Marie NDiaye: Die Chefin. Roman einer Köchin
Suhrkamp-Verlag, Berlin 2017
333 Seiten, 22 Euro
"Wie funktioniert das, wenn man sich vollständig der Kochkunst widmet?"
Es gebe viele Kochbücher, aber über die Motivation des Kochs erfahre man nichts, sagt Marie NDiaye. In ihrem Roman "Die Chefin" schreibt sie über eine Köchin. Im Interview erklärt sie, warum sie diesmal nichts Politisches aufgegriffen hat - und ob das Roman-Menü gekocht werden kann.
Joachim Scholl: Flusskrebspastete, Lammhirnkrapfen mit Sardellensauce, Kalbsklößchen, im Ofen gebackenen Thunfisch, Rinderbraten mit Lavendelhonig, ein Vanilleparfait mit Moccasauce – das ist die erste Speisekarte von La Bonne Heure, ein Restaurant in Bordeaux, das am 3. April 1973 eröffnet wird von la cheffe, der Chefin. Sie ist es, die dem neuen Roman von Marie NDiaye den Titel gibt, und mit der französischen Schriftstellerin, Goncourt-Preisträgerin, sind wir jetzt verbunden. Bonjour, guten Tag, Madame NDiaye!
Marie NDiaye: Bonjour!
Scholl: Sie haben etliche Jahre in Berlin gelebt, Frau NDiaye. Heute inzwischen erreichen wir Sie jetzt aber tatsächlich in Bordeaux am Schauplatz Ihres Romans. Haben Sie eine besondere Beziehung zu dieser Stadt, zu dieser Region?
NDiaye: Bordeaux ist die größte Stadt in der Nähe des Dorfes, in dem ich jetzt lebe. Es liegt 70 Kilometer entfernt, und ich wohne dort am Ufer der Garonne. Das ist wirklich ein winziges Dorf, und nach Bordeaux fahre ich, um Bücher zu kaufen, um abends mal ins Kino zu gehen. Bordeaux ist für mich die Stadt, in der ich ausgehe, in der es gute Restaurants gibt, aber sie hat etwas Künstliches für mich, weil ich selber nie in der Stadt gelebt habe. Ich finde sie sehr schön, es ist eine geschichtlich reiche Stadt, und die gastronomisches Vorzüge, die liegen auf der Hand. Was die Gironde angeht, das südlich von Bordeaux gelegene Département, das ist sicherlich nicht die schönste Region Frankreichs, aber auch die schätze ich sehr. Also die Landschaft ist sanft und einfach sehr ruhig.
Scholl: Was ich vorhin bei der Speisekarte vergessen habe, Frau NDiaye, war ein Pfirsichkuchen aus den Landes – das ist das Département, die Region ganz in der Nähe von Bordeaux –, und dieses Dessert der Chefin, das ist schon was ganz Spezielles. Was denn?
NDiaye: Ja, das ist eine Erfindung der Chefin. Diesen Kuchen, den gab es damals in den 60er-Jahren natürlich nicht in dem Département der Gironde, wo sie ihr Restaurant eröffnet hat. Die Köchin strebt danach, mit den Traditionen dieser Gegend zu brechen, mit all dem Fett, all den wirklich schweren Zutaten, die sonst benutzt werden. Sie möchte eine Küche kreieren, die einfach ist, aber auch raffiniert und so elaboriert, dass die ganze Anstrengung, die sie aufbringt, um wirklich etwas Besonderes zu schaffen, verschwindet und der ganz einfache Genuss wieder im Vordergrund steht.
Scholl: Sie haben Ihren Roman mit Absicht einen Untertitel gegeben – "en roman d'une cuisinière", den Roman einer Köchin. Wie sind Sie denn überhaupt auf die Idee gekommen, einen solchen Köchinnenroman zu schreiben?
