Maren Urner: "Schluss mit dem täglichen Weltuntergang. Wie wir uns gegen die digitale Vermüllung unserer Gehirne wehren"
Droemer, München 2019
224 Seiten, 16,99 Euro
Ausweg aus den schlechten Nachrichten
05:55 Minuten
Medien leben vor allem von Berichten über Krisen, Kriege und Katastrophen. Doch schlechte Nachrichten stressen und führen zu Überforderung und Hilflosigkeit, zeigen Studien. Die Neurowissenschaftlerin Maren Urner fordert deswegen einen konstruktiven Journalismus.
Die meisten Menschen liegen völlig falsch, wenn sie einschätzen sollen, wie sich Analphabetismus, Kindersterblichkeit oder die Zahl der Toten bei Naturkatastrophen in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat. Das hat die schwedische Gapminder-Stiftung ermittelt.
Die Zahl der Opfer von Überschwemmungen oder Erdbeben etwa hat sich seit 1970 mehr als halbiert. Vermutet haben das aber gerade mal sechs Prozent der Befragten. Alle anderen glaubten, dass sich die Lage stetig verschlechtert.
Schleche Nachrichten, schlechte Stimmung
Hervorgerufen wird dieses negative Weltbild vor allem durch die Medien, kritisiert die Neurowissenschaftlerin Maren Urner. Am University College in London hat sie daran geforscht, wie das menschliche Gehirn die tägliche Informationsflut, die reißerischen Überschriften und all die Skandale und Missstände, über die berichtet wird, verarbeitet.
Ihr Fazit alarmiert nun selbst: Nicht nur der Blick werde negativer, auch die psychischen Folgen seien weitreichend. Wie sie mit Studien belegt, führen dauerhaft schlechte Nachrichten zu Stress, weil das Steinzeithirn sofort auf eine (vermeintliche) Gefahrensituation reagiert. Und mehr noch: Anstrengender als ein Ereignis sei die Nachricht über das Ereignis, wie etwa Befragungen von Menschen gezeigt hätten, die den Anschlag auf den Boston-Marathon miterlebten.
Überforderung und Hilflosigkeit
Trotz dieser Befunde bleibt Maren Urner durchweg sachlich und schreibt dabei überraschend unterhaltsam. Detailliert klärt die Neurowissenschaftlerin auf, nach welchen Kriterien das Gehirn aus der Vielzahl an Informationen die relevanten auswählt, wie man Urteile bildet, warum man immer glaubt, weniger voreingenommen zu sein als andere und weshalb viele sich inzwischen vom Journalismus abwenden.
Denn mit diesem Mythos räumt sie auf: Dass Journalismus, der seiner Wächterfunktion nachkommt, per se Gutes bewirkt. Anhand weiterer Studien zeigt sie zudem, dass Berichte, die eigentlich empören sollen, zu Überforderung – und bedenklicher noch – zum Gefühl der Hilflosigkeit führen können. War nicht genau das Gegenteil Aufgabe des Journalismus?
Vollständiges Bild der Realität liefern
Denn genau das will Maren Urner: Die Medien besser machen, als sie derzeit sind. Journalisten könnten sich neurowissenschaftliche und psychologische Erkenntnisse zur Informationsverarbeitung zunutze machen, ist sie überzeugt. "Konstruktiven Journalismus" nennt sie diese Herangehensweise, die sie im eigenen Online-Magazin "Perspective Daily" selbst praktiziert.
Ziel sei es, sich nicht auf das Negative zu fokussieren, sondern ein vollständigeres Bild der Realität zu liefern. Etwa durch eine weitere W-Frage: Wie kann es weitergehen? Die richtige Wortwahl, der Einsatz von Hyperlinks, Grafiken und viele andere Tipps: Der Werkzeugkasten, den Maren Urner hier präsentiert, ist so umfangreich und gut aufbereitet, dass man eigentlich nur loslegen muss. Auch wenn die Autorin weiß, dass diese Gründlichkeit im schnelllebigen Mediengeschäft nicht leicht umzusetzen ist. Dass aber genau das wichtig ist, zeigt dieses Buch.