Marina Zwetajewa: „Ich sehe alles auf meine Art“
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Stenografin des Lebens
06:19 Minuten
Marina Zwetajewa
Herausgegeben und aus dem Russischen übersetzt von Ilma Rakusa
Ausgewählte Werke: "Ich sehe alles auf meine Art", Band 3: Unveröffentlichte NotizbücherSuhrkamp, Berlin 2022600 Seiten
44,00 Euro
In ihren Notizbüchern skizziert die russische Dichterin Marina Zwetajewa ihren harten Alltag voller Armut, Hunger, Entbehrungen und Sorgen. Zugleich denkt sie über das Schreiben nach und darüber, wie die Dinge zu