Marie T. Martin: "Rückruf. Gedichte"
Verlag poetenladen, Leipzig 2020
96 Seiten, 18,80 Euro
Unter der Haut der Wörter
06:07 Minuten
In Marie T. Martins Gedichten ist die Suche nach schimmernden Momenten verklammert mit dem Wissen um Schmerz und Vergänglichkeit. Ihrem liedhaften Sprechen lauscht unser Rezensent berührt und angetan.
Am Anfang dieser Gedichte steht das Staunen. Ein Sich-Wundern darüber, dass die Dinge so sind, wie sie sind. Oder genauer: Ein Sich-Wundern, wie man im alltäglichen Leben überhaupt davon ausgehen kann, die Dinge und Wörter könnten immer dieselben sein, ein Haus ein Haus, und ein Buch ein Buch.
Doch zugleich ist es ein Staunen, auf dessen Grund die Trauer wartet. In Marie T. Martins Gedichten ist die Suche nach schimmernden Momenten von jeher verklammert mit dem Wissen um Krankheit, Schmerz und Vergänglichkeit.
"Immer noch trägst du / das Kinderhaus / durch den Schnee", hat sie in ihrem ersten Gedichtband "Wisperzimmer" (2012) geschrieben. Und tatsächlich sind die Verse von Martin, die 1982 in Freiburg geboren wurde, durchsträhnt von Überbleibseln aus den frühen Jahren, ebenso aus Träumen und Märchen.
Perspektive des Rückblicks
Die "Lockrufe" der Kindheit sind auch in ihren neuen Gedichten zu hören. Allerdings ist das Sprechen hier ein Sprechen aus der Perspektive des Rückblicks und der Möglichkeitsform, die Kindheit ist vorbei, und nur momenthaft leuchtet ihr Versprechen auf eine ganzheitliche, euphorische Wahrnehmung von Welt noch auf.
So rückt die Erinnerung in den Vordergrund. Die Erinnerung an das Elternhaus, das immer "Wunderwürfel" und "Wundverschluss" in einem war, eine "Anstalt für das Wechseln von Aggregat- / zuständen, von Starre zu sprudelndem / Dasein". Und die Erinnerung an die verschiedenen abgelegten oder versteckten Schichten des Ichs. Eines Ichs, das manchmal nur erscheint, um zu verschwinden. So wie die Schrift, die bisweilen mehr verhüllt, als dass sie wirklich etwas zeigen würde.
Lichtflecke und Pflanzennamen
Trotzdem geht es stets um eine andere Art von Wahrnehmung. "Alles kämpft sich nach Jahren / den Weg frei um neu betrachtet / zu werden", lesen wir an einer Stelle.
Am Grund der Texte pulst der geheime Wunsch, es möge neben den Dingen immer noch eine zweite Welt geben und das Ich könnte mit ein bisschen Glück ein Anderer beziehungsweise eine Andere sein.
Gedichte sind bei Marie T. Martin Kaleidoskope, "die man drehen kann". Und so dreht und wendet sie auch die Sprache, springt vom "Tasten" zu "Tatzen" oder von "Aalen" zu "Arealen".
Die bevorzugte Redeform dieser Gedichte sind Wiederholungen und Fragen. Dabei ist Martins Sprache der Lichtflecken und Pflanzennamen immer klar – und mit ihrem großen Rhythmusgefühl öffnet sie Schneisen in die Welt der Imagination: "Und die Luft? Ist sie Hülle oder // spannt sie uns auf?"
Man lauscht angetan und berührt
Es ist ein Sprechen, das nicht auf schwere Bedeutungen setzt, sondern oft an Bilder kurz vor dem Einschlafen erinnert. Ein Sprechen, das sich an jene Schicht der Sprache herantastet, die gleichsam unter der Haut der Wörter liegt, subkutan.
Im Inneren der Gedichte findet sich die romantische Vorstellung einer Verbindung aller Dinge. Die Stimmen "fliegen, flechten sich ineinander". Doch das "Blaufeld" der Trauer fährt in die Sprache, bleibt für immer da.
Es ist eine Kunst für sich, wie Marie T. Martin diese "Zweifelrede" mit klangstarken Bildern "größtmöglicher Schwingung" verknüpft. So lauscht man angetan und berührt zugleich ihrem liedhaften Sprechen, einem "feinen ins Überall reichenden Gesang".