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Hauptstadt der Blinden
Nach dem Ersten Weltkrieg kamen allein nach Marburg 3000 Soldaten in die Augenklinik der Universität, in Marburg wurde auch die Blindenstudienanstalt – kurz "Blista" gegründet. Heute gilt die Stadt mit am blindenfreundlichsten in Deutschland.
Es ist nicht irgendeine Ampel mit Akustiksignal am Marbacher Weg in Marburg. Sondern es ist die erste, die es in Deutschland gab. Der Grund ist die nahegelegene "Blista", vor etwas mehr als 100 Jahren das weltweit erste Gymnasium mit Internatsbetrieb für blinde und sehbehinderte Jugendliche aus dem gesamten deutschsprachigen Europa. Claus Duncker hat die Gesamtverantwortung auf dem sogenannten "Blista-Campus" in Marburg:
"Viele sagen ja, dass Marburg die Hauptstadt der Blinden in Deutschland ist. Und ich finde, das stimmt auch. Und natürlich tragen wir unseren Teil dazu bei. Weil natürlich viele Schülerinnen und Schüler gerne in Marburg bleiben. Weil Marburg einfach eine lebenswerte Stadt ist. Die Universität ist klasse, die Kneipenkultur auch. Von daher ist die hohe Anzahl von Blinden und Sehbehinderten in Marburg hängt damit zusammen, dass die nach der Schule auch gerne in Marburg geblieben sind."
Wer durch Marburg schlendert, sieht immer wieder Blinde mit ihren weißen Langstöcken durch die Stadt laufen. Die 16 Jahre alte Johanna übt gerade mit einer Begleitperson den Weg von ihrer Jugend-WG zu ihrem Blista-Schulcampus und zurück:
"Ich bin seit vier Jahren an der Blista. Seit der 5. Klasse. Aber ich habe nach zwei Jahren die WG gewechselt und muss jetzt meinen Schulweg lernen. Den Weg von hier zu meiner WG beherrsche ich jetzt und jetzt geht es andersrum. Das ist nämlich nicht das gleiche, wie immer alle denken."
"Viele sagen ja, dass Marburg die Hauptstadt der Blinden in Deutschland ist. Und ich finde, das stimmt auch. Und natürlich tragen wir unseren Teil dazu bei. Weil natürlich viele Schülerinnen und Schüler gerne in Marburg bleiben. Weil Marburg einfach eine lebenswerte Stadt ist. Die Universität ist klasse, die Kneipenkultur auch. Von daher ist die hohe Anzahl von Blinden und Sehbehinderten in Marburg hängt damit zusammen, dass die nach der Schule auch gerne in Marburg geblieben sind."
Wer durch Marburg schlendert, sieht immer wieder Blinde mit ihren weißen Langstöcken durch die Stadt laufen. Die 16 Jahre alte Johanna übt gerade mit einer Begleitperson den Weg von ihrer Jugend-WG zu ihrem Blista-Schulcampus und zurück:
"Ich bin seit vier Jahren an der Blista. Seit der 5. Klasse. Aber ich habe nach zwei Jahren die WG gewechselt und muss jetzt meinen Schulweg lernen. Den Weg von hier zu meiner WG beherrsche ich jetzt und jetzt geht es andersrum. Das ist nämlich nicht das gleiche, wie immer alle denken."
Stadt schmückt sich mit Beinamen "Blindenstadt"
Johanna, die ihren Nachnamen nicht nennen will, findet das Marburger Faltblatt, in dem sich die Stadt mit dem Beinamen "Blindenstadt" schmückt, durchaus angemessen:
"Ja, das würde ich schon so sagen. Weil hier gibt es eine Menge Blindenampeln, das ist schon mal gut. Weil, die gibt es in anderen Städten nicht so häufig und ich finde, hier sind die Leute, was das betrifft auch sensibler, als in anderen Städten. Achten mehr auf die Blinden, sprechen einen auch mal an, wenn man den Eindruck hat, als ob man Hilfe braucht: ´Kann ich ihnen helfen?` Oder neulich hat mich ein Mann davor gewarnt, in eine riesige Pfütze zu laufen. Das hätte er auch nicht machen müssen, aber er hat halt drauf geachtet. Und ich finde, das merkt man schon hier in Marburg, das hier die Blista ist."
Autor: "Also, sie würden sagen, es ist tatsächlich nicht übertrieben, wenn die Stadt sagt, wir sind die Blindenstadt?"
Johanna: "Ich finde auf jeden Fall, dass die Blinden hier in Marburg zum Stadtbild gehören."
