Die Retrospektive des mehrfachen documenta-Teilnehmers Marcel Broodthaers ist vom 17.Juli bis 11. Oktober 2015 im Fridericianum in Kassel zu sehen.
Die verborgene Kluft zwischen Kunst und Bedeutung
Er war ein Künstlerpoet. Mit skurillen Objekten und Aktivitäten breitete der Belgier Marcel Broodthaers seinen Gedankenkosmos aus. Zum 60. Geburtstag der documenta sind jetzt alle Schaffensphasen seines bezaubernden Werks zu bestaunen - in einer Retrospektive im Kasseler Fridericianum.
Das Bezaubernde an Marcel Broodthaers ist sein Humor, den er in Buster-Keaton-ähnlicher Ungerührtheit zum Besten gibt. Wenn er zum Beispiel eine Katze zur Frage des zeitgenössischen Bildes interviewt. Für Susanne Pfeffer, Kuratorin der Broodhtaers-Retrospektive im Fridericianum, ein Paradebeispiel für das Dilemma von Kommunikation:
"Und man wird in dem Moment gewahr, inwieweit Kommunikation und was man versteht, und was darauf geantwortet wird, dass das immer verschiedene Sprach- und Bezugssysteme sind. Und natürlich antwortet die Katze auf diese Fragen. Nur verstehen wir es vielleicht nicht".
Geheimtipp der Kunstszene
Marcel Broodthaers, der sich 1963 vom erfolglosen Schriftsteller zum bildenden Künstler wandelte und bis zu seinem frühen Tod 1976 ein ebenso verrücktes wie liebenswertes Werk hervorbrachte, war lange Zeit ein Geheimtipp der Kunstszene. Weil er in scheinbar affirmativer Weise Fundamentalkritik übte. Und das ist natürlich das Lieblingsphänomen der Kunstwelt: Jemand, der fortwährend verkäufliche Dinge produziert – Gemälde , Objekte, Zeichnungen, Installationen, Filme – und gleichzeitig den Betrieb in Grund und Boden kritisiert.
Susanne Pfeffer: "Man muss bedenken, Marcel Broodthaers hat sich erst spät, im Alter von 40 Jahren, entschieden, Künstler zu werden. Und er fängt dann an, in die Kunstwelt zu gehen und betrachtet das dann auch sehr von außen. Sehr abstrakt. Und nimmt dann auch alle Rollen ein: Er ist Kunstkritiker, er ist Museumsdirektor, er ist bildender Künstler".
Das Werk von Marcel Broodthaers ist skurril, hat Panoptikumscharakter und wirkt insgesamt wie ein großes Bildrätsel. Das immer noch nicht so ganz gelöst zu sein scheint. Was den großen Reiz ausmacht und weshalb man diese Dinge nicht nur immer wieder gern sieht, sondern auch immer wieder neu. Zum Beispiel den großen Wintergarten mit den Dattelpalmen im Topf, den naturkundlich-ethnologischen Darstellungen an der Wand und der Filmleinwand, auf der Marcel Broodthaers mit einem Kamel durch eben dieselbe Ausstellung geht.
Direktor seines eigenen Museums
Wintergarten, Dattelpalme, Exotismus – das sind die Merkmale des kolonialistischen 19. Jahrhunderts, in dem auch die Institution des Museums zu voller Blüte gelangt. 1968 zog Marcel Broodthaers in seiner Brüsseler Privatwohnung sein eigenes Museum auf: Das Museum der modernen Kunst, Abteilung Adler. Zunächst bestand es nur aus hölzernen Kunsttransportkisten und einigen Postkarten. Später hat er es dann immer weiter ausgebaut, bis es schließlich nach vielen Stationen 1972 auf der documenta gezeigt wurde. In diesem Museum sind zum Beispiel Adlerdarstellungen aus allen Bereichen zu sehen: Fotografien von archäologischen Fundstücken neben Adlerdarstellung aus Werbung, Politik und Film. Stets versehen mit dem schriftlichen Zusatz: "Dies ist kein Kunstwerk".
Susanne Pfeffer: "Ein Museum ist natürlich immer auch eine Institution, die Ordnung schafft. Oder auch Ordnungen hervorhebt. Die bestimmte Sachen zeigt oder nicht zeigt und bestimmte Wertigkeiten definiert. Er setzt eigentlich diese Wertigkeiten außer Kraft, indem er antike Adlerskulpturen neben zeitgenössische Werbung setzt".
Unbeschreiblicher Gedankenkosmos
Es ist unmöglich, den Gedankenkosmos von Marcel Broodthaers, wie er sich in dieser großartigen und aufwändigen Ausstellung im Kasseler Fridericianum ausbreitet, auch nur annähernd zu beschreiben. Angesichts der Schautafeln, Holzvitrinen, Schilder, Muschel- und Eierobjekte meint man eine Volksschulklasse der frühen 1960er-Jahre zu betreten, mit leicht muffigem Geruch. Und zugleich wirkt das alles wie ein verheißungsvolles Erbe, weil sich das System der Bedeutungen und der Kunstbetrieb seither überhaupt nicht verändert haben.
Apropos Buster Keaton. In einem der gezeigten Filme sieht man Marcel Broodthaers, der versucht, mit Tinte einen Text zu schreiben. Dann fängt es an zu regnen, der Text beginnt zu verschwinden, doch der Künstler schreibt unverdrossen weiter.
Susanne Pfeffer: "Was natürlich auch wie ein künstlerischer Akt in sich ist: dass natürlich das Scheitern im Kreativsein, im Künstlersein immer inbegriffen ist".
Wer sich von diesem Film nicht augenblicklich getroffen fühlt, dem ist ohnehin nicht mehr zu helfen. Und der wird diese grandios rätselhafte Ausstellung im Kasseler Fridericianum vermutlich mit einem Achselzucken quittieren.