Ganz bestimmt keine harmlose Buntmalerin
In den 1880er-Jahren wurde Marianne Werefkin als "Russischer Rembrandt" gefeiert. Dann zog sie nach München und versammelte zahlreiche namhafte Künstler um sich - wurde als Malerin jedoch kaum mehr wahrgenommen. Nun präsentieren die Museen Böttcherstraße in Bremen nach 15 Jahren Werefkin-Abstinenz eine Retrospektive mit über 80 Gemälden der Künstlerin.
"Als ich mich mit ihr auseinandergesetzt habe, ganz am Anfang: Ich hab sie mir fröhlicher vorgestellt. Man denkt: 'Marianne Werefkin?' - 'Bunte Bilder!'"
Diese Vorstellung wischt die Kuratorin Tanja Malycheva mit einem Handstreich beiseite. Gleich im ersten Raum hängen albtraumhafte Metaphern über Einsamkeit: Eine geländerlose Brücke spannt sich quer über das Bild, überragt einige hohe, schmale Häuser. Ganz rechts am Bildrand betreten zwei vermummte Gestalten die Brücke.
Oder: Ein fahlgelber Mond steht knapp über dem Horizont, bescheint eine eisig-blaue Flussbiegung. Im Vordergrund ragen einige kahle Bäume aus rosafarbenem Grund. Wieder ganz am rechten Bildrand geht eine einsame Gestalt. Die Farben: düster, giftig, kalt.
"Wir haben in dem ersten Saal ganz viele Bilder, wo einzelne Personen zwischen den Bergen eingeschlossen sind, oder sich in der weiten Landschaft verlieren, an den Rand des Bildes oder ganz weit in den Hintergrund gerückt sind. Und das ist auch ein Stück ihrer selbst, was sich dann in diesen Bildern spiegelt."
Eine Frau, die die Kunstakademie besuchte
Die Arbeiten entstanden zwischen 1906 und 1928. 1906 war Marianne Werefkin 46 Jahre alt. Zehn Jahre lang hatte sie keinen Pinsel mehr angerührt - aber bereits ein erfolgreiches Künstlerleben hinter sich. Denn in Russland war ihr möglich, was Frauen hierzulande bis 1918 verwehrt blieb: Sie konnte studieren. Und so besuchte Werefkin erst in Moskau, ab 1885 dann in Sankt Petersburg die Kunstakademie.
"Marianne Werefkin hat ihrem Vater mit 18 schon gesagt, dass sie nie dieses Bedürfnis hat, sich mit weiblichen Vergnügungen zu beschäftigen, und hatte einen unglaublichen Bildungsdrang. Also: Sie sprach fließend Englisch, Deutsch, Französisch, Litauisch, und später Italienisch."
Sie lernte bei Ilja Repin, dem berühmtesten Maler ihrer Zeit. Und sie nahm teil an den berühmten Wanderausstellungen fortschrittlicher russischer Künstler, die in naturalistischem Stil gesellschaftliche Missstände kritisierten, malte Bettler, einen zerlumpten, jüdischen Tagelöhner, Bauern.
1896 zog sie nach München. Im Schlepptau: Eine Pension, die ihr bis zur Revolution 1917 ein fürstliches Leben sicherte - und Jawlensky, den sie liebte und förderte. Sie selbst hörte auf zu Malen, da sie meinte, nichts Neues mehr entwickeln zu können. Während dieser Schaffenskrise aber schrieb sie kunsttheoretische Texte, diskutierte in ihrem Salon mit Freunden über neue Vorstellungen von Malerei. Einige von ihnen - etwa Gabriele Münter, Natalia Gontcharova oder Maria Marc - werden in zwei Extraräumen vorgestellt. Und endlich griff sie wieder zum Pinsel. Tanja Malycheva:
"Sie hat ja angefangen mit ganz anderen Stilen zu malen, was auch noch sehr stark an Repin erinnert. .... Und dann - ab 1906 - da spürt man: Diese knalligen Farbkontraste! Diese vereinfachte Formgebung! Starke Konturierung! Verzerrte Perspektiven! All das plötzlich, wie ein Gewitter - und sie kann dann nicht mehr aufhören."
Russischer Realist Ilja Jefimowitsch Repin als Vorbild
In satirischen Zeichnungen zieht sie her über die High Society, zeigt das gezierte Gehabe ausstaffierter junger Frauen. Dagegen setzt sie Bilder arbeitender Menschen, für die sie ihre neue Bildsprache verwendet: Eine Reihe schemenhafter Arbeiter schleppt sich müde zur Nachtschicht, läuft zu auf bedrohlich-große, hell erleuchtete Fabrikhallen. In düsteren Blautönen zeigt sie eine Reihe Fischer, die mühsam ein Boot aus dem Meer ziehen. Vor einem halb abgetragenen, grell orange leuchtenden Berg sieht man Holzfäller einen riesigen Baumstamm über eine Straße tragen.
"Wieder einmal kommt Repin als Vorbild, als Lehrer, eine ungeheuer große Rolle zu. Sein Gemälde Wolgatreidler von 1873 - was sie natürlich bestens gekannt hat! - in ganz Europa kannte man dieses Bild, bei ihr finden wir das auch immer wieder: Als würden die Menschen so eine Menschenkette bilden, gebeugt, hintereinander laufend, die Last des Lebens lagert auf ihren Schultern. Also dieser Blick auf die Menschen am Rande der Gesellschaft, Arbeitervolk, das war etwas, was sie sehr beschäftigt hat."
Wieso aber galt Werefkin bisher als modernistische, harmlose Buntmalerin? Sollte damit von ihren kritischen Inhalten abgelenkt werden?
In Bremen kann man nun sehen, dass Werefkin neue Ausdrucksformen und neue Farben nur interessieren, weil sie diese für ihre wirklichkeitsbezogenen Inhalte benötigte, anstatt für blaue Pferde. Ihre waghalsigen Bildkompositionen, ihre groben Vereinfachungen, ihre ungewöhnliche Farbpalette benötigt sie, um die unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen arbeitenden Menschen angemessen zeigen zu können: So gelangt sie vom naturalistisch gemalten, russischen Tagelöhner zum modernen Fabrikarbeiter, den sie vor übermächtig großen, fahl-grün rauchenden Fabrikschloten malt.
Heitere, bunte Bilder? Die ihrer berühmten männlichen Blaue-Reiter-Kollegen sind es sicherlich. Marianne Werefkin aber wird nach dieser Ausstellung niemand mehr in den Topf der inhaltlich belanglosen Farbexperimentierer schmeißen können!