Das ist so, doch mancher Marburger Neubürger muss sich erst daran gewöhnen, wie diese unlängst zugezogene alte Dame, die ihren Namen nicht nennen will. Die Blinden im Marburger Stadtbild erinnern sie täglich daran, dass ihre Augen deutlich schlechter werden und sie selbst womöglich bald erblinden könnte:
"Das so viele junge Menschen auch mit den weißen Stöcken gehen, das ist schrecklich. Meine Augen werden nämlich auch immer schlechte und deshalb kriegt man Angst, wenn man die jungen Menschen so sieht. Die finden sich irgendwie zurecht, was ich sehr bewundere, das sie so gehen."
Dabei sind die verwinkelten Fachwerkhäuser in der Marburger Altstadt nicht immer der einfachste Bewegungsraum für Blinde und Sehbehinderte, räumt "Blista"-Chef Claus Duncker ein:
"Die Altstadt, es ist schön für einen Blinden, dass sie so hügelig ist. Da kann man sich allein schon am Niveau gut orientieren. Man weiß ungefähr, gehe ich richtig rum oder nicht. Aber es ist klar, so ein altes Fachwerkhaus hat manchmal ja auch schon für Sehende nicht die richtige Kopfhöhe."
"Ja, das würde ich schon so sagen. Weil hier gibt es eine Menge Blindenampeln, das ist schon mal gut. Weil, die gibt es in anderen Städten nicht so häufig und ich finde, hier sind die Leute, was das betrifft auch sensibler, als in anderen Städten. Achten mehr auf die Blinden, sprechen einen auch mal an, wenn man den Eindruck hat, als ob man Hilfe braucht: ´Kann ich ihnen helfen?` Oder neulich hat mich ein Mann davor gewarnt, in eine riesige Pfütze zu laufen. Das hätte er auch nicht machen müssen, aber er hat halt drauf geachtet. Und ich finde, das merkt man schon hier in Marburg, das hier die Blista ist."
Autor: "Also, sie würden sagen, es ist tatsächlich nicht übertrieben, wenn die Stadt sagt, wir sind die Blindenstadt?"
Johanna: "Ich finde auf jeden Fall, dass die Blinden hier in Marburg zum Stadtbild gehören."
Das ist so, doch mancher Marburger Neubürger muss sich erst daran gewöhnen, wie diese unlängst zugezogene alte Dame, die ihren Namen nicht nennen will. Die Blinden im Marburger Stadtbild erinnern sie täglich daran, dass ihre Augen deutlich schlechter werden und sie selbst womöglich bald erblinden könnte:
"Das so viele junge Menschen auch mit den weißen Stöcken gehen, das ist schrecklich. Meine Augen werden nämlich auch immer schlechte und deshalb kriegt man Angst, wenn man die jungen Menschen so sieht. Die finden sich irgendwie zurecht, was ich sehr bewundere, das sie so gehen."
Dabei sind die verwinkelten Fachwerkhäuser in der Marburger Altstadt nicht immer der einfachste Bewegungsraum für Blinde und Sehbehinderte, räumt "Blista"-Chef Claus Duncker ein:
"Die Altstadt, es ist schön für einen Blinden, dass sie so hügelig ist. Da kann man sich allein schon am Niveau gut orientieren. Man weiß ungefähr, gehe ich richtig rum oder nicht. Aber es ist klar, so ein altes Fachwerkhaus hat manchmal ja auch schon für Sehende nicht die richtige Kopfhöhe."
Häuser und Gassen schrecken nicht ab
Doch die mittelalterlichen Häuser und Gassen Marburgs schrecken die Blinden nicht ab. Nicht nur die "Blista" mit Gymnasium und Internat zieht Sehbehinderte aus dem ganzen Land an, sondern auch die Universität. Im Faltblatt der Stadt Marburg mit dem Titel "Blindenstadt" ist zu lesen, dass ein Drittel aller blinden Hochschüler Deutschlands in Marburg studiert. Eine blinde Psychologie-Studentin, die ebenfalls anonym bleiben will, schätzt es sehr, dass die Stadt mit Akustikampeln oder Leitsystemen wie Noppen und Rillen im Boden viel dafür tut, dass sie hier gerne studiert:
"Oder auch, dass es in vielen Supermärkten eine Einkaufshilfe gibt."
Reporter: "Das heißt, wenn sie jetzt in den Supermarkt gehen, dann ist jemand da, der ihnen auch hilft?"
Studentin: "Nicht überall. Aber es gibt Supermärkte, die das anbieten, ja."
Außerdem bekommen die Busfahrer in Marburg die Anweisung, mit dem Bus auch abseits planmäßiger Haltestellen einfach anzuhalten, wenn ein Blinder auf dem Gehsteig etwa mit dem Stock ein Signal gibt, dass er ein öffentliches Verkehrsmittel braucht. Das erzählt die sehende Begleiterin einer Blinden:
"Die Busfahrer werden einfach auch darin geschult, dass sie bei den Blinden halten, das gibt es in anderen Städten einfach nicht."
