Marc Jeanson / Charlotte Fauve: "Das Gedächtnis der Welt: Vom Finden und Ordnen der Pflanzen"
Aus dem Französischen von Elisabeth Ranke
Aufbau/ Berlin 2020
224 Seiten, 22 Euro
Leidenschaftliche Liebe zur Pflanze
06:09 Minuten
Marc Jeanson, Direktor eines riesigen französischen Herbariums, taucht in die Geschichte der Botanik und die Biografien großer Sammler ein. Dabei spart er auch die Kolonialgeschichte nicht aus. Eine spannende Reise in die Welt der Pflanzen.
Marc Jeanson herrscht über einen magischen Ort in Paris. Dort lagern nicht weniger als acht Millionen getrocknete Blätter, Blüten, Stängel und Dornen verschiedenster Pflanzenarten – ein Großteil dessen, was die Erde an grünem Leben hervorbringt. In seinem faszinierenden Buch "Das Gedächtnis der Welt" lässt der Direktor des Herbariums am Museum für Naturgeschichte in Paris und des Botanischen Gartens von Marrakesch die Geschichte der Botanik und ihrer leidenschaftlichen Liebhaber Revue passieren.
Von abenteuerlichen Reisen
In farbigen Details erzählt er von Abenteurern, die sich in früheren Jahrhunderten auf gefährliche Seefahrten wagten und durch Dschungel kämpften, um die atemberaubende Vielfalt der Pflanzenwelt mit eigenen Augen zu sehen und so viele Belege wie möglich davon heil zurück nach Europa zu bringen.
Also nicht verschimmelt, nicht vermodert, nicht von Unwettern samt Aufbewahrungskisten ins Meer geschleudert, sondern sorgfältig getrocknet und mit aussagekräftigen Etiketten für die spätere wissenschaftliche Auswertung versehen.
Einer von vielen, dessen Spuren das Buch folgt, ist der französische Botaniker Joseph Pitton de Tournefort, der im 17. Jahrhundert eine zweijährige botanische Forschungsreise unternahm und mit 1356 Pflanzenarten aus 673 Gattungen heimkehrte. Mit Sympathie und literarischem Talent schildert Marc Jeanson, unterstützt von der Journalistin Charlotte Fauve, diesen frühen Reisenden:
"Tournefort erklimmt die Pyrenäen, wo, während er schläft, eine Steinhütte über ihm einstürzt. Er kraxelt über die glitschigen Felsen im Wald von Fontainebleau, um sein ‚Moosarium‘ zu bereichern. Trotz Kälte und Tigern besteigt er unbekümmert die mythischen Hänge des Olymps, an denen die Schneerose wächst."
Das ist so lebendig geschildert, dass man meint, dabei zu sein.
Schreckensregime für die Muskatnuss
Vielen Pflanzenjägern früherer Jahrhunderte ging es allerdings nur ums Geld, auch dieses Kapitel spart der Autor nicht aus. Mit Gewürzen ließen sich in der Kolonialzeit exorbitante Gewinne erzielen. Dafür wurden Länder überfallen, Bevölkerungen enteignet und versklavt.
Gleichzeitig setzten findige Konkurrenten alles daran, ebenfalls in den Besitz der begehrten Handelswaren zu gelangen. Das Buch berichtet von dem französischen Botaniker Pierre Poivre, der nicht weniger als 30 Jahre brauchte, bis es ihm nach zahllosen Diebstählen und eingegangenen Setzlingen endlich gelang, die Muskatnuss von der Inselgruppe der Molukken, wo die Niederländer ein Schreckensregime führten und ihre Plantagen scharf bewachten, nicht nur zu entwenden, sondern auf Französisch-Guayana auch erfolgreich anzubauen.
Optimistisch trotz Artensterbens
Immer wieder erzählt Marc Jeanson in diesem Buch auch von sich selbst, seiner geduldigen Systematisierungsarbeit im Herbarium, seinen eigenen Reisen. Am Ende bleibt er trotz des dramatischen Artensterbens optimistisch. "Ich habe auf verbrannten Savannen neue Schneckensamenbäume blühen sehen", betont der Franzose. Erst in fünf Milliarden Jahren sei definitiv das Ende der Pflanzen gekommen – wenn die Sonne zum Gasnebel wird.