, ist das keine Lösung. Er bildet sich ein, es richtig zu machen. Leider ist das nicht richtig, sondern eine Dummheit. Ein Mann, der seine Frau kennt, vertraut ihr und weiß, dass sich seine Frau draußen anständig benimmt."