Maria im Islam

Brückenfigur im Gespräch der Religionen

Klaus von Stosch im Gespräch mit Anne Françoise Weber |
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Das Bild der Mutter Jesu im Koran kann auch Christen inspirieren, davon ist der katholische Theologe von Stosch überzeugt. Zusammen mit einer muslimischen Kollegin ist er in der islamischen Lehre auf eine machtkritische Freundin Gottes gestoßen.
Anne Françoise Weber: Am 15. August begehen Christen in verschiedenen Länder Mariä Himmelfahrt, auch die leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel genannt. Davon ist zwar in der Bibel direkt nichts zu lesen, aber es gibt außerbiblische Texte dazu. Die Lehre geht bis in die ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung zurück, und sie wurde noch 1950 zum Dogma der Katholischen Kirche erhoben. Das zeigt ja alles, welch zentrale Rolle Maria als Mutter Jesu im Christentum hat.
Wir wollen uns an diesem Tag dem Islam zuwenden, und wir wollen fragen, welche Bedeutung Maria, oder Maryam auf Arabisch, denn im Koran hat, wie sie dann in der Tradition wahrgenommen wurde und wie sie von Musliminnen und Muslimen heute wahrgenommen wird. Und dann machen wir sogar noch den Schritt zu fragen, was das im Rückkehrschluss wieder für ein christliches Verständnis von Maria bedeuten kann.
Das will ich besprechen mit Klaus von Stosch. Er ist Professor für Katholische Theologie an der Universität Paderborn, und er hat zusammen mit Muna Tatari das Buch verfasst "Prophetin, Jungfrau, Mutter – Maria im Koran". Herr von Stosch, was erfahren wir denn kurz zusammengefasst über Maria, die Mutter Jesu, erst mal im Koran selbst?
Klaus von Stosch: Der Koran beschreibt Maria in zwei Suren sehr ausführlich und kommentiert dabei die christlichen und biblischen Traditionen und fokussiert oder betont dabei bestimmte Themen, ganz besonders die, die in der christlichen Tradition vernachlässigt wurden oder anders besetzt wurden.

Joseph gibt es im Koran nicht

Zum Beispiel verschwindet Joseph ganz aus der Geburtsgeschichte, Maria hat gar keinen Mann, entsprechend ist auch eine biologische Jungfräulichkeit gegeben im Koran. Es ist interessant, dass der Koran sehr stark betont, wie sehr das Maria in Probleme bringt, wie sie bedrängt wird von ihrer Familie und ihrer Sippe, dass sie gewissermaßen so eine Ausgestoßene ist, die dann am Ende keine andere Hilfe mehr weiß, als auf ihr Baby zu verweisen.
Und Jesus als Säugling spricht dann und verteidigt sie gegen die Vorwürfe, sodass damit deutlich wird, dass für den Koran Jesus von Anfang an Wort Gottes ist. Schon als Säugling kann er sich für seine Mutter einsetzen, und die Mutter ist diejenige, die ganz auf Jesus verweist.
Andererseits ist Maria aber eben gleichzeitig die, die sich ganz an Gott hingibt, die insofern eine typische Muslimin ist. So wird etwa die Idee der Kirchenväter, dass sich der Engel vor Maria niederwirft, wenn er ihr begegnet, invertiert, indem Maria sich bei der Begegnung mit dem Engel in der Verkündigungsszene erst mal selber niederwirft, damit deutlich wird, sie ist diejenige, die sich vor Gott verneigt, und sie ist nicht dadurch, dass sie Gottesmutter ist, diejenige, vor der sich der Engel verneigen muss.

Maria als Gottes-Wort-Gebärerin

Da ist so eine Umbesetzung der christlichen Tradition, es werden Dinge umgekehrt, aber andererseits werden eben auch Punkte aufgegriffen und vertieft. Und die Umkehrungen sind auch Dinge, die wir heute eigentlich gut verstehen können, weil wir ja eigentlich wahrscheinlich es auch befremdlich fänden, uns die Verkündigungsszene so vorzustellen, dass sich der Engel vor Maria verneigt, falls wir überhaupt mit der Idee eines Engels noch etwas anfangen können.
Weber: Aber die sich niederwerfende Maria, diese Maria, die eben Gott in sich aufnimmt, so fast als leeres Gefäß, das ist ja durchaus auch in der christlichen Tradition ein Strang. Ist der auch im Koran so wiederzufinden?
von Stosch: Ja, das ist das Spannende, dass Maria dadurch, dass sie sich Gott öffnet, zur Gottes-Wort-Gebärerin wird. Also der Koran nennt nicht ausdrücklich diesen Titel und sagt eben nicht, wie die christliche Tradition Gottesgebärerin, aber er spricht an mehreren Stellen von Jesus als Gottes Wort.

