Maria Kjos Fonn: „Heroin Chic“

Tachometer ins Herz

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Cover des Buchs „Heroin Chic“ von Maria Kjos Fonn.
© CulturBooks

Maria Kjos Fonn

Aus dem Englischen übersetzt von Gabriele Haefs

Heroin ChicCulturBooks, Hamburg 2022

224 Seiten

18,00 Euro

Von Tobias Lehmkuhl · 07.04.2022
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Erst die Magersucht, dann die Drogen, und niemand weiß, warum. Die norwegische Autorin Maria Kjos Fonn schreibt virtuos über den Absturz eines behüteten Wohlstandskindes. Dennoch bleibt unklar, warum man "Heroin Chic" lesen soll.
Sprudelnde Erdgasquellen, blühender Sozialstaat, malerische Fjorde, Norwegen ist ein beneidenswertes Land. Aber spätestens seit den Anschlägen von Utøya und den Krimis von Jo Nesbø weiß man, dass auch zwischen Oslo und Bergen nicht alles eitel Mitternachtssonne ist.
Und vielleicht steht die Erzählerin in dem Roman „Heroin Chic“ gerade für dieses scheinbare norwegische Paradox: Obwohl sie aus einem behüteten Elternhaus kommt, obwohl in ihrer Kindheit nicht ein einziger dunkler Fleck zu finden ist und ihr mit ihrem glockenhellen Sopran die Türen zu einer Gesangskarriere weit offenstehen, gerät sie in einen selbstzerstörerischen Sog:

Ich werde es sagen, wie es ist. Hungern, wenn du dafür begabt bist, ist herrlich. Alles wirbelt und leuchtet, wie ein Karussell. Die Farben sind scharf, die Knochen sind scharf. Ich kannibalisierte mich selbst. Ich nagte an den Knochen, aß vom Gehirn, vom Herzen. Wenn ich ein Bild von Anorexie hätte malen sollen: Ein Mädchen mit wildem Blick steht vor dem Kühlschrank und nagt an ihrem eigenen Arm.

Aus "Heroin Chic" von Maria Kjos Fonn

Klar und schlicht, aber nicht unterkomplex

In Norwegen hat Maria Kjos Fonn für ihren zweiten Roman bereits viel Lob erhalten, und in der Tat kann die Autorin schreiben - klar und schlicht, ohne dass ihre Prosa dabei unterkomplex oder eintönig wirken würde. Gabriele Haefs hat sie zudem souverän ins Deutsche gebracht.
Auch weiß die Autorin ihr Material sehr gut zu organisieren, handhabt geschickt verschiedene Zeitebenen und lässt den Prozess des Abhängigwerdens sehr plausibel erscheinen, zuerst vom Essensentzug, dann vom weißen Pulver. „Es war, wie ein Tachometer ins Herz zu bekommen, es ging hoch auf zweihundert, dreihundert, Herz und Zunge rannten mit sich selbst um die Wette. Jetzt begriff ich, dass es etwas gab, das mir an der Welt immer missfallen hatte, sie war so langsam. Als ob sie sich durch nassen Zement bewegte.“

Eine Form für Formlosigkeit

Paradox ist allerdings die literarische Umsetzung der Themen Magersucht und Drogenabhängigkeit in „Heroin Chic“. Denn wie kann man gut, geschickt und souverän von etwas schreiben, das einen Menschen zerstört und aus allen Zusammenhängen reißt?
Wie kann man der Formlosigkeit dieses Zustands - so leichter Hand wie Maria Kjos Fonn es tut - eine Form geben, die derart ausgewogen wirkt? Nach schmalen 220 Seiten wird schließlich sogar noch die co-abhängige, ihr Kind bis zuletzt begleitende, ihm den Schuss setzende Mutter gekonnt in Szene gesetzt. Da stimmt doch etwas nicht.

Die Erzählmaschine funktioniert zu gut

Die Erzählmaschine in „Heroin Chic“ funktioniert einfach zu gut, die Autorin, so könnte man sagen, ist zu schlau für ihren Gegenstand. Sie steht darüber, sie versteht alles, selbst das Nicht-Verstehbare ordnet sie fugenlos in ihren Text ein.
So stellt sich die Frage, was sie mit ihrem Roman überhaupt will, denn er selbst stellt keine Frage. Der Roman ist nicht nur in sich geschlossen, er ist sich selbst genug. Einzig die Frage, warum man ihn lesen soll, lässt er offen.
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