Die Erstausstrahlung war am 16.02.20.
Laufen für ein Leben
26:22 Minuten
Kenianer sind zurzeit im Langstreckenlauf unschlagbar. Viele junge Frauen und Männer sehen ihre Zukunft als Athleten – ein Beruf, in dem sie mit Glück und Talent viel Geld verdienen können. Aber der Preis, den sie zahlen, ist hoch.
Susy Chebet Chemaimak öffnet das Schloss des grünen Metalltores, das zu ihrem Grundstück führt. Die drahtige, junge Frau trägt einen Glockenrock und Flipflops. Der Boden ist schlammig, sie tritt mit geübtem Schritt auf die am wenigsten rutschigen Stellen.
Es ist Dezember. In Kenia regnet es seit Wochen, obwohl das für diese Jahreszeit ungewöhnlich ist. Auch heute Morgen ist der Himmel wolkenverhangen und neblig, eine Stimmung wie im Herbst im Schwarzwald. Dabei lebt Susy in Iten im kenianischen Hochland. Der 4000-Einwohner-Ort liegt rund 2400 Meter über dem Meeresspiegel. Wegen der sauerstoffarmen Höhenluft ist Susy hierhergezogen. Sie ist Langstreckenläuferin, 30 Jahre alt. Jetzt geht sie voraus in ihr kleines Haus.
Im kenianischen Hochland treffen sich die Athleten
Im Wohnzimmer lümmeln sich ihre beiden Söhne David und Damiane auf dem Sofa. Es ist zwanzig vor neun am Samstagmorgen.
"Ich bin heute Morgen schon acht Kilometer gelaufen, um halb sechs bin ich los. Danach habe ich mich noch mal ins Bett gelegt. Gleich um neun machen wir Tempotraining."
Susy hat sich auf das Sofa gesetzt, ihre beiden Söhne haben sich hinter den Vorhang verzogen, der den Schlafbereich vom Wohnzimmer trennt. Im "Wohnzimmer" stehen die Möbel so eng, dass man zwischen Couchtisch und Couch so gerade hindurch passt. Susy lebt vom Laufen. Das ist ihr Job. Ihre Söhne essen und gehen zur Schule, weil die Mutter hart trainiert. Kenianische Marathonläufer gehören weltweit zur Spitzenklasse. Viele leben in Iden, so wie Suzy. Denn die Höhenluft steigert die Leistung. Aber längst nicht alle schaffen den Weg nach oben.
"Bevor dich jemand entdeckt und daran glaubt, dass du ein Superstar bist, ist es für jeden Athleten sehr hart. Jeder hat dazu eine Geschichte zu erzählen. Man muss ja Miete bezahlen, vielleicht 20 Euro im Monat. Man muss vernünftiges Essen kaufen - na gut, es muss ja nichts Besonderes sein, aber jedenfalls muss man etwas essen. Außerdem brauchst du Laufschuhe und Sportkleidung - aber ständig fehlt dir das Geld, für das alles zu bezahlen. Das belastet dich natürlich auch mental."
Über 1.000 Läufer haben sich in Iten niedergelassen, einem Ort, der eigentlich nur 4.000 Einwohner hat. Hinzu kommen ausländische Sportler, die für ein paar Wochen hier oben trainieren wollen. Die fünf Trainingslager liegen am Rande der Stadt, aber im Straßenbild fallen die vielen Athleten auf: Gruppen in Sportkleidung, Kenianer und Ausländer, darunter viele Weiße. Am Wochenende machen viele Pause. Susy nicht.
Nur wer gewinnt, verdient Geld
"Und Du pausierst nicht, weil Du noch ein Rennen vor Dir hast?"
"Ich hoffe, dass nichts dazwischen kommt und dass ich dort mein Bestes gebe. Das Rennen ist in Doha, es heißt Ooredoo. Ein Marathon, also 42,195 Kilometer. Deshalb ruhe ich mich auch jetzt nur sonntags aus."
