Wir haben die französische Autorin Marie NDiaye in ihrer Pariser Wohnung [AUDIO] besucht , in einem Arbeiterviertel im Osten der Stadt mit vielen Plattenbauten. Es sei nicht das schöne Paris, sagt sie, sondern ein zusammengewürfeltes Etwas. Es erinnere sie an Berlin, wo sie zehn Jahre gelebt hat. Sie hatte Frankreich wegen des rassistischen Klimas verlassen. Nun ist sie in ihre Heimatstadt zurückgekehrt.
Das Bröseln des Subjekts
06:03 Minuten
Was geschah vor Jahren in einem Zimmer, in dem eine Zehnjährige und ein etwas älterer Junge längere Zeit allein waren? Das Loch in der Erinnerung saugt die Identität einer Rechtsanwältin auf, die eigentlich eine Kindsmörderin verteidigen soll.
Marie NDiaye zieht in ihrem Roman "Die Rache ist mein" der Hauptfigur und den Lesern kunstvoll den Boden unter den Füßen weg. Alle Sicherheiten lösen sich für Me Susane auf. Die alleinstehende, nicht erfolgreiche Anwältin in Bordeaux soll überraschend einen Aufsehen erregenden Fall übernehmen: die Verteidigung einer Mörderin von drei Kindern.
Verteidigerin einer Mörderin
Me Susane – Me für Maître, Anwältin – ist gleich doppelt irritiert: Der Ehemann der Mörderin, Gilles Principaux, scheint vom Verlust seiner Kinder kaum mitgenommen. Und er kommt ihr bekannt vor. Als Zehnjährige begleitete sie ihre Mutter, die bei der reichen Familie Principaux putzte, und folgte dem etwas älteren Sohn des Hauses in sein Zimmer. Steht er jetzt wieder vor ihr?
Damals veränderte er das Leben der Zehnjährigen. Nur wodurch? Was geschah damals im Zimmer? Etwas Traumatisches? Etwas Wunderbares? Me Susane weiß es nicht mehr und ihre Eltern wollen an nichts erinnert werden. Der Vater lässt aber durchblicken, dass sie damals vergewaltigt worden sei – und bricht den Kontakt zur Tochter ab, um nicht mehr behelligt zu werden.
Schwanken zwischen Hybris und Ohnmacht
Irritiert ist Me Susane auch von Gilles Principaux‘ Version des Ehelebens. Sie widerspricht diametral der seiner inhaftierten Frau. Einig sind sie nur darin, Schuldgefühle gegenüber dem jeweils anderen zu empfinden.
Bald schält sich der Eindruck einer wechselseitigen Verfehlung heraus, weil jeder dem anderen Wünsche unterstellte und sie zu erfüllen suchte. Dies wuchernde Imaginäre mit seinem Schwanken zwischen Hybris und Ohnmacht kennt Me Susane durch den Aufstieg aus dem Kleinbürgertum nur zu gut.
Das Motiv des Schichtwechsels in "Die Rache ist mein" erinnert an die Romane von Èduard Louis und Didier Eribon. Doch bei der vielfach prämierten, 1967 bei Orléans geborenen Marie NDiaye wird daraus eine Krankengeschichte moderner Subjektivität, erzählt aus größter Nähe zu Me Susane.
Hin und wieder werden Gedanken der Anwältin kursiv eingerückt. Beinahe alle Handlung ist in die Figur verlegt, mit gewaltigen Ausschlägen: Me Susane überlegt fortwährend, ob das eben Gesehene, Gehörte, Erlebte nun der Überzeugung oder der Hinterlist des Gegenübers entspringt, ob es sich um Liebe oder Verachtung, Wahrheit oder Trug handelt.
Roman ist ein Psychoirrgarten
Me Susanes Ex-Freund, dem Rechtsanwalt Rudy, ergeht es ähnlich. Auch ihn quälen nach dem sozialen Aufstieg Minderwertigkeitsgefühle. Oder glaubt das Me Susane nur, weil sie allein Ähnlichkeiten wahrzunehmen vermag?
Der Roman, dessen Motive vielfach variiert und kunstvoll miteinander verschränkt werden, ist ein Psychoirrgarten. Me Susane muss sogar befremdet feststellen, dass jedermann, selbst ihre Eltern, sie für die Mutter von Rudys Tochter Lily halten. Ist sie es?
Sicher weiß Me Susane nur gegenüber einer illegal aus Mauritius eingewanderten Frau, was moralisch geboten ist: Sie stellt Sharon als Putzfrau an, obwohl sie keine braucht, und verspricht, ihren Status zu legalisieren. Sharon reagiert allerdings nicht dankbar, sondern gereizt. Und sie putzt auch bei einer älteren Dame namens Principaux. Handelt es sich womöglich um die Mutter von Gilles?
Winzige sprachliche Entstellungen verraten Bröseln des Subjects
Marie NDiaye variiert virtuos und souverän die Geschichte von Blaubarts Zimmer. Eine sich ausbreitende und alles erfassende Unsicherheit löst die Identität von Me Susane auf.
Winzige sprachliche Entstellungen, an denen die Übersetzerin Claudia Kalscheuer ihre Freude gehabt haben dürfte, verraten das Bröseln des Subjekts: Als Me Susane von einem Dieb überfallen wird, spricht sie den Unsichtbaren in ihrem Rücken an mit "Principaux? Wer bist du für mich?" Der Mann schweigt, verschwindet und mit ihm der letzte Rest an Gewissheit.
Marie NDiaye: "Die Rache ist mein". Roman
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021
237 Seiten, 22 Euro