Eine Frage der Gerechtigkeit
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Der Roman "Der Fall Collini" thematisiert das sogenannte Dreher-Gesetz, das viele NS-Täter vor einer Bestrafung bewahrte. Regisseur Marco Kreuzpaintner erzählt, warum er den Stoff unbedingt verfilmen wollte. Und wie es war, mit Franco Nero essen zu gehen.
Patrick Wellinski: Letztes Jahr war Regisseur Marco Kreuzpaintner noch im Gespräch wegen seiner Drogen-Techno-Serie "Beat". Nächste Woche erscheint bereits sein neuester Kinofilm. Und der Tonlagenwechsel könnte nicht härter sein. "Der Fall Collini" ist die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Ferdinand von Schirach. Darin bekommt der junge Anwalt Caspar Leinen seinen ersten Mordfall zugewiesen. Er soll den Italiener Fabrizio Collini verteidigen, der den deutschen Konzernchef Hans Meyer umgebracht hat. Der Fall scheint zunächst noch klar, aber das Motiv bleibt im Verborgenen. Für Leinen wird die Verhandlung aber auch zu einer Reise in seine eigene Kindheit, Hans Meyer war sein Ziehvater. Dessen Enkelin, Johanna, wirft Caspar genau das vor.
Ferdinand von Schirach wollte mit seinem Roman auf das sogenannte Dreher-Gesetz hinweisen. Das ist ein Bundesgesetz von 1969, mit dem es dem Juristen Eduard Dreher, einem früheren NS-Staatsanwalt, gelang, sämtliche Naziverbrechen verjähren zu lassen, indem sie nur als Mittäterschaft eingestuft wurden. Und auch für Regisseur Marco Kreuzpaintner war dieses Gesetz der Antriebspunkt für den Film, wie er im Interview erzählt.
Marco Kreuzpaintner: Das Ausschlaggebende für mich, das ich umsetzen wollte, war die unerhörte, für mich bis dato unbekannte Tatsache, dass in der Bundesrepublik Deutschland 1968 von unserem Gesetzgeber, dem deutschen Bundestag, ein Gesetz verabschiedet wurde, das zum Effekt hatte, dass Verbrecher aus dem Dritten Reich – Schreibtischtäter, Kriegsverbrecher, Mörder – nur noch als Totschläger galten. Totschlag verjährt nach 20 Jahren. Und ergo waren dann 1968, als das Gesetz verabschiedet wurde und alle verjährt waren und damit davongekommen sind, alle straffrei. Ich wusste nichts von diesem sogenannten Dreher-Gesetz. Und als ich davon gehört habe, habe ich gesagt, darum eine Geschichte zu erzählen und das einer breiten Öffentlichkeit bewusst zu machen, mit einem wunderbaren Hauptdarsteller Elyas M’Barek, wahrscheinlich unser größter Kinostar, das war eine Herausforderung.
Auseinandersetzung mit der eigenen Identität
Wellinski: Caspar Leinen, so heißt der Verteidiger, den Elyas M’Barek spielt. Das ist eine sehr interessante Figur, weil, zunächst beginnt er natürlich die Wahrheit hinter dem Mord an Hans Meyer herauszufinden. Auf der anderen Seite muss er auch über sich selbst nachdenken, er war quasi der Ziehsohn von Hans Meyer, dem Toten, um den alles kreist. Auf der anderen Seite muss er sich auch mit seiner Identität auseinandersetzen als Deutschtürke, der jetzt quasi als Migrant die Verbrechen eines alten Deutschlands wieder aufdeckt. Was ist sein Antrieb?
Kreuzpaintner: Ich glaube, dass der ein ganz starkes Gerechtigkeitsempfinden hat. Und das speist sich ja oft bei Personen, die viel Ungerechtigkeit selber erfahren haben, daraus. Ich glaube, das können bestimmt auch viele Hörer nachvollziehen, da erinnert man sich natürlich sofort an Schulhofgängeleien oder Hänseleien oder auf der Arbeit, wenn man sich ungerecht behandelt fühlt. Ich denke, wer selber Ungerechtigkeit erfahren hat, der kann das nicht leicht aushalten, wenn es irgendwo ungerecht zugeht, sondern das ist, Gott sei Dank, so ein grundmoralischer Antrieb in uns allen, dass wir hoffen, dass Gerechtigkeit hergestellt wird.
Wellinski: Ihr Film ist ein Gerichtsdrama und es kreist sehr viel, auch Dialoge, um Wahrheit. Ist denn das Gericht aber überhaupt ein guter Ort für Wahrheitsfindung? Heiner Lauterbachs Figur sagt einmal, es geht dann auch um Vergleiche und um Arbeitsstunden, die man abrechnen kann. Von Wahrheit ist man dann aber weit entfernt.
