Gerade müssen wir viel Zeit zu Hause verbringen. Dass das nicht langweilig ist, sondern auch ein großes Abenteuer sein kann, hat vor mehr als 200 Jahren, 1794, der französische Schriftsteller Xavier de Maistre bewiesen. Wegen eines Arrests, zu dem er nach einem Duell verurteilt worden war, musste er 42 Tage zu Hause verbringen – und hat sich deshalb zu einer "Reise um mein Zimmer" aufgemacht, auf der er das Vertraute als das Fremde, das Gewohnte als das Überraschende entdeckt hat. Wir haben Schriftsteller gebeten, für uns auch solche Expeditionen durch ihr Zimmer zu unternehmen. Den Auftakt machte Lutz Seiler, ihm folgte Zsuzsa Bánk, dann Dörte Hansen. Heute bereist Marcel Beyer seine Wohnung. Er hat für seine Bücher zahlreiche Preise erhalten, 2016 wurde er mit dem Büchnerpreis ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihm "Das blindgeweinte Jahrhundert" im Suhrkamp Verlag.
Der Morgen gibt den Takt
05:34 Minuten
Ein großes Abenteuer in den eigenen vier Wänden? In der Tradition des französischen Schriftstellers Xavier de Maistre begibt sich Marcel Beyer auf eine „Reise um sein Zimmer“ – sein Morgen pflegt im Zeichen der Musik zu stehen.
Die Beine kennen die Stufenhöhe der Treppe, die ich hinuntersteige. Sie senden Signale an den Oberkörper, damit ich nicht aus dem Gleichgewicht gerate.
Arm und Schultern kennen das Gewicht der Haustür, die ich öffnen will. Das Auge unterscheidet nicht nur tages-, sondern auch jahreszeitengenau: Morgens liegt der Schatten auf dem hiesigen Fußweg, nachmittags auf dem Fußweg gegenüber. Auge und Beine wissen gemeinsam, wie weit ein heranfahrendes Auto entfernt sein muß, damit ich ohne zu hetzen über die Straße gelange.
Im nächsten Moment vollziehen sie einen minimalen Tempowechsel, von dem ich so gut wie nichts mitbekomme: Die Automatiktür zum Supermarkt öffnet sich, ohne daß ich anhalten muß oder vor die Glasscheibe laufe. Ich habe sogar gelernt, Glasscheiben zu erkennen, obwohl sie durchsichtig sind – ein Hauch, ein Nichts. Ein Hoch auf das vegetative Nervensystem.
Nutzlose Fähigkeiten des Draußens
Mit dem Beginn des Zimmerlebens ist diese Fähigkeit, sich die Vertrautheit mit der Welt dort draußen Tag für Tag neu zu erarbeiten, nahezu nutzlos geworden.
Vielleicht erfahre ich im Moment, wie es älteren Menschen ergeht, wenn ihr Lebenskreis kleiner wird. Wenn die ein Leben lang trainierte Vertrautheit mit der Außenwelt nach und nach schwindet. Wenn das Zimmerleben beginnt.
Da der äußere Kompaß kaum mehr gebraucht wird, zeigt sich statt ihm der innere Kompaß um so vitaler, feiner, die Unternehmungslust anfeuernd, weil jetzt ohnehin alles innen und innen geschieht – in den eigenen vier Wänden und im eigenen Kopf.
Vor dem Schallplattenregal
So stehe ich jeden Morgen in der blendenden Frühjahrssonne in meinem Zimmer vor dem Schallplattenregal und überlege, welche Musik ich auflegen soll. Den einen Tag ist es Marvin Gaye – vielleicht, weil ich ihn vor zehn Jahren bei gleißender Wintersonne in New York nach dem Aufstehen gehört habe, in einer Zeit, lange bevor mit dem 11. September 2001 die Welt von New York ausgehend aus den Fugen geriet. Den anderen Tag, viele Tage, muß es der Londoner Jazz-Saxophonist Shabaka Hutchings sein, mit seinen Sons of Kemet, mit seinem Trio The Comet is Coming, mit seiner Band Shabaka and The Ancestors – alle Platten von ihm, die ich habe, wegen ihrer atemberaubenden Energie: Das lassen wir uns nicht bieten. Nicht einmal vom drohenden Weltuntergang.
Literatur gibt mir Halt. Trost aber gibt mir Musik. Literatur hat mir immer Orientierungsmöglichkeiten geboten, und sei es, indem Samuel Beckett die Hauptfiguren seiner Romane ziellos durch menschenleere Landschaften laufen läßt oder sie einfach ins Bett legt, zweihundert Seiten lang. Orientierung im Imaginären, ein Kompaß, der mich sicher in die feinsten Verästelungen der Sprache geleitet. Musik dagegen führt mich in andere Welten, die dort draußen tatsächlich existieren. Die bloße Erkenntnis: "Dies alles gibt es", wirkt dabei bereits als Befreiung, und der Sinn der gesungenen Worte spielt nur eine untergeordnete Rolle. Ja, es ist mir fast wohler, wenn ich nicht verstehe, was da gesungen wird – das macht mir die Welt noch einmal weiter.
Literatur gibt mir Halt. Trost aber gibt mir Musik. Literatur hat mir immer Orientierungsmöglichkeiten geboten, und sei es, indem Samuel Beckett die Hauptfiguren seiner Romane ziellos durch menschenleere Landschaften laufen läßt oder sie einfach ins Bett legt, zweihundert Seiten lang. Orientierung im Imaginären, ein Kompaß, der mich sicher in die feinsten Verästelungen der Sprache geleitet. Musik dagegen führt mich in andere Welten, die dort draußen tatsächlich existieren. Die bloße Erkenntnis: "Dies alles gibt es", wirkt dabei bereits als Befreiung, und der Sinn der gesungenen Worte spielt nur eine untergeordnete Rolle. Ja, es ist mir fast wohler, wenn ich nicht verstehe, was da gesungen wird – das macht mir die Welt noch einmal weiter.
Zwei Nadeln
So reagiert mein Kompaß auf Klänge. Die eine Nadel reagiert auf alles, was die andere Nadel zu Gehör bringt. Sie zittern, sie grooven sich ein, finden in der Rille zusammen, und sei die Welt, sei die Lage, sei die Stimmung auch "funky", nämlich: schlecht riechend vor lauter Angst.
Am nächsten Morgen lege ich Manu Dibango auf, da ich erfahren habe, der aus Kamerun stammende Musiker ist mit sechsundachtzig Jahren in der Nähe von Paris gestorben, nachdem er sich mit dem Corona-Virus infiziert hatte.
Und morgen? Morgen wird vielleicht "Jesus Christ Superstar" an der Reihe sein. Warum nicht? Mein innerer Kompaß sagt mir: Im Plattenregal wartet eine ganze Reihe von "Jesus Christ Superstar"-Hits darauf, gehört zu werden. Mein liebes christliches Abendland, bitte festhalten: Keine einzige dieser Aufnahmen wird von einer Christin gesungen – die Sängerinnen kommen aus der Türkei, aus Israel und aus dem Iran. Meine innere Kompaßnadel zittert. Sie zittert in Erwartung der Klänge. Ich fühle mich sicher. Denn die Welt ist weit.
Marcel Beyer benutzt ein "ß", wo es nach neuer Rechtschreibung mitunter "ss" heißen würde.