Eine Kritikerin der Machtstrukturen

Maria bekommt geradezu eine prophetische Rolle dadurch, dass sie sich diesem Wort Gottes öffnet und es hervorbringt aus sich. Insofern hat sie da so eine prophetische Rolle, die gerade dann auch deutlich wird in ihrer Kritik an imperialen Machtstrukturen, die im Koran sehr explizit wird und ein wenig dem entspricht, was wir christlich aus dem Magnificat kennen.
Weber: Da heißt es: Gott wird die Mächtigen vom Thron stürzen. Also haben wir da eine Parallelstelle im Koran?
von Stosch: Ja, genau, der Koran hat da einige Stellen - wenn er in der Spätzeit des Korans scheinbar kritisch gegenüber der christlichen Tradition ist, wendet er sich, wie wir in unserem Buch zu zeigen versuchen, gegen die imperiale Propaganda von Kaiser Herakleios, dem byzantinischen Kaiser dieser Zeit, der Maria als Kriegsgöttin für sich entdeckt hat. 626, in einer großen Schlacht gegen die Awaren, als die Stadt fast verloren ist, weiß er sich nicht anders zu helfen, als auf Maria zu rekurrieren. Und nach seinen Hofschriftstellern und der Hofpropaganda ist es dann Maria ganz allein, die die Feinde in die Flucht schlägt und besiegt.
Der Koran geht darauf ein, also auf die Idee, Maria oder auch Jesus, also beide zusammen, imperial zu verzwecken, um einen Krieg zu gewinnen, und kritisiert das und macht deutlich, dass auch Maria und Jesus eben nicht unverwundbar sind oder den Sieg garantieren. Er versucht sie stattdessen in seine Zeichentheologie einzuführen und zu zeigen: Sie sind ein Zeichen, das auf Gott verweist. Sie werden in ihrer Spiritualität deutlich gemacht und herausgezogen aus solchen politischen Verzweckungszusammenhängen.

Starke Marienfrömmigkeit unter Muslimen

Weber: Ich habe ja vorhin schon erwähnt, dass Maria in der christlichen und vor allem katholischen Tradition eine ganz zentrale Rolle hat. Wie ist das denn in der islamischen Tradition, also jetzt mal über den Korantext hinaus – ist Maria da wichtig, ist sie in der ganzen muslimischen Literatur eine wichtige Person, oder geht sie dann doch sehr unter neben diesem ganz zentralen Mohammed?
von Stosch: Es gibt, wenn man die ganze muslimische Denkgeschichte durchgeht, erstaunlich viele Zeugnisse einer starken Marienfrömmigkeit – natürlich gerade an den Stellen, wo enger Kontakt mit dem Christentum besteht, etwa in Andalusien im Mittelalter. Dort entsteht auch die Idee, Maria als Prophetin anzuerkennen und zu verehren. Dort geht es sogar so weit, dass dann manchmal sogar bei innermuslimischen Streitigkeiten Maria selbst wieder imperial in Anspruch genommen wird und man sich an Maria wendet, um Schlachten zu gewinnen.
Aber jenseits solcher Blüten, die natürlich jetzt muslimisch auch nicht gern gesehen werden und gerade eigentlich dem Geist des Korans widersprechen, gibt es eben die ganz interessante Tradition, dass Muslime auch an Marienverehrungsorten selber um das Fürbittgebet Mariens bitten und dass es etwa in der Türkei, aber auch in vielen anderen muslimischen Ländern eigene, vor allem von Muslimen besuchte Pilgerstätten zu Maria gibt.
Das hat eigentlich eine ganz interessante Wurzel im Koran, weil der Koran eben den Versuch unternimmt, die Besonderheit Mariens zu würdigen und dafür in einer Weise eine Sprache zu finden, dass auch Nichtchristen – also Adressat waren vor allem die Juden an der Stelle – diese Würdigung mitvollziehen können. Er versucht die Sprache so zu verändern, dass man auch, ohne das ganze Christentum einzukaufen, doch eine positive Beziehung zu Maria entwickeln kann, sodass Maria von der koranischen Konzeption her so was wie eine Brückenfigur im Gespräch der Religionen ist.