Persönliches Empfinden von Gerechtigkeit
Kreuzpaintner: Na ja, die Wahrheit. Es ist ja immer die Frage, gibt es eine objektive Wahrheit? Weil wenn man dann zum Beispiel Psychologen hört, die würden dann wahrscheinlich sagen, nein, die objektive Wahrheit gibt es nicht, weil, ein Mensch ist nicht an jedem Tag in der gleichen Kondition zum Beispiel, da wird es dann schon schwierig. Hat man jemanden im Affekt ermordet – hätte man dasselbe getan, wenn man ausgeschlafen gewesen wäre drei Tage vorher? All diese bestimmten Dinge gilt es, zu berücksichtigen.
In "Der Fall Collini" aber geht es eigentlich um die große Frage, was ist rechtens und was ist Gerechtigkeit. Und da gibt es einen Unterschied, weil rechtens ist natürlich das, was nach der Rechtslage vom Gesetzgeber so gefordert wird, dass es ein Richter auslegen muss im Sinne dieser Gesetzeslage. Wohingegen Gerechtigkeit unser persönliches Empfinden in der jeweiligen Zeit natürlich auch, in der wir leben, ist. Und wenn das auseinanderdriftet, dann ist die Gefahr groß, dass in der Gesellschaft Unruhen entstehen, weil natürlich das die Hauptaufgabe ist, die wir dem Staat übertragen: Für Ordnung zu sorgen und dafür zu sorgen, dass das, was rechtens ist, und das, was wir als gerecht empfinden, nicht zu weit auseinanderliegt.
Wellinski: In dem ganz konkreten Fall auch die Frage: Ist Schuld eine Verkettung von Umständen, in denen man gefangen ist, wie Sie gerade erzählt haben? Oder ist die Schuld eher Zufall, weil man eben auf der einen Seite, in dem Fall von Hans Meyer, auf der Seite der Deutschen war?
Kreuzpaintner: Heiner Lauterbach hat dieses berühmte Kohlzitat im Film, er spricht da von der Gnade ihrer späten Geburt und adressiert Caspar Leinen und sagt ihm damit, seien Sie mal froh, dass Sie nicht zu der Zeit geboren sind wie ich. Auf Lauterbach oder auf den Charakter von Lauterbach – auf Mattinger – wirkt das Verhalten von Caspar Leinen arrogant sozusagen, weil er gar keine Ahnung hat, wie er sagt, wie es in diesem Land eigentlich zuging zu dem Zeitpunkt.
Und tatsächlich ist es ja auch heute so, aber ich meine, ich muss mich jetzt nicht unbedingt in die Seelenlage der 50er-Jahre fühlen, mich interessiert eigentlich viel mehr, wie wir heute damit umgehen. Und nach heutigem Gesichtspunkt ist das natürlich überhaupt nicht haltbar, dass so ein Gesetz in der von uns ja gelobten Bundesrepublik, wo man denkt, wir sind eigentlich relativ gut mit unserer Geschichtsaufarbeitung – auch so ein hässliches Wort – umgegangen. Aber wie man es sieht hier an "Der Fall Collini" und an den Dreher-Gesetzen, da gibt es noch viel zu erzählen, auch viele spannende Geschichten. Und ich hoffe, dass viele sich den Film ansehen und in diese Diskussion treten. Und darüber hinaus ist es ja auch ein spannender Thriller geworden.
Wenig Wissen über die NS-Zeit
Wellinski: Wenn Sie es schon sagen, es trifft natürlich auf den gesellschaftlichen Boden. Und Sie haben ja gerade erwähnt, dass Deutschland mit der Geschichtsaufarbeitung relativ weit ist und dafür auch international gelobt worden ist. "Der Fall Collini" kommt ins Kino in einer Zeit, wo durch eine gewisse Partei, die AfD, revisionistische Tendenzen und Sprüche relativ aktuell geworden sind. Jetzt gibt es auch die Forderung, dass Besuche in KZ-Gedenkstätten innerhalb der Lehrerausbildung Pflicht werden. Also, es ist immer noch Thema. Deutschland, der angebliche Weltmeister im Büßen, ist kein Weltmeister mehr im Büßen.
Kreuzpaintner: Ich bin jetzt 42, meine Lehrer waren Alt-Achtundsechziger, ich bin humanistisch ausgebildet. Ich hatte auch noch das Glück, 13 Jahre zur Schule gehen zu dürfen, wo auch Platz war für Diskussionen und Diskurse dieser Art, und man nicht einfach nur ausgebildet wurde als Industriefutter, sondern man wirklich tatsächlich auch noch hinterfragen durfte. Bei meinen Schwestern, die sind jetzt um die 20, da sieht es mit dem Wissen um das Dritte Reich jetzt nicht so rosig aus, sage ich mal. Und von daher glaube ich, dass in der Tat, auch wenn wir natürlich da nicht mehr von Schuld sprechen können, aber was wir nicht sagen können, ist, dass es uns nichts angeht. Und ich glaube, deswegen muss vermehrt auch da wieder in dieser Hinsicht etwas gelehrt werden – und wenn es nur ist, um uns für die Zukunft natürlich ähnliche Schrecken zu ersparen.