Auch der weiße Langstock, mit dem viele Blinde sich ihren Weg im öffentlichen Raum selbstständig ertasten können, ist natürlich in Marburg erfunden worden, erzählt "Blista"-Chef Claus Duncker:
"Der ist für Deutschland hier in Marburg entwickelt worden. Damals noch, weil es die in Deutschland nicht gab, hat man ein Fotostativ zerlegt. Weil man das so schön auseinanderziehen konnte, da hat man damit experimentiert. Und die Schulung der Lehrer, die das bundesweit unterrichten, findet auch in Marburg statt."
"Oder auch, dass es in vielen Supermärkten eine Einkaufshilfe gibt."
Reporter: "Das heißt, wenn sie jetzt in den Supermarkt gehen, dann ist jemand da, der ihnen auch hilft?"
Studentin: "Nicht überall. Aber es gibt Supermärkte, die das anbieten, ja."
Außerdem bekommen die Busfahrer in Marburg die Anweisung, mit dem Bus auch abseits planmäßiger Haltestellen einfach anzuhalten, wenn ein Blinder auf dem Gehsteig etwa mit dem Stock ein Signal gibt, dass er ein öffentliches Verkehrsmittel braucht. Das erzählt die sehende Begleiterin einer Blinden:
"Die Busfahrer werden einfach auch darin geschult, dass sie bei den Blinden halten, das gibt es in anderen Städten einfach nicht."
Auch der weiße Langstock, mit dem viele Blinde sich ihren Weg im öffentlichen Raum selbstständig ertasten können, ist natürlich in Marburg erfunden worden, erzählt "Blista"-Chef Claus Duncker:
"Der ist für Deutschland hier in Marburg entwickelt worden. Damals noch, weil es die in Deutschland nicht gab, hat man ein Fotostativ zerlegt. Weil man das so schön auseinanderziehen konnte, da hat man damit experimentiert. Und die Schulung der Lehrer, die das bundesweit unterrichten, findet auch in Marburg statt."
Kulturszene hat sich auf Sehbehinderte eingestellt
Die Marburger Kulturszene hat sich ebenfalls längst auf die vielen hundert jungen Blinden und Sehbehinderten eingestellt, die die Stadt bevölkern. Etwa das Marburger Stadttheater mit Audio-Inhaltsbeschreibungen für Stücke, berichtet Claus Duncker:
"Ja, es gibt ja viele Theaterstücke, die für jemanden, der nicht gut sehen kann, nicht so richtig sich erschließen. Wir hatten jetzt zum Beispiel ein Stück von Molieré, wo eine Person drei verschiedene Rollen spielt und das erkennt man nur an der Kleidung. Dann ist natürlich einer, der blind ist, etwas ausgeschlossen, weil er immer die gleiche Stimme hört. Viele kennen es aus dem Fernsehen bereits, da gibt es ja auch Audiodeskriptionen. Wenn man das auch im Theater verwirklicht, ist das natürlich für die Blinden ein ganz anderer Theatergenuss als vorher."
"Ja, es gibt ja viele Theaterstücke, die für jemanden, der nicht gut sehen kann, nicht so richtig sich erschließen. Wir hatten jetzt zum Beispiel ein Stück von Molieré, wo eine Person drei verschiedene Rollen spielt und das erkennt man nur an der Kleidung. Dann ist natürlich einer, der blind ist, etwas ausgeschlossen, weil er immer die gleiche Stimme hört. Viele kennen es aus dem Fernsehen bereits, da gibt es ja auch Audiodeskriptionen. Wenn man das auch im Theater verwirklicht, ist das natürlich für die Blinden ein ganz anderer Theatergenuss als vorher."
Noch Luft nach oben
Doch trotz aller Vorzüge, die Marburg für Blinde und Sehbehinderte bietet: Luft nach oben gibt es auch hier noch immer, wenn es um die Belange dieser Minderheit geht. Die blinde Psychologiestudentin nennt einige Beispiele:
"An einigen Stellen ist es eben nicht so mit den Supermärkten oder mit den Ampeln auch gerade. Oder auch: Es gibt Geldautomaten mit Kopfhöreranschluss, so dass man sich selber Geld abheben kann. Das ist auch nicht bei allen so, die funktionieren auch öfter nicht. Das sind so ein paar Schnittstellen."
