Marcus Hernig: "Ferdinand von Richthofen. Der Erfinder der Seidenstraße"

Der zweite Marco Polo

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Cover von Marcus Hernigs Buch "Ferdinand von Richthofen. Der Erfinder der Seidenstraße".
© Die Andere Bibliothek

Marcus Hernig

Ferdinand von Richthofen. Der Erfinder der SeidenstraßeDie Andere Bibliothek, Berlin 2023

328 Seiten

44,00 Euro

Von Edelgard Abenstein |
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Der deutsche Geologe Ferdinand von Richthofen gab der chinesischen Seidenstraße einst ihren Namen. Er war ein Pionier, der China von 1868 an erkundete. Der Sinologe und Autor Markus Hernig hat nun eine lesenswerte Richthofen-Biografie vorgelegt.
Er ist ein Pionier mit ehrgeizigen Plänen. Nachdem er sich der neuen Wissenschaft von der Gesteinskunde verschrieben hat, gelangt Ferdinand von Richthofen mit einer preußischen Delegation nach Shanghai. Im einst blühenden, jetzt am Boden liegenden China liegt für ihn der Schlüssel zur Zukunft. Seit Marco Polo hat kein Europäer mehr das Reich der Mitte systematisch bereist.
Richthofen, noch keine 30 Jahre alt, erkundet von 1868 an in zwei Expeditionen die dortigen Bodenschätze, vermisst Berge, Täler, Flüsse, nimmt Gesteinsproben und zeichnet neue Karten. Er entdeckt die ungeheuren Kohlevorkommen und schreibt seine Erkenntnisse in einem vielbändigen Mammutwerk nieder. Richthofen verkörpert den neuen Forschungsreisenden, dessen Expertise das Industriezeitalter mitsamt dem Weg in die Kolonien befeuert. Und er eröffnet zugleich Chinas Aufbruch in die Moderne.

Von der Mühsal des Reisens

Marcus Hernig, der seit 1992 als Autor und Berater für deutsch-chinesische Beziehungen in China lebt, folgt seinem Helden durch 13 Provinzen, von Ost nach West, von Kanton nach Peking, von Nanking nach Xian. Anhand von Richthofens Tagebuch und dessen gelehrter China-Geschichte beschreibt er plastisch die Abenteuer des Unterwegsseins, die Mühsal des Vorankommens zwischen lebensgefährlichem Flugsand am Gelben Fluss und weglosen Anstiegen auf Berge in Sturm und Nebel.
Auch handfeste länderkundliche Fakten breitet der Autor aus, beispielsweise wie der kunstvolle Bewässerungsfeldbau vor 2000 Jahren die legendären ersten Städte hervorbrachte. Und er lässt seinen Protagonisten in erlebter Rede über die Vorteile der Langsamkeit räsonieren, während er von Dampfschiffen und Eisenbahnen in der Zukunft träumt. Welchen Wert das Altern im chinesischen Selbstverständnis darstellt, wie man der in Feindseligkeit umschlagenden Neugier der Menschen begegnet – das sind erhellende Exkurse in die Mentalitätsgeschichte eines fremden Landes.

Ein Mann der instrumentellen Vernunft

In einem facettenreichen Bild zeigt Hernig auch die komischen Aspekte eines europäischen Forschungsreisenden, der sich mit der Landesküche nicht abfinden mag, weshalb er einen riesigen Vorrat Fleischextrakt im Gepäck mit sich führt.
Vor allem aber zeigt er Richthofen als einen Mann der instrumentellen Vernunft. Neben dem Spezialistentum, das ihn als einzigartigen Geologen ausweist, kommt auch dessen Geschick zur Sprache, immer wieder neue Geldquellen aufzutun. Er war offenbar ein Meister des Fundraisings. 
Dass auch dieser Naturwissenschaftler nicht frei war von den Prägungen seiner Zeit, dass er zum Kulturdünkel neigte und zum imperialen Gestus, verschweigt diese Biografie nicht. Was allerdings zu kurz kommt, ist der Ausblick auf die „Neuen Seidenstraße“, wie der chinesische Staatspräsident 2011 das wohl größte Wirtschaftsprojekt der Welt in einem propagandistischen Coup benannte: die gigantische Route von China in den Westen und welche Folgen sie für Europa haben könnte.
Das aber mindert den Wert dieser materialreichen Biografie nicht- führt sie doch ein Forscherleben zwischen dem Dienst an der Wissenschaft und den Mühlen der Politik geradezu exemplarisch vor.
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