Wellinski: Jetzt ist das Gerichtsdrama eigentlich ein uramerikanisches Genre, man könnte auch sagen, dass das amerikanische Justizsystem sehr theatralisch ist und deshalb sehr toll ist für das Kino. Das deutsche Kino tut sich relativ schwer mit dem Justizdrama an sich. Wie sind Sie damit umgegangen? Wussten Sie, dass das letztendlich auch etwas ist, das man stark amerikanisch vielleicht eher erzählen muss?
Kreuzpaintner: Denkt man jetzt so, ich habe es aber gar nicht so stark amerikanisch erzählt. Ich habe weder einen Hammer bei mir im Gericht, noch laufen die wahllos rum. Ich habe mir zweimal erlaubt, dass sie – einmal Caspar Leinen und einmal Herr Mattinger – aufstehen dürfen, weil ich mir natürlich dessen bewusst bin, dass die deutsche Gerichtsbarkeit ein Verwaltungsakt ist. In dem Wort Verwaltungsakt, da hängt jetzt nicht so viel Unterhaltung drin.
Von daher muss man natürlich gucken, dass zu dem Zeitpunkt, wenn man dann ins Gericht geht, die Figuren hoffentlich emotional so aufgeladen sind. Die Richterin, die wunderbar gespielt wird von Catrin Striebeck hier – was sich auf deren Gesicht abzeichnet, ist letzten Endes wie das Pendel, das ausschlägt in die eine oder andere Richtung. Sie weiß aber auch selbst nicht, wie sie jetzt eigentlich juristisch und schon gar nicht moralisch sich verhalten soll. Weil, natürlich bleibt Collinis Tat ein Akt von Selbstjustiz, und auch diese Diskussion ist natürlich spannend, zu sagen: Wie weit würde ich eigentlich gehen, wenn ich das Gefühl habe, dass etwas nicht gerecht ist. Würde ich so weit gehen und würde Selbstjustiz üben? Also, der Staat muss meines Erachtens dafür sorgen, dass es so weit nicht kommt.
Dynamische Kamerafahrten im Gerichtssaal
Wellinski: Aber Sie dynamisieren ja auch den Gerichtssaal, es ist eine sehr agile Kamera, die sich auch gerne häufig direkt an den Rücken klemmt. Also sie mussten schon dagegen arbeiten, gegen diesen recht starre Ablauf einer Prozessordnung, die quasi etwas unordentlich machen, damit es filmisch erzählbar wird.
Kreuzpaintner: Ja, aber sich an Ordnungen abzuarbeiten, macht am meisten Spaß! Aber die Kamera von Jakob Bejnarowicz ist wirklich eine sehr bewegte Kamera, er hat eine ganz klassische echte Cinemascope-Hollywoodkamera, Kameratechnik eingesetzt dafür, mit sehr vielen Schienenfahrten und sehr viel mehr Aufwand auf Kamerabühne, als auf Kameralicht lustigerweise hier bei dem Film. Man wird durch die Kamerabewegungen zu so einem Spielball zwischen den Kräften und das unterstreicht hoffentlich die Spannung und die Emotionen im Film noch.
Franco Nero war kein Casting-Zufall
Wellinski: Die Emotionen kommen ja auch, weil man sieht, dass neben dem großartigen deutschen Cast es auch einen international sehr, sehr tollen Schauspieler gibt, Franco Nero. Er spielt den Fabrizio Collini. War das ein Wunsch von Ihnen, dass er diese Rolle spielt oder ist das Castingzufall?
Kreuzpaintner: Nein, es ist kein Castingzufall, sondern es ist tatsächlich der bewusste Castingvorschlag von Franziska Aigner und auch Martin Moskowitsch von der Constantin gewesen, der aber auf sehr fruchtbaren Boden bei mir gefallen ist sozusagen. Ich hätte mir nur nicht vorstellen können, dass wir den unbedingt bekommen. Ich bin dann, nachdem er das Drehbuch gelesen hatte und ihm das gefallen hat, hat er mich nach Italien, nach Rom eingeladen. Und wir hatten ein Mittagessen zusammen, das damit endete, dass erst mein Plastikstuhl zusammenbrach, ich auf dem Boden saß, und er mir dann aufhalf, sich hinsetzte, und daraufhin sein Stuhl zusammenbrach.
Und irgendwie, wie wir so beide auf dem Boden sitzen neben dem Plastikscherbenhaufen, das klingt jetzt ein bisschen ausgedacht, ist es aber wirklich nicht, da fühlte man sich irgendwie einander nahe. Und seitdem ist diese Nähe auch nur noch gewachsen. Und ja, mit so einer Hollywoodlegende, der 140 Hauptrollen seit 1954 – das muss man sich mal vorstellen – gespielt hat, da ist es natürlich für einen immer noch hoffentlich jung gebliebenen Regisseur mit 42 Jahren ein Geschenk.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.