Eine weitere Schnittstelle, wo beinahe etwas zu Lasten der Blinden schief gelaufen wäre, ist der Marburger Bahnhofsvorplatz. Der sollte nach dem Konzept des sogenannten "open space" umgestaltet werden. Keine gute Idee im Hinblick auf Blinde und Sehbehinderte, so Blista-Chef Claus Duncker:
"Open space heißt ja eigentlich, dass alle Verkehrsteilnehmer sich in einer Verkehrsregion frei bewegen. Es gibt keine Verkehrszeichen, es gibt keine Straßenführung. Man guckt sich an und sagt: ´Jetzt gehe ich` und du bleibst mit deinem Auto stehen. Man kommuniziert sehr stark dann auch über Visualisierung und das ist natürlich für Unsere ganz schwierig. Das andere ist, wenn sie die Blinden mit dem weißen Stock sehen, die brauchen immer eine Leitlinie, das ist die Bordsteinkante in der Regel. Da weiß man: Hier trennt sich die Straße von meinem Fußweg, wo ich sicher bin. Wenn sie das nun nicht mehr haben und alle Verkehrsteilnehmer sich gleichzeitig bewegen, dann ist eigentlich ein Blinder verloren."
Damit das nicht geschieht, wurden nun für die Umgestaltung des Marburger Bahnhofsvorplatzes Kompromisse gefunden. Auch das ja womöglich bald anstehende Zeitalter der Elektromobilität ist nicht nur ein Segen für Blinde und Sehbehinderte, gibt Claus Duncker zu bedenken:
"Elektromobile werden ein Problem werden, weil die so leise sind. Viele orientieren sich im Straßenverkehr ja auch nach Gehör und wenn sie das Auto nicht hören, was vor ihnen fährt, dann ist das schwierig. Das ist aber auch generell ein Problem, das gerade von der Gesetzgebung angegangen wird."
Wenn der Gesetzgeber keine Lösung findet – dann ist davon auszugehen, dass man wieder in Marburg etwas erfindet, das seinen Siegeszug von hier aus antreten wird. Etwa ein besonderes akustisches Warnsignal am Elektroauto, wenn es zu nahe an den Bordstein kommt. Die Akustik-Ampel wird sicher nicht die letzte Innovation bleiben, die die "Stadt der Blinden" hervorbringen wird.
"An einigen Stellen ist es eben nicht so mit den Supermärkten oder mit den Ampeln auch gerade. Oder auch: Es gibt Geldautomaten mit Kopfhöreranschluss, so dass man sich selber Geld abheben kann. Das ist auch nicht bei allen so, die funktionieren auch öfter nicht. Das sind so ein paar Schnittstellen."
Eine weitere Schnittstelle, wo beinahe etwas zu Lasten der Blinden schief gelaufen wäre, ist der Marburger Bahnhofsvorplatz. Der sollte nach dem Konzept des sogenannten "open space" umgestaltet werden. Keine gute Idee im Hinblick auf Blinde und Sehbehinderte, so Blista-Chef Claus Duncker:
"Open space heißt ja eigentlich, dass alle Verkehrsteilnehmer sich in einer Verkehrsregion frei bewegen. Es gibt keine Verkehrszeichen, es gibt keine Straßenführung. Man guckt sich an und sagt: ´Jetzt gehe ich` und du bleibst mit deinem Auto stehen. Man kommuniziert sehr stark dann auch über Visualisierung und das ist natürlich für Unsere ganz schwierig. Das andere ist, wenn sie die Blinden mit dem weißen Stock sehen, die brauchen immer eine Leitlinie, das ist die Bordsteinkante in der Regel. Da weiß man: Hier trennt sich die Straße von meinem Fußweg, wo ich sicher bin. Wenn sie das nun nicht mehr haben und alle Verkehrsteilnehmer sich gleichzeitig bewegen, dann ist eigentlich ein Blinder verloren."
Damit das nicht geschieht, wurden nun für die Umgestaltung des Marburger Bahnhofsvorplatzes Kompromisse gefunden. Auch das ja womöglich bald anstehende Zeitalter der Elektromobilität ist nicht nur ein Segen für Blinde und Sehbehinderte, gibt Claus Duncker zu bedenken:
"Elektromobile werden ein Problem werden, weil die so leise sind. Viele orientieren sich im Straßenverkehr ja auch nach Gehör und wenn sie das Auto nicht hören, was vor ihnen fährt, dann ist das schwierig. Das ist aber auch generell ein Problem, das gerade von der Gesetzgebung angegangen wird."
Wenn der Gesetzgeber keine Lösung findet – dann ist davon auszugehen, dass man wieder in Marburg etwas erfindet, das seinen Siegeszug von hier aus antreten wird. Etwa ein besonderes akustisches Warnsignal am Elektroauto, wenn es zu nahe an den Bordstein kommt. Die Akustik-Ampel wird sicher nicht die letzte Innovation bleiben, die die "Stadt der Blinden" hervorbringen wird.