Christinnen können sich auf die koranische Maria berufen

Weber: Wir haben im Christentum und wiederum besonders in der katholischen Kirche auch diese Seite heutzutage, dass man sagt, Maria ist für uns ein Vorbild als eine starke Frau, als eine vielleicht auch rebellische Frau, also eine Frau, die das Wort ergreift – im Magnificat und anderswo –, und wir haben auf katholischer Seite die Bewegung Maria 2.0.
Könnte man daraus, wenn wir jetzt wirklich in die heutige Zeit gehen, auch ableiten: Musliminnen können sich auf Maria als starke Frau beziehen, können sagen, wir wollen eine wichtigere Rolle für Frauen heute im Islam, in muslimischen Gemeinden, denn wir haben diese Vorbildfigur, diese Prophetin Maria?
von Stosch: Ja, auf jeden Fall. Wir gehen in unserem Buch sogar so weit zu sagen, dass wir uns auch christlich an dieser Stelle in dieser emanzipatorischen Auseinandersetzung auf die koranische Maria berufen können. Das Interessante ist ja, dass im Koran Maria aus einer rein weiblichen Genealogie herauskommt, wichtig sind nur ihre Mutter und Maria – also Jesus hat eine rein weibliche Genealogie mit Maria und deren Mutter.

Maria hat auch kultische Funktionen

Und die Besonderheit und Reinheit Mariens und Jesu, die auch der Koran beschreibt, kommt letztlich aus dem Fürbittgebet von Jesu Großmutter, also das kommt alles aus Frauenpower. Maria wird ja im Tempel groß und ist damit in einen kultischen Zusammenhang eingebettet, sie gilt dann ja auch als der neue Tempel aus christlicher Sicht.
Muslimisch wird sie eben mit dem Tempel ganz eng verbunden und damit in einen kultischen Zusammenhang hineingestellt. Und dadurch, dass ihre Mutter das ermöglicht durch ihr Gebet, ist praktisch die Mutter hier in einer priesterlichen Rolle, sodass man aus dieser engen Verquickung von Maria zur Kirche und zum Tempel, die ja auch für die alte Kirche sehr wichtig ist, durchaus ableiten kann, dass sie auch kultische Funktionen hat. Insofern könnte der Koran dann gelesen werden als Ermutigung auch für so eine Bewegung wie Maria 2.0.

Durch Maria zur Freundschaft Gottes

In jedem Fall ist es aber so, dass Maria für jetzt die innerkoranische Sicht und dann auch die muslimische Rezeption ja die einzige Frau ist, die mit Namen erwähnt wird im Koran und die durch ihre prophetische Rolle tatsächlich Frauen ermutigen kann, Verantwortung in der muslimischen Gemeinschaft zu übernehmen.
Sie wird zwar vom Mainstream der Tradition nicht als Prophetin anerkannt, aber sie wird auch im Mainstream wenigstens als Freundin Gottes bezeichnet – also Al-Ghazali, ein großer mittelalterlicher Theologe, hat das so versucht als Lösung einzuführen, sie als Freundin Gottes zu bezeichnen. Ich finde, Gottesfreundin ist auch wieder für das Christentum eigentlich eine total aufregende Kennzeichnung für Maria, die ganz schön deutlich macht, dass wir durch sie und mit ihrer Hilfe in die Freundschaft Gottes hineinfinden können.
Klaus von Stosch steht am rechten Bildrand, links im Bild ist er erneut auf einer Projektion zu sehen.
Klaus von Stosch© Klaus von Stosch
Weber: Man hört schon bei Ihnen die Begeisterung, wie man eben sich auch christlicherseits befruchten lassen kann von diesen koranischen Bildern und Aussagen über Maria. Da ist aber doch die Frage: Was sagen eigentlich Ihre theologischen Kollegen dazu? Also als Christ zu sagen: Ja, im Koran steht da auch was, was mir für mein christliches Verständnis von Maria weiterhilft - kommen Sie damit durch bei anderen?
von Stosch: Ich erfahre eigentlich sehr viel positive Resonanz an dieser Stelle. Schon länger sieht man, wie stark der Koran Maria in sehr positiver Weise rezipiert. Was wir in dem Buch neu machen, ist, dass wir sehr präzise zeigen, mit welchen Quellen sich der Koran auseinandersetzt und wie er die jetzt theologisch kommentiert und weiterdenkt.