Blick in den Kopf eines Kochs
NDiaye: Ich interessiere mich schon sehr lange für Küche und für das Kochen, aber es ist tatsächlich so, dass es kaum Bücher gibt, die es einem ermöglichen, in gewisser Weise in den Kopf eines Kochs zu blicken. Man hat eine unglaubliche Fülle an Kochbüchern, die man vorfindet, aber man lernt sehr wenig über die Motivation des Kochs. Mich hat es einfach interessiert, ins Innere einer Köchin vorzudringen, es gewissermaßen zu erforschen, denn es ist tatsächlich eine Berufung, der meine Hauptfigur, meine Protagonistin folgt. Es ist nicht ein Beruf, den sie ausübt, es ist ein Engagement, der ihr ganzes Wesen fordert und erfüllt. Wie funktioniert das, das habe ich wissen wollen, wenn man sich vollständig der Kochkunst widmet.
Scholl: Diese Chefin hat im Roman aber gar keinen Namen. Sie wird immer nur la cheffe genannt, die Chefin eben, von einem ebenfalls namenlosen Erzähler: Das ist ein früherer Mitarbeiter von ihr, weitaus jünger, aber einst sehr verliebt in die Chefin, und er erzählt nun aus der Retrospektive ihre Biografie, wie sie zur Köchin wurde, wie sie also ihr Kochen zur Kunst entwickelt hat, dann auch von dem Tragischen, Unglücklichen auch, das dürfen wir natürlich keinesfalls verraten, aber wie sind Sie denn auf diese ja doch auch anonyme Erzählerkonstruktion gekommen, Madam NDiaye?
NDiaye: Ganz einfach: Es erschien mir nicht wirklich wichtig, nicht interessant, ihr einen Namen zu geben. Es bedeutet einfach nichts. Um ihr nahezukommen und um nur sie zu sehen, war es mir wichtig, darauf zu verzichten. Ich wollte den Fokus wirklich richten auf das, was sie tut und alles, was davon ablenkt, ausschalten. Sie ist eine Person, die es verabscheut, dass man ihr zu nahe kommt, dass man etwas weiß aus ihrem Vorleben. Sie will nicht, dass man etwas über sie erfährt, und der Erzähler ist natürlich jemand, der sie zutiefst verrät, weil er ihr Leben preisgibt.
Scholl: Aber so entsteht eine Art geheimnisvolles Katz-und-Maus-Spiel auch von Mutmaßungen, Annahmen, Überlegungen. Das Leben der Chefin wird zwar erzählt, aber ganz viel bleibt ausgespart, weil es der Erzähler einfach nicht wissen kann, und es bleibt im Dunkeln, und alles ist ungeheuer diskret auch gehalten. Wie haben Sie denn diesen auch sehr literarischen Stil gefunden?
NDiaye: Was geht vor sich: Er erforscht ihr ganzes Leben, aber er ist 20 Jahre jünger als sie. Als die beiden sich begegnet sind, war sie so um die 40 Jahre alt, und er muss zurückgehen in ihrem Leben. Er verfährt in gewisser Weise wie ein Detektiv. Darin gleichen sich Detektive und Biografen. Der Biograf ist jemand, der alle Angehörigen, alle Freunde, Nachbarn treffen muss, um die Wahrheit über ein Leben herauszufinden oder eine Wahrheit. Man muss den Informationen natürlich misstrauen. Also er ist vorsichtig, und das versuche ich zu spiegeln, in den Stil hineinzunehmen. Er will nicht, er glaubt, dass die Dinge sich so abgespielt haben, wie er sie erzählt, aber er kann sich natürlich nicht sicher sein, denn es fehlen ihm im Grunde 20 Jahre.
Scholl: An einer Stelle erklärt der Erzähler die Chefin zu einer Künstlerin, was sie selbst entschieden ablehnt, aber die Parallele, die ist natürlich schon deutlich. Würden Sie denn, Madame NDiaye, auch eine Verbindung von der Kochkunst und dem Schreiben sehen? Ist ein gelungenes Buch wie ein gelungenes Ragout?
