Marie Darrieussecq: Unser Leben in den Wäldern
Aus dem Französischen von Frank Heibert
Secession Verlag, Berlin 2019
112 Seiten, 18 Euro
Warnung aus der Zukunft
Eine Frau flieht vor der Totalüberwachung in den Wald und versucht, in Metaphern von ihrer Welt zu berichten. "Unser Leben in den Wäldern" von Marie Darrieussecq ist ein Zukunftsroman, der mit Migration und Digitalisierung recht gegenwärtig wirkt.
Literarische Science Fiction hat Konjunktur, besonders in der düsteren Variante der Dystopie, des in die Zukunft projizierten Katastrophenszenarios. Die Unübersichtlichkeit der Welt, die rasante Entwicklung des technisch Machbaren, digitale Vollvernetzung – wir scheinen von Gefahren umstellt, die uns vor sich hertreiben, einer düsteren Zukunft entgegen.
Marie Darrieussecqs "Unser Leben in den Wäldern" liest sich wie eine literarische Fingerübung in Sachen Dystopie, camoufliert als handgeschriebenes Notat (Bleistift auf Papier!) einer vor der Totalüberwachung in die Wälder fliehenden Frau, irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft.
Der erste Satz gibt das Tempo vor:
Marie Darrieussecqs "Unser Leben in den Wäldern" liest sich wie eine literarische Fingerübung in Sachen Dystopie, camoufliert als handgeschriebenes Notat (Bleistift auf Papier!) einer vor der Totalüberwachung in die Wälder fliehenden Frau, irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft.
Der erste Satz gibt das Tempo vor:
"Ich tat das Auge auf und peng, alles trat zutage."
Wir eilen lesend der uns direkt ansprechenden Erzählerin hinterher, klauben Informationen zusammen, um uns ein Bild von ihrer Lage und den Lebensumständen ihrer Zeit zu machen. Das wird uns nicht immer leicht gemacht. Darrieussecq webt listig Erzählvermeidungsstrategien in den Text, wie:
"Ich kann mich nicht allzu sehr über unser Leben in den Wäldern auslassen. Eine Frage der Sicherheit."
Und ist das alles überhaupt so gemeint, wie es da steht?
Der totale Überwachungsstaat ist längst Wirklichkeit
"Ich spreche metaphorisch, wenn Sie mir folgen können", heißt es, "angeblich kann man mit Metaphern die Roboter buggen". Schließlich ist der totale Überwachungsstaat längst Wirklichkeit.
"Wir benutzten möglichst viele Metaphern ... Die Roboter nehmen das wortwörtlich, und das stört ihren Datenabgleich."
Die Roboter lassen sich übrigens auch durch den Mehrfacheinsatz von Verneinungen irritieren – was man ihnen nicht verdenken kann:
"Und glauben Sie nicht, ich wäre mir nicht sicher, keine Nicht-Person zu sein."
Die Erzählerin ist Psychoanalytikerin, wobei die inzwischen controller heißen. Der Text geriert sich als Umkehrung einer vielzitierten Grundkonstellation: Sie spricht, wir hören zu. Das wird mit einem Augenzwinkern behandelt (eine Metapher, die schon wieder brenzlig ist, der Erzählerin fehlt ein Auge), wenn komplexe Zusammenhänge in nicht weiter kommentierten Assoziationsreihen zusammengefasst werden, wie: "Blau = Himmel = Melancholie = Musik = Prellung = blaues Blut = Adel = Enthauptung".
Die Erzählerin ist Psychoanalytikerin, wobei die inzwischen controller heißen. Der Text geriert sich als Umkehrung einer vielzitierten Grundkonstellation: Sie spricht, wir hören zu. Das wird mit einem Augenzwinkern behandelt (eine Metapher, die schon wieder brenzlig ist, der Erzählerin fehlt ein Auge), wenn komplexe Zusammenhänge in nicht weiter kommentierten Assoziationsreihen zusammengefasst werden, wie: "Blau = Himmel = Melancholie = Musik = Prellung = blaues Blut = Adel = Enthauptung".
Liest sich wie eine aktuelles Weltszenario
Allerdings wird man den Eindruck nicht los, dass das Szenario vor allem dazu dient, die Lage der Welt zum Zeitpunkt des Texts zu entwerfen. Das ist nicht ohne Reiz, in vielem gut gemacht, hat Zug, Kraft, Atmosphäre und immer wieder spannende Elemente. Aber es fügt sich nicht wirklich zu einem Psychogramm, einem Tableau oder einem Roman.
Zu offensichtlich sind die größten Angstquellen der Gegenwart ziemlich linear in die Zukunft projiziert: Migration und die Lage von Flüchtlingen, digitale Vernetzung und Totalüberwachung, das Klonen und, damit verbunden, Selbstoptimierung und Organhandel. "Schlimme Zeit", steht, fast wie ein Trenner, immer wieder zwischen zwei Absätzen, im Wechsel mit: "Mir ist kalt". Als wollte die Autorin uns mit ihrem Text vor allem warnen – und zwar vor etwas, was vielleicht schon so ist, wie es schlimmstenfalls werden könnte.