Mariana Enriquez: „Unser Teil der Nacht“

Ein argentinischer Psycho-Roadtrip

06:10 Minuten
Cover des Romans "Unser Teil der Nacht": Es zeigt einen gemalten, eindringlich böse schauenden Mann mit nacktem Oberkörper und feuerroten Haaren vor blauem Hintergrund.
© Tropen

Mariana Enriquez

Aus dem Spanischen von Inka Marter und Silke Kleemann

Unser Teil der NachtTropen, Stuttgart 2022

832 Seiten

28,00 Euro

Von Dirk Fuhrig |
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Die Schriftstellerin Mariana Enriquez entwickelt aus einer Autofahrt ein finsteres Familienepos. Doch in dem langatmig erzählten Märchen wird die Tradition des „magischen Realismus“ fast zur Karikatur übertrieben.
Juan Peterson ist mit seinem Sohn Gaspar im Auto unterwegs. Sie reisen von Buenos Aires in die abgelegene Provinz Misiones, ganz im Norden Argentiniens. Die Angst vor Polizei und Militär ist stets latent präsent – denn diese Anfangsgeschichte des aus mehreren Zeitebenen bestehenden Romans spielt im Jahr 1981, also noch mitten in der Diktatur.
Der Vater ist einerseits fast hysterisch besorgt um seinen von Migräneanfällen und Angstattacken gepeinigten Sohn. Andererseits neigt er zu Gewaltausbrüchen gegenüber Gaspar.

Szenerie aus dunkler Magie und Verschwörung

Juans eigener Körper ist gezeichnet von tiefen Narben. Er hat mehrere Herzoperationen hinter sich. Doch stammen diese Wunden womöglich von Folterungen? Alles erscheint denkbar in diesem finsteren Szenario, in dem die Anrufung von Dämonen, verwunschene Häuser, Seelenwanderung und Geheimbünde, aber auch bizarre Praktiken wie Selbstverletzung durch Ritzen eine Rolle spielen.
Gaspars Mutter, die bei einem Unfall ums Leben kam, stammt aus einer reichen, einflussreichen Familie, die einem international bestens vernetzten „Orden“ angehört, der die Geschicke der Menschen mit Gewalt und Magie beeinflusst. Eine Art Weltverschwörung der Oberschicht klingt an. Diese Strippenzieher kollaborieren mit den Militärs, so darf man annehmen. Jedenfalls haben sie ganz wörtlich „Leichen im Keller“.

Ausgelassenes Stadtleben nach der Diktatur

Der okkultistische Psycho-Roadtrip, auf dem Menschen geopfert und im Dunkel der Nacht Friedhöfe und Teufelskapellen besucht werden, mündet nach rund 500 anstrengenden Seiten und einem Rückblick in die 60er-Jahre in die Post-Diktatur-Epoche: Gaspar wird vom Kind zum jungen Mann.
Er lebt jetzt in der Unistadt La Plata, lernt Gleichaltrige kennen, die ein freies Leben nach der Unterdrückung ausprobieren – auf politischer Ebene in Form von Studentenprotesten, auf der privaten im Ausleben von (Homo-)Sexualität.
Die AIDS-Krise und ihre Überwindung nach der Entwicklung einschlägiger Medikamente ist kurzzeitig ein Thema – auch wenn nicht recht klar wird, warum.
Urbane junge Menschen, die sich auf Vernissagen tummeln, Schönheit und Begehren, schon vorher im Roman gelegentlich angeklungen, spielen mit einem Mal eine große Rolle: Gaspar besitzt, wie auch schon sein Vater Juan, eine starke erotische Anziehung auf Frauen und Männer.

Ein Dickicht aus Teufelskult und Verschwörung

In diesem Abschnitt des Buchs schildert Mariana Enriquez die Aufbruchsstimmung der jungen Generation sehr plastisch, packend und mit leichter Hand. Unvermittelt entsteht eine moderne, diverse, liberale Gegenwelt zu dem Dickicht aus Teufelskult und Verschwörung.
Der kurze Ausblick in ein scheinbar normales Leben ist jedoch nicht von Dauer. Gaspars Dämonen kehren zurück, auch wenn seine Wahnvorstellungen durch psychiatrische Behandlung gelindert werden konnten. Letztlich aber zieht es ihn zurück in die verschworene Ordensgemeinschaft, in der seine geheimbündlerischen Großeltern den Ton angeben.

Langatmig erzählter Roman

Die heterogenen, sehr ungleich gewichteten Blöcke dieses Romans fügen sich nur schwer zusammen; die Dramaturgie ist unausgewogen. Die für einen Teil der südamerikanischen Literatur charakteristische Verknüpfung von volkstümlich-übersinnlichen Elementen und Sozialoman kommen nicht wirklich überzeugend zu einer Einheit. Die Erzähltradition des „magischen Realismus“ wird hier fast zur Karikatur übertrieben, wirkt manieriert. 
In Handlung und Sprache lässt sich die Gewalt der Geschichte und Gesellschaft Argentiniens zwar untergründig erspüren, die Bezüge zur tatsächlichen (diktatorischen) Vergangenheit bleiben jedoch sehr vage.
„Unser Teil der Nacht“ ist eine langatmig auserzählte Fantasy-Story, ein brutales Märchen, das zu wenig aus der düsteren Zauberwelt heraus in die Wirklichkeit blicken lässt.

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