Der Start in Doha kostet umgerechnet gut 60 Euro, hinzukommen Flug und Unterkunft. Das ist teuer, aber für Susy übernehmen die Veranstalter die Kosten. Die Veranstalter brauchen gute Läufer für interessante Rennen, um in die Schlagzeilen zu kommen. Wenn Susy ein prestigeträchtiges Rennen gewinnt, dann kann sie mit einem Preisgeld im sechsstelligen Bereich rechnen. Das ist allerdings eher die Ausnahme. Die meisten freuen sich, wenn sie einen Sponsor finden und über die Runden kommen. Dafür quälen sie sich Tag für Tag. Susys zählt ihr enormes Pensum auf, ohne das Gesicht zu verziehen.
"Montags laufen wir 18 oder 19 Kilometer, und abends noch mal im Joggingtempo acht oder zehn Kilometer. Am Dienstag machen wir morgens Tempotraining, abends joggen wir. Mittwochs laufen wir 16 Kilometer in mäßigem Tempo, abends pausieren wir. Donnerstags haben wir unsere langen Läufe, 30 oder 35 Kilometer, je nachdem, was uns unser Trainer vorgibt. Freitags trainieren wir morgens nicht so hart, und abends noch mal Jogging. Samstags machen wir wieder Tempotraining, so wie heute, und abends geht jeder noch mal alleine joggen. Sonntags ruhen wir uns aus, und am Montag treffen wir uns wieder, um die nächste Woche zu beginnen."
Kurze Zeit später sammelt sich an der Landstraße Susys Gruppe, aber auch andere Athleten. Manche haben ihr Programm gerade beendet, gehen noch ein paar Schritte, dehnen sich.
"Du humpelst ja", ruft Susy einem riesigen, spindeldürren Kerl zu, der zu ihrer Gruppe stößt. Osman ist Südsudanese und trainiert erst seit einigen Wochen in Iten, er hat sich Susys Gruppe angeschlossen. Sein Englisch ist noch etwas holprig und an das kühle und regnerische Wetter im kenianischen Hochland hat er sich bisher nicht gewöhnt. Die Kälte sei an seinem Humpeln schuld, erzählt Osman. Trotzdem will er heute wieder mit der Gruppe trainieren. Die anderen heißen ihn willkommen. Sie mögen ihn, weil er ständig Späße macht und gute Laune verbreitet.
Beim Lauftraining solidarisch in der Gruppe
"Beim Laufen kannst du ohne eine Gruppe nicht viel erreichen. Dass man sich gegenseitig unterstützt, ist ganz wichtig, nur so kann jeder seine Bestleistung bringen. Wenn ich alleine trainieren würde, wüsste ich nie, ob mein Körper auf das Training anspricht und ich besser werde, oder meine Leistung stagniert. In einer Gruppe kann man sich ständig messen. Das spornt dich an, du wirst härter trainieren, statt dich auf deinen bisherigen Leistungen auszuruhen und zu denken: Ich bin die Beste!"
Wie sich herausstellt, kommt der Trainer heute doch nicht. Die Gruppe beschließt, ihr Programm alleine zu absolvieren: Acht Kilometer aufwärmen, dann das Tempotraining. Alle setzen sich in Bewegung, traben die kleine Straße entlang.
Osman albert noch etwas herum, fordert mich zum Mitlaufen auf. Mit Gesten bedeute ich ihm, dass ich wegen Aufnahmegerät und Mikrofon nicht mitlaufen kann. Vor allem will ich mich aber nicht blamieren: Obwohl ich selbst fast jeden Tag jogge, stellt mich Osman bestimmt weit in den Schatten – trotz Verletzungen und Zerrungen.