Neue theologische Ideen aus dem Koran

Früher hatte man so eine Obsession, nachweisen zu wollen, dass der Koran ständig plagiiert und irgendwas aus apokryphen christlichen Quellen hat. Wir gehen eher von der Idee aus, dass der Koran mit denen in einem lebendigen Diskussionszusammenhang steht und dabei interessante neue theologische Ideen entwickelt. Und das ist ja erst mal nichts, was dem Christentum etwas wegnimmt, sodass das auch innerhalb der christlichen Theologie, soweit ich das sehe, sehr freundlich aufgenommen und positiv rezipiert wird.
Was wirklich neu ist in unserem Buch, was bisher noch niemand gesehen hat, ist dieser imperiale Zusammenhang, dass die scheinbar marienkritischen Verse sich eigentlich letztlich gegen die imperiale Theologie des Herakleios richten. Das ist tatsächlich neu, und das ist natürlich sehr aufregend und hilfreich für das islamisch-christliche Gespräch, weil es so einer Politisierung von Religion entgegenbaut, die im Moment ja gerade im Islam natürlich auch ein Problem ist, dass manche eigentlich diese koranische Botschaft, Religion und Politik da nicht zu vermengen, nicht ganz so im Blick haben.

Im Gespräch mit muslimischen Gelehrten

Weber: Ist aber nicht immer die Gefahr und besonders die Gefahr, wenn man von außen und nicht aus der Religion selbst kommt, dass man sich so einzelne Verse oder einzelne Aussagen herauspickt und da vielleicht auch seine Wünsche projiziert auf ein Marienbild im Koran, was aber vielleicht doch nicht das hauptsächlich durchscheinende Bild ist?
von Stosch: Die Gefahr besteht auf jeden Fall, deswegen wundere ich mich auch, dass unser Buch das erste ist, was von einem Christen mit einer Muslimin zusammen geschrieben wird. Sonst wird das Thema meistens immer von christlicher oder religionswissenschaftlicher Seite bearbeitet, manchmal auch von muslimischer, eher selten, aber eigentlich noch nie zusammen.
Ich hätte mich nie getraut, solche Sachen zu sagen, wie ich sie jetzt sage und wie wir sie im Buch gemeinsam entwickelt haben, wenn wir das nicht eben auch in gemeinsamer Forschung herausgefunden hätten – und eben nicht nur Frau Tatari und ich, sondern wir hatten eine Forschungskonstellation, in der wir wirklich auch viele muslimische Gelehrte aus der ganzen muslimischen Welt bei uns in Paderborn zu Gast haben durften und mit denen monatelang zusammengearbeitet haben, um wirklich Vers für Vers zu schauen, und nicht nur auf die Verse zu Maria, sondern immer im Gesamtzusammenhang der jeweiligen Suren, also der jeweiligen Kapitel im Koran, um jetzt nicht so atomistisch irgendeine Einzelbotschaft zu finden, sondern zu gucken: Ja, was ist denn das, was der Koran insgesamt sagen will, und passt das zu seiner Gesamtbotschaft, oder suchen wir uns eben da doch nur was raus, was irgendwie nett klingt?
Deswegen ist das Buch ein bisschen dick geworden, aber ich meine, wir können jetzt wirklich zeigen, dass das, was wir hier machen, nicht nur so ein paar freundliche Seiten des Korans zum Christentum zeigt, sondern wirklich die Gesamtvision, die der Verkünder des Korans an dieser Stelle hatte, ins Relief setzt und an Maria verständlich macht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Muna Tatari und Klaus von Stosch: "Prophetin, Jungfrau, Mutter – Maria im Koran"
Herder-Verlag, Freiburg 2021
430 Seiten, 32 Euro.

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