Maria Stepanova über ihre Familie

"Sie befanden sich in permanenter Kampfbereitschaft"

Die russische Schriftstellerin und Familienbiografin Maria Stepanova sitzt an einem Tisch.
Maria Stepanova wurde 1972 in Moskau geboren. © Foto: Andrej Natozinskij
Von Sabine Adler |
Die Schriftstellerin Maria Stepanova schreibt in „Nach dem Gedächtnis“ über die Vergangenheit ihrer Familie. Die Aufarbeitung war kompliziert: Denn viele Menschen fälschten und verschwiegen ihre Vergangenheit im damaligen Russland, um zu überleben.
Es waren die Handschuhe, mit denen sich Maria Stepanova schon als Mädchen abmühte. Weiß, mit zierlichen Knöpfen und so klein und eng, dass kein Reinkommen war. Sie gehörten ihrer Urgroßmutter. Sara Ginsburg, die 1907 nach Paris zum Medizinstudium an die Sorbonne ging und als der Paradiesvogel ihrer russischen Familie galt.
Deren Glacéhandschuhe, wie auch pompöse Hüte mit Resten von Straußenfedern sind sorgfältig verwahrte Andenken an diese Ausnahmeerscheinung, die einzige unter ihren Verwandten, wie Maria Stepanova überzeugt war, jedenfalls am Anfang ihrer Spurensuche. Später gelangt sie zu der Erkenntnis, dass selbst die, an die sich jeder sofort erinnert – die Helden, die Großen, Hervorragenden – unsichtbar werden können.

Zum Schutz abtauchen

Wie ihre Urgroßmutter, denn die tauchte nach der Oktoberrevolution lieber in der Masse unter. Stepanova:
"Das hat meine Urgroßmutter Sara auf gewisse Weise gerettet. Denn sehr viele ihrer Freunde und Kampfgefährten, starben, wurden umgebracht, verbannt, verschwanden für immer. Dass sie ins Familienleben abtauchte, bewahrte sie vor Schlimmerem.
Die sowjetischen Fragebögen, die man nicht nur ausfüllen musste, wenn man eine neue Arbeitsstelle antrat, sondern mindestens einmal pro Jahr, hatten es in sich. Man musste sich genau überlegen, was man reinschreibt oder besser umschreibt beziehungsweise ganz und gar verschweigt.
Man musste angeben, wer man zur Zarenzeit war, ob man gelitten hatte, verfolgt wurde, im Gefängnis saß oder in der Verbannung. Für die Urgroßmutter traf das zu, sie war in Haft und in Sibirien, doch das hat sie Zeit ihres Lebens verschwiegen."

Ein Leben in Habachtstellung

Ebenso behielt sie für sich, dass sie dort auf Lenins Frau Nadeschda Krupskaja sowie den engen Lenin-Verbündeten Jakow Swerdlow getroffen war. Andere hätten sich damit vor den an die Macht gekommenen Bolschewiki vermutlich gebrüstet, einen Vorteil erhofft. Die Urgroßmutter aber war dafür zu klug und sicherte so bei den späteren Stalinschen Säuberungen vermutlich ihr Überleben.
"Vier Generationen mütterlicherseits sind verschont geblieben. Aber es war immer ein Leben in Habachtstellung, wie im Krieg, in dem in jedem Moment wer weiß was passieren konnte. Sie befanden sich in permanenter Kampfbereitschaft."
Für die Poetin und Essayistin, als die Maria Stepanova weit über ihre russische Heimat hinaus bekannt ist, hat Erinnern auch etwas mit Gerechtigkeit zu tun. Sie mahnt, die scheinbar durchschnittlichen, unbedeutenden Menschen nicht zu vergessen. Wer sich ihnen zuwendet, entdeckt auch deren Eigen- und Besonderheiten.

Von einem ins andere Trauma

Heute versteht die Familienbiografin, dass so mancher ihrer Verwandten das Rampenlicht ganz bewusst mied. Sowohl in der Sowjetunion als auch jetzt in Russland ist die Bereitschaft gering, sich den finsteren Kapiteln der Geschichte zuzuwenden: der Zarenzeit und Revolution, dem Stalinismus oder Zweiten Weltkrieg. Damit werde die Bürde der Vergangenheit eher größer.
"Russland leidet nicht an dem einen Trauma wie Deutschland, sondern in Russland geht ein Trauma in ein anderes über. Das ist, als würde man aus einem Zimmer, in dem die Decke eingestürzt ist, die Trümmer wegräumen, sich in das nächste Zimmer flüchten und auch dort kommt die Decke runter.
Und das geschieht immerzu. Irgendwann versteht man, dass diese Ausnahme keine Ausnahme ist, sondern die Regel. In Russland hat man sich nie mit diesen Traumata auseinandergesetzt und nie auch nur begriffen, dass es sich um Traumata handelt."

Mitgestalten, nicht davonlaufen

Anfang der 1990er-Jahre nutzten ihre jüdischen Eltern die Möglichkeit, Moskau für immer zu verlassen. Für Maria Stepanova aber kam ein Leben außerhalb ihres Sprachraums nicht in Betracht. Die Sowjetunion war zerfallen, das Land stand Kopf, veränderte sich von Grund auf. Sie wollte mitgestalten, nicht davonlaufen.
Sie schrieb und schreibt wie besessen, veröffentlichte bislang zehn Gedicht- und zwei Essaybände und hofft, dass sie die letzte in ihrer Familie ist, die die permanente Wachsamkeit der russischen Obrigkeit gegenüber verinnerlichen musste.
"Man darf nicht versuchen, sich vorauseilend richtig zu benehmen, also Regeln einzuhalten, wenn es wie bei uns gar keine gibt. Solch ein Versuch wird dich von innen heraus töten, deine Persönlichkeit verbiegen, sodass von dir nichts mehr übrig bleibt."
Das möchte sie weder für sich als Schriftstellerin riskieren und auch für das von ihr mitgegründete und geleitete Kulturportal colta.ru wäre es ein Bärendienst.

Maria Stepanova: Nach dem Gedächtnis
Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja
Suhrkamp, Frankfurt am Main 2018
527 Seiten, 24 Euro

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