Ich fahre also mit dem Auto immer ein Stück voraus, halte an und schaue zu, wie die Gruppe an mir vorbeiläuft. Zum Glück regnet es gerade nicht, aber Wolken und Nebelschwaden behindern die Sicht. So sehe ich statt der Hügelketten nur Nadelbäume, vereinzelte Holzhütten und dann und wann eine Kuh, die zum Markt getrieben wird. Einmal kommt ein Fahrradfahrer vorbei, auf dem Gepäckträger einen Drahtkorb voller Hühner. Auch er steuert vermutlich den nächstgelegenen Wochenmarkt an.
Nach 30 Minuten läuft die Gruppe in sehr großen Abständen: Susy vorne hinter den drei schnellsten Männern, auf den Fersen weitere Männer. Deutlich später folgen die anderen Frauen. Schließlich sind alle wieder am Ausgangspunkt, der verletzte Osman kommt als letzter ins Ziel.
"Wir ziehen uns jetzt um, dann fangen wir mit dem Tempotraining an."
Susy rennt um ihr Leben – und um das ihrer Söhne
Es folgen: 40 Minuten abwechselnd Sprinten und Joggen auf einer Straße, die stark befahren ist. Ständig kommen Autos, Mopeds und Fahrradfahrer vorbei. Die Sportler ziehen jetzt so viel Luft wie möglich in die Lungen. Susy liegt vorne, kommt kurz hinter dem schnellsten Mann ihrer Gruppe ins Ziel.
"Du warst immer direkt hinter den schnellsten Männern."
"So trainieren wir: Wir hängen uns immer an die Männer. An ihnen dranzubleiben fordert uns am meisten ab."
Zu Hause angekommen, stellt Susy erst einmal einen Aluminiumtopf auf den Gaskocher und macht Teewasser warm – eine Tasse Tee mit Toastbrot wird ihre erste Mahlzeit des Tages sein, nach schon zwei Trainingseinheiten. Die Zeit dazwischen reicht nicht zum Essen, denn mit vollem Magen läuft es sich schlecht.
Ihre beiden Söhne sehen fern, Susy lässt sie gewähren. Ihre Kinder sind nur hier, weil gerade Schulferien sind.
"Sie leben bei meiner Mutter, weil ich ja trainieren muss. Wenn ich nicht gerade laufe, muss ich mich ausruhen. Außerdem bin ich wegen meiner Wettkämpfe häufig länger im Ausland. Im vergangenen April war ich beispielsweise für zwei Monate in China. Deshalb ist meine Mutter diejenige, die sich am besten um meine Kinder kümmern kann."
Susy fällt es schwer, so lange von ihren Kindern getrennt zu sein. Aber sie rennt nicht nur um ihr eigenes, sondern auch um das Leben ihrer Söhne. Sie sollen auf die Schule gehen, es einmal besser haben.
Susy ist im Westen von Kenia aufgewachsen, in der Gegend von Mount Elgon, einer abgelegenen Region ohne viel Infrastruktur. Als sie 17 Jahre alt war, ist ihr Vater eines Tages verschwunden, bis heute weiß die Familie nicht, ob er tot ist oder lebt. Bis dahin hatten sie ein gutes Auskommen, auch das Schulgeld konnten ihre Eltern bezahlen. Sie stand kurz vor dem Abitur und träumte davon, Journalistin zu werden. Aber nachdem ihr Vater verschwunden war, hat es an allem gefehlt, auch am Geld für die Schulgebühren. Von da an half sie ihrer Mutter auf dem Feld.
"So war das, aber ich bedaure nicht, dass es so gekommen ist. Mir geht es jetzt gut damit. Laufen ist mein Beruf und das, was ich liebe. Bevor ich damit angefangen habe, habe ich die Leute bewundert, die ich am Straßenrand laufen sah. Ich wollte werden wie sie. Jetzt habe ich das erreicht, und meine Träume gehen noch weiter. Ich sage: 'Ich möchte so erfolgreich sein wie Eliud Kipchoge. Oder wie Brigid Kosgei.'"