Kochen ist wie Bildhauerei
NDiaye: Ich finde, der Vergleich mit einer Kunstform wäre zutreffender, wenn man die Kochkunst mit der Bildhauerei vergleicht. Beim Schreiben ist man doch sehr allein und zurückgezogen. Kochen, das tut man manchmal allein, aber oft ist man umgeben von Menschen. Ein Gericht geht relativ schnell zuzubereiten. Vielleicht braucht man eine Stunde, zwei Stunden, die Hände sind die ganze Zeit beschäftigt und dabei. Also das unterscheidet schon mal die beiden Beschäftigungen, die beiden Aktivitäten. Ich glaube, eine größere Nähe gäbe es, wenn man sich auf die skulpturale Arbeit fixiert.
Scholl: Eine Stelle müssen Sie uns noch erklären, Madam NDiaye, als die Chefin nämlich einen Stern bekommt, einen Michelin-Stern. Da weint sie oder ist ganz verzweifelt, und auch der Erzähler kann es nicht so richtig erklären. Wissen Sie, warum die Chefin weint, als sie diesen großen Erfolg hat?
NDiaye: Tatsächlich weint sie nicht aus Freude, sondern eher, weil sie traurig ist, fast entsetzt sogar. Ein wirklicher Künstler darf in ihrem Verständnis nicht ausgezeichnet werden. Also wer solch eine Ehrung erhält, der hat in gewisser Weise was falsch gemacht. Es war zu einfach, einen Michelin-Stern zu erhalten. Sie wollte lieber im Dunkeln bleiben, und in ihrem Verständnis heißt es, dass sie nicht das Niveau gehalten hat, zu dem sie sich selber verpflichtet.
Scholl: Ihr Roman, Madam NDiaye, ist ein sehr, sehr elegantes literarisches Kunstwerk, was auf jeglichen politischen Kommentar verzichtet. Man bleibt als Leser wirklich ganz gefangen in dieser Restaurantwelt. Vor einigen Jahren haben sie mit dem Roman "Drei starke Frauen" ein sehr politisch-gesellschaftskritisches Buch geschrieben – es ging um Frankreich und Afrika, um Flucht, Migration, Rassismus. Später sagten Sie, das würden Sie nie wieder machen, so ein Buch zu schreiben. Man könnte jetzt den Eindruck bekommen, die Chefin nun sei das Ergebnis einer solchen strikten Abstinenz von aller Tagesaktualität und Politik. Ist das so?
NDiaye: Ja, das stimmt ganz genau. Mit den "Drei starken Frauen" habe ich mich auf unbekanntes Terrain gewagt. Mit "La Cheffe" bin ich wieder mehr bei mir selbst und meiner Literatur so, wie ich sie pflege. Man soll aber nie nie sagen. Also ich würde mir vorbehalten, dass ich vielleicht doch noch mal einen Roman schreibe, der wieder politischer ist.
Scholl: Diese ganzen wundervollen Gerichte, die die Chefin kocht und sich ausdenkt – haben Sie sich die eigentlich auch selber ausgedacht, Marie NDiaye, oder irgendwo her ausgeborgt?
NDiaye: Ich habe alle Gericht selber erfunden. Es gibt kein einziges Gericht, das ich gekocht habe. Das sind alles Phantasmen. Ich habe diese Gerichte imaginiert, ich habe die vor mir gesehen, aber ich bin mir sicher, wenn man all diese Dinge zusammenstellt, dann ergibt sich kein Menü, das sich wirklich so herstellen lässt. Ich wollte auf keinen Fall ein Buch schreiben, in dem richtige Rezepte verwandt werden oder das sich in gewisser Weiser als Anleitung verstehen könnte, Gerichte nachzukochen.
Scholl: Trotzdem ist Ihr Buch auf jeden Fall ein Fest für jeden Gourmet, und was gibt es denn heute Abend bei Ihnen zu essen in Bordeaux?
NDiaye: Das Abendessen heute wird eine große Überraschung sein, denn ich bin aus meinem Dorf nach Bordeaux gefahren, um das Interview mit Ihnen zu führen, was mir im Übrigen viel Spaß macht, und wenn ich dann heute Abend nach Hause komme, dann erwartet mich eben die Überraschung, weil einer meiner Söhne und mein Mann zu Hause geblieben sind, und die werden kochen.
Scholl: Vielen Dank, merci, Marie NDiaye, für dieses Gespräch!
NDiaye: Merci beaucoup!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.