Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Band 4: Sodom und Gomorrha. Übersetzung und Anmerkungen von Bernd-Jürgen Fischer
Reclam Verlag, Stuttgart 2015
892 Seiten, 34,95 Euro
Der Literat und die Lust
Ein gigantisches Übersetzungsprojekt hat der Reclam-Verlag mit Marcel Prousts Jahrhundertroman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" gestartet. Gerade ist der vierte Band erschienen - "Sodom und Gomorrha". Ein Thema in dem vor fast 100 Jahren erstmals publizierten Werk: die Homosexualität.
"Sodom und Gomorrha" erschien 1921/22 als vierter Band von Prousts Monumentalroman "A la recherche du temps perdu", dessen abschließende drei Teile nicht mehr zu Lebzeiten des Autors publiziert werden konnten. Wie sein biblischer Titel verheißt, rückt Proust darin erstmals explizit das Thema der Homosexualität ins Zentrum, wobei "Sodom" deren männliche und "Gomorrha" deren weibliche Ausprägung bezeichnet.
Der gesellschaftlich endgültig aufgestiegene Ich-Erzähler Marcel legte zuvor Begriffsstutzigkeit an den Tag und wusste – im Gegensatz zum aufmerksamen Leser – homoerotisch geprägte Szenen (wie etwa das von ihm aus der Ferne beobachtete Liebesspiel zwischen der Tochter des Komponisten Vinteuil und deren Freundin im Hause Montjouvain) nicht zu deuten.
Die lesbischen Neigungen der Freundin
Nun aber, im Hof des Palais de Guermantes, sieht er schockiert zu, wie der Baron de Charlus mit dem Westenmacher Jupien auf eindeutigste Weise verkehrt. Dieser grandiose, mit kühnen botanischen Vergleichen angereicherte Auftakt bringt den Erzähler dazu, zugleich über die gesellschaftliche Rolle des Homosexuellen bzw. Invertiten und, anlässlich der Frankreich damals erschütternden Dreyfus-Affäre, des Juden nachzusinnen.
"Sodom und Gomorrha" führt den Erzähler in unterschiedliche Salons und, als er zum zweiten Mal einen Sommer im normannischen Badeort Balbec verbringt, in die Welt des Bürgertums und Landadels. Ohne eine Handlung im eigentlichen Sinne aufzuweisen, ist der Romanteil von ausschweifenden Erinnerungen (etwa an die Großmutter Marcels) durchzogen und von den Ängsten des Erzählers, dass die Vermutung, seine Freundin Albertine habe lesbische Neigungen, zutreffe. Am Ende beschließt Marcel, Albertine nach Paris zu bringen, um sie dort besser überwachen zu können. "Die Gefangene", Band 5 der "Recherche" wird davon erzählen.
Den Tonfall gut getroffen
2013 begann der Reclam Verlag damit, die staunenswerte Einzelleistung des Berliner Linguisten Bernd-Jürgen Fischer zu veröffentlichen: die über einen Zeitraum von zehn Jahren entstandene komplette Übersetzung der "Recherche". Somit konkurriert Fischers "Sodom und Gomorrha" mit der 1999 bei Suhrkamp erschienenen Ausgabe, der die von Luzius Keller und Sibylla Laemmel revidierte Übersetzung Eva Rechel-Mertens' aus den 1950er-Jahren zugrunde liegt. Im Detail lässt sich für und gegen beide Editionen viel anführen. Bernd-Jürgen Fischer darf man auf jeden Fall bescheinigen, Prousts Tonfall gut getroffen zu haben. Schaut man sich einzelne Passagen genau an, erkennt man zum einen, welche gigantische Aufgabe es ist, Prousts Komplexität in Satzbau und Vokabular ins Deutsche zu bringen, und wird, zum anderen, mal eher Fischer und mal eher Keller/Laemmel zuneigen.
Proust-Liebhaber sollten beide Ausgaben besitzen
Ein Beispiel für ungezählte: "La lune était maintenant dans le ciel comme un quartier d'orange pelé délicatement quoique un peu entamé", heißt es im Original, bei Keller/Laemmel: "Der Mond stand jetzt am Himmel wie ein Orangenschnitz, der behutsam abgeschält, aber dabei doch etwas verletzt worden war" und bei Fischer: "Der Mond stand inzwischen am Himmel wie eine sorgfältig geschälte, aber etwas abgebissene Spelte einer Orange." Fragen über Fragen tun sich auf: Kann man Orangen "abschälen"? Ist das Orangenstück wirklich "verletzt"? Oder "abgebissen"? Oder nicht eher "angebissen" oder "eingeritzt"? Und was ist eine "Spelte", ein Wort, das der Duden gar nicht kennt? Ein Druckfehler vielleicht? War "Spalte" gemeint?
Und welche der – gut kommentierten – Ausgaben soll man bevorzugen? Kaum zu entscheiden und für echte Proust-Liebhaber ohnehin keine Frage, denn sie müssen natürlich beide besitzen.