Eliud Kipchoge lief die Marathondistanz 2019 in Wien als erster Mensch unter zwei Stunden. Auch die schnellste Marathonläuferin ist Kenianerin: Brigid Kosgei stellte im Oktober 2019 in Chicago mit 2:14:04 einen neuen Weltrekord der Frauen auf.
Schwerer Anfang – keine Schuhe und nichts zu essen
Von Brigid Kosgeis Rekordzeit ist Susy weit entfernt, ihre persönliche Bestzeit liegt bei 2:40.
"Ich könnte mir vorstellen, dass es am Anfang sehr schwer war, mit dem Laufen genug Geld für Lebensmittel und die Miete zu verdienen, oder nicht?"
"Ja. Das ist das, was viele Athleten am Anfang durchmachen. Du gehst zum Training und fragst dich, was du anschließend essen kannst. Du kommst nach Hause, und es ist nichts zu essen da. Du willst irgendwo in Kenia an einem Wettkampf teilnehmen, hast aber keinen Schilling in der Tasche. Dann bleibst du entweder zu Hause, oder du leihst dir das Geld von einem Freund. Wenn du tatsächlich starten kannst, gewinnst du dank der Gnade Gottes vielleicht sogar. Dann richten sich plötzlich alle Augen auf Dich, aber niemand macht sich eine Vorstellung davon, wo du herkommst."
Susy hat die schlimmste Zeit hinter sich. Seit 2015 ist sie bei der kenianischen Polizei, dort fiel ihr Lauftalent auf. Seit 2017 ist sie für den Sport freigestellt. Ihr – allerdings sehr bescheidenes – Gehalt kriegt sie weiter. Susy wird außerdem von Enda ausgestattet, dem ersten kenianischen Unternehmen, das Laufschuhe und Laufkleidung produziert.
"Das hilft mir alles sehr. Ich will mich also nicht beschweren, es geht mir gut – kein Vergleich mit der Anfangszeit, als ich wirklich kämpfen musste. Wenn ich eines Tages richtig erfolgreich bin, möchte ich diejenigen unterstützen, die noch nicht so weit sind. Ich weiß schließlich, was es bedeutet, ganz unten zu sein. Dort wo du steckst, ehe du nach oben kommst. Oben bin ich noch nicht. Ich würde sagen, ich bin in der Mitte des Weges."
Mit Ende 30 ist die Karriere zu Ende
Allzu viel Zeit hat sie nicht mehr für den wirklich großen Erfolg, mit Ende 30 werden Marathonläufer für Spitzenleistungen allmählich zu alt. Aber wenn Susy ihre Laufkarriere beenden muss, dann sind ihre Söhne aus dem Gröbsten raus. So kalkuliert sie und zieht am Nachmittag gegen vier ihre Laufschuhe an für weitere acht Kilometer.
Am nächsten Morgen um sechs stehe ich ein paar Straßen weiter vor Daniel Simiyu Tür. Daniel teilt ein Zimmer mit seinem Kollegen Mike, der gerade für einen Wettkampf in den USA ist. Neben Daniels Bett steht eine große Gasflasche, die er als Nachttisch verwendet. Darauf liegt aufgeschlagen die Bibel.
"Ich lese ständig darin, gestern auch. Ich habe erst sehr spät geschlafen, weil ich noch etwas in der Bibel gelesen habe."
Außer den beiden Betten stehen in dem Zimmer noch ein zweistrahliger Gaskocher, eine Stereoanlage, ein Fernseher. Und ein Regal mit Pokalen. Den größten davon hat Daniel kürzlich gewonnen.
"Den habe ich beim Internationalen Marathon in Layoune gewonnen, in Marokko."
