Marga Minco: "Nachgelassene Tage"
Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas
Arco Verlag, Wuppertal 2020
121 Seiten, 22 Euro
„Bewarier“ und andere Profiteure der Shoa
07:18 Minuten
Die niederländische Autorin Marga Minco hat als einzige ihrer Familie den Holocaust überlebt. In präzisen Bildern erzählt sie, wie ihre Nachbarn sich an den Habseligkeiten der verstorbenen Juden bereicherten, ganz ohne schlechtes Gewissen.
Mitte der Neunziger Jahre sitzen auf einer Bungalowterrasse im kalifornischen Santa Barbara zwei ältere Damen. Während der vier Tage, an denen die Ich-Erzählerin aus den Niederlanden hier zu Gast ist, trägt Eva, ursprünglich aus Berlin stammend, leckere Imbisse auf, die von ihr dann auch ausgiebig kommentiert werden: Hier der Avocado und dort die Grapefruit (natürlich aus dem eigenen Garten), dazu der kalte Truthahn und ein Salatdressing, das – hoffentlich – leicht genug ist für die scheinbar endlosen, unbeschwerten Stunden zur Mittags- und Abendzeit.
Bis Eva, die 1933 mit ihrer jüdischen Familie vor den Nazis hatte fliehen müssen und in Frankreich untergetaucht war, aus einem Zimmerschrank ein Album hervorholt. 50 Jahre lang hatte sie es nicht angeschaut, denn ihre Eltern und ihr Bruder Hans, die damals in Amsterdam geblieben waren, hatten "den Krieg nicht überlebt", wie der vage Euphemismus heißt – ermordet in Auschwitz.
Die Nachbarn bereicherten sich
Kurz vor der Deportation hatte Hans eine junge, ebenfalls jüdische Holländerin geheiratet, die dann ebenso verraten und ins Vernichtungslager abtransportiert worden war. Die Ich-Erzählerin des Romans "Nachgelassene Tage", ein alter Ego der Schriftstellerin Marga Minco, war die jüngere Schwester jener Braut und damit Evas Schwägerin.
Ein halbes Jahrhundert hatten die beiden nichts davon, dass die jeweils andere überlebt hatte, und hätten sich doch kurz nach Kriegsende in Amsterdam treffen können. Bevor sie endgültig Europa verließ, hatte Eva nämlich noch einmal den einstigen Unterschlupf ihrer Familie besucht und war von den holländischen Hauptmietern brüsk abgewiesen und mit eben jenem Album abgespeist worden.
Ebenso erging es der Ich-Erzählerin im ehemaligen Versteck ihrer Eltern. Beide aber hatten zuvor noch einen Blick auf die seltsam überbordenden Wohnzimmer werfen können: Waren das nicht die Wertgegenstände, die ihre Eltern beim Untertauchen in die Illegalität als vermeintlich sicheres Pfund noch mit sich geführt und dann den niederländischen Hausherren zur Aufbewahrung überlassen hatten?
Wo alle Spuren getilgt werden
Ohne sich im allzu Deskriptiven zu verlieren, erzählt dieser Roman von der schmerzhaften Abwesenheit von Menschen, denen es im wahrsten Wortsinn sogar verwehrt blieb, in der Dingwelt Spuren zu hinterlassen.
Das Nachwort zu diesem 1997 im Original veröffentlichten und nun in ein ebenso lakonisch-präzises Deutsch übertragenen Kurzroman informiert über den Hintergrund: Viele der Deportierten hatten damals ihre geretteten Habseligkeiten sogenannten "Bewariern" übergeben, einer Wortschöpfung aus "Bewahren" und "Arier". Den ganz wenigen, die nach Kriegsende zurückkamen, hatte man dann jedoch häufig die Rückgabe der Güter verweigert.
Ein ungebrochen gutes Gewissen
Und so war auch Marga Minco, Jahrgang 1920, die als einzige ihrer Familie überlebt hatte, in den Nachkriegsniederlanden zurückgewiesen worden. Fassungslos angesichts des ungebrochen robust guten Gewissens ihrer nichtjüdischen Landsleute, hat sie dennoch ihre Sprache nicht verloren.
Es ist deshalb dem Wiener Arco Verlag gar nicht genug zu danken, dass nicht nur "Nachgelassene Tage", sondern auch die ebenso eindringliche Überlebensgeschichte "Ein leeres Haus" sowie der autobiografische Roman "Das bittere Kraut", quasi die Vorgeschichte während der Besatzung, inzwischen übersetzt sind.
Als nach wie vor lebensneugierige, hochberühmte 100-Jährige lebt Marga Minco nach wie vor in ihrer Heimat. Nun kann ihre kristalline Prosa, die Geschehnisse verknüpft, ohne jemals ins vordergründig Symbolische zu driften, endlich auch von deutschsprachigen Lesern und Leserinnen entdeckt werden.