In den vergangenen Monaten hat der 24-Jährige bei drei Rennen gesiegt, zwei davon lief er in Kenia. Dafür bekommt er insgesamt 5000 Euro Preisgeld – für Daniel eine fast märchenhafte Summe. Sie wurde ihm allerdings noch nicht ausgezahlt, so frisch ist sein Erfolg. Ich bin von seinem Fortschritt tief beeindruckt. Als wir uns vor elf Monaten kennenlernten, schien er noch ganz am Anfang zu stehen – und kaum genug Geld für ausreichend Essen zu haben. Daniel war beängstigend dünn. Aber für Daniel war das Laufen die einzige Chance. Er gehört zum Volk der Rendile, einem Hirtenvolk, das im kargen Norden Kenias lebt.
"Ich habe meine Eltern 2002 verloren, als uns bewaffnete Männer überfielen, um unser Vieh zu stehlen. Meine Großmutter hat mich zu sich genommen, aber sie starb, als ich zwölf Jahre alt war."
Bis dahin hütete Daniel die Ziegen oder Kühe der Nachbarn und holte für sie Wasser am Fluss, um ein paar Shilling zu verdienen – Geld, auf das er und seine Großmutter zum Überleben angewiesen waren. Damit er arbeiten konnte, ließ Daniel die Schule immer wieder ausfallen. Das änderte sich nach ihrem Tod.
"Ich rannte barfuß"
"Der Direktor meiner Schule hat mich aufgezogen, bis ich die Grundschule abgeschlossen hatte. Dann bekam ich einen Platz in einer weiterführenden Schule. Weil ich kein Geld für das Internat hatte, wurde ich zum Tagesschüler. Jeden Tag musste ich morgens 12 Kilometer zur Schule laufen, abends 12 Kilometer zurück."
2015 startete er für seine Schule in einem Geländelauf. Sein Lehrer sah sein Talent, machte ihm Mut. Von da an träumte Daniel von einer Karriere als professioneller Sportler.
"Als ich anfing zu laufen, hatte ich keine Schuhe, ich rannte barfuß. Bis ich auf dem Markt gebrauchte Schuhe fand, die noch nicht mal gut waren. Damit lief ich, bis der Schuldirektor mir Laufschuhe kaufte. Mit denen fing ich dann an, richtig zu trainieren. Im Dezember 2016 holte mich ein Freund zu sich nach Iten, er heißt Mike Chesire und ist Marathonläufer.
Er hat mir angeboten, bei ihm zu wohnen und die Miete für uns beide zu übernehmen, weil ich kein Geld habe. Wir trainieren oft zusammen, manchmal laufe ich aber auch alleine. Mike ist auch mein Mentor, berät mich, wie ich physisch und mental trainieren soll, damit ich in die Spitzenklasse aufschließe. Ich darf bei ihm wohnen, und er gibt mir zu essen."
Bis heute wohnen Mike und Daniel zusammen, dank der ersten Preisgelder kann sich Daniel inzwischen an den Kosten beteiligen. Bei unserer ersten Begegnung war ich nicht sicher, ob Daniel wirklich Erfolg haben würde. Er wirkte schwach und war finanziell komplett abhängig von seinem Mentor. Aber er hatte einen starken Willen. Damals sagte mir Daniel:
"Ich gebe nicht auf. Ich sage mir: Jeder Tag ist ein neuer Tag. Ich kann nicht heute hart trainieren und es morgen lässig angehen. Morgen muss ich mich noch mehr anstrengen als heute. Das Profilaufen erfordert einen starken Charakter. Bis zum Marathon ist es ein weiter Weg."
Jetzt hat er es geschafft: Durch seine jüngsten Erfolge ist er dem Sportartikelhersteller Nike aufgefallen, der in Kenia etliche Athleten unterstützt. Daniel hat so etwas wie das große Los gezogen: In wenigen Wochen wird er in eines der Trainingslager dieses Sponsors ziehen.
"Da kümmern sie sich um alles. Ich kann mich ganz auf mein Training konzentrieren."
Teilen ist selbstverständlich
Der Erfolg hat Daniel verändert. Er wirkt immer noch bescheiden, fast schüchtern. Aber er scheint mehr in sich zu ruhen – und nicht mehr so unruhig und getrieben wie noch vor ein paar Monaten.
"Ich fühle mich gut, und sobald ich das Geld wirklich habe, werde ich genau planen, wofür ich es ausgebe. Als erstes gebe ich zehn Prozent davon meiner Kirchengemeinde, dann schaue ich, was ich mit dem Rest mache. Wenn ich weiterhin erfolgreich bin und Geld gewinne, will ich nächstes Jahr anfangen, für ein Kind die Schulgebühren zu bezahlen. Ich werde in mein Heimatdorf fahren und eins der Kinder aussuchen, die nicht in die Schule gehen können, weil das Geld dafür fehlt."
Dann zieht sich Daniel die dünne Laufjacke an und tritt vor die Tür. Er hat noch keine Familie. Er muss niemanden versorgen. Und er hat mit 24 Jahren noch viel Zeit für seine Laufkarriere. Vier Kilometer will er jetzt zurücklegen, für ihn kaum mehr als ein Lockern der Muskeln. Draußen ist es immer noch dunkel, aber inzwischen ist am Horizont ein heller Streifen zu sehen.
Es ist Sonntag und Joan Cherop Massah hat heute frei. Trainigsfrei. Sie lebt in Kaptagat, eine Stadt ebenfalls im Hochland Kenias, gut 40 Kilometer von Iten entfernt. Wir sind bei ihr zu Hause – in einem Holzhaus, das aus einem Wohnzimmer und zwei weiteren Zimmern besteht. Gekocht wird in einer separaten kleinen Hütte auf dem Holzkohlefeuer.
"Ich wollte immer schon ein Champion werden. Mein Traum wird allmählich wahr."
An den Wänden im Wohnzimmer hängen Fotos von Joan in Laufkleidung – die Aufnahmen dokumentieren die sportlichen Erfolge der 28-jährigen Langstreckenläuferin. Sie nahm schon an Wettkämpfen in der ganzen Welt teil: unter anderem in Deutschland, Korea, Peru und den USA. Ihr bisher größter Erfolg: Der Sieg im Marathon in Iowa 2017, sie lief die Strecke in 2:42:43. Das Foto zeigt Joan in einem T-Shirt mit dem Aufdruck "Enda", das ist der bisher einzige kenianische Sportartikelhersteller, der auch Susy ausstattet. Enda will den ausländischen Unternehmen, die von dem Erfolg kenianischer Sportler bisher profitieren, Konkurrenz machen. Und Joan findet das gut.
"Ich bin sehr glücklich über diesen Schuh, und stolz auf Kenia, dass wir ebenso gute Laufschuhe produzieren können wie andere Länder."
Joan kann von ihren Preisgeldern ihren Lebensunterhalt bezahlen. Das Laufen hat Joan buchstäblich gerettet. An der Wand in ihrem Haus hängt ein weiteres Foto, aufgenommen 2018. Es zeigt sie vor einer kleinen, fensterlosen Hütte.
"Mein Elternhaus war sehr klein. Wir haben es aus Gras, Lehm und Viehdung gebaut."
Flucht vor Beschneidung und Zwangsheirat
Joan gehört zum Volk der Pokot, das im trockenen Nordwesten Kenias lebt. Ihr Vater, ein Viehhirte, hatte drei Frauen, jede bewohnte eine kleine Hütte wie die auf dem Foto. Ihre ersten Lebensjahre verbrachte Joan zusammen mit ihrer Mutter und ihren sieben Geschwistern. Die anderen beiden Frauen ihres Vaters lebten mit ihren Kindern in den anderen Hütten. Joan fing mit dem Laufen an, als sie zehn Jahre alt war. Bald startete sie bei Wettkämpfen: erst für ihre Schule, bald schon auf nationaler Ebene.
"Ich habe die weiterführende Schule nicht abgeschlossen, ich bin nach der 8. Klasse abgegangen. Mein Vater wollte nicht, dass Mädchen in die Schule gehen. Er wollte, dass wir früh heiraten. Für mich hatte er schon jemanden ausgesucht, aber ich bin weggerannt. Ich habe ja gesehen, wie es meinen älteren Schwestern erging. Sie hatten jede Menge Probleme, stritten sich mit ihren Ehemännern, liefen weg, kamen wieder ins Elternhaus. Aber mein Vater schickte sie immer wieder zu ihren Männern zurück, weil er für sie ja schon den Brautpreis bekommen hatte."
Einige Jahre zuvor war Joan schon einmal weggelaufen, nach kurzer Zeit aber zurückgekehrt zur Familie: Sie entkam auf diese Weise ihrer Beschneidung, einer brutalen, in Kenia illegalen Prozedur, die bei den Pokot und einigen anderen Völkern trotz des Verbots verbreitet ist.
"Als ich weglief, war ich in der 5. Klasse. Ich habe dann bei einem Freund gewohnt und im Haushalt geholfen, zum Beispiel als Babysitter. Ich bin also weiter in die Schule gegangen, bis ich die achte Klasse abgeschlossen hatte. Dann habe ich an einem Wettkampf in Nairobi teilgenommen und viele Leute haben gesagt, wie gut ich laufe. Ich sagte: Ich kann gar nicht so viel trainieren, das kann ich mir nicht leisten."
Ihre verzweifelte Schwester holte sie zu sich
Aber dann fand Joan eine Mentorin, genauso wie Daniel. Es ist in Kenia üblich, dass sich Sportlerinnen und Sportler gegenseitig unterstützen.
Joan beginnt ihr tägliches Pensum werktags noch früher als Susy und Daniel, sie schlüpft jeden Tag schon um kurz vor fünf zum ersten Mal in ihre Laufschuhe. Zu ihrer Familie hat sie inzwischen wieder Kontakt.
"2014 habe ich meine Familie zum ersten Mal wieder besucht, nachdem ich weggelaufen war. Leute wie mein Vater haben nur Kühe im Kopf. Weil er für mich keinen Brautpreis bekam, musste er auf die Kühe verzichten. Mit dem Geld, das ich durchs Laufen verdiene, habe ich meiner Familie ein richtiges Haus gebaut. Jetzt ist er glücklich, die ganze Familie ist glücklich. Ich wollte ihnen zeigen, dass auch eine Frau nützlich sein kann. Dass man die jungen Mädchen nicht verachten sollte."
Weder Joans sportlicher Erfolg, noch ihre großzügige Geste haben die Einstellung ihrer Familie gegenüber Mädchen verändern können. 2018 fuhr sie noch einmal nach West-Pokot und holte ihre jüngere Schwester Sarah auf deren verzweifelte Bitte hin ab. Die damals 14-Jährige sollte gegen ihren Willen verheiratet werden. Seitdem wohnt sie bei Joan und geht auf die höhere Schule, Joan zahlt ihr Schulgeld.
Noch bleibt Joan Zeit für ihre Karriere als professionelle Langstreckenläuferin. Sie will noch einen Traum verwirklichen.
"Ich werde versuchen, etwas für die Gesellschaft zu tun, vor allem für Kinder. Ich will meiner Familie, Nachbarn und anderen klar machen, dass auch Frauen etwas leisten und Gutes bewirken können. Es geht nicht nur um Ehe und Kinder. Und ich will dafür kämpfen, dass die Beschneidung von Mädchen aufhört."
Susy, Daniel und Joan laufen um ihr eigenes Leben, aber auch um das ihrer Familien und ihrer Schicksalsgemeinschaft. Sie haben ein Ziel und teilen ihren Erfolg. Nur im Startblock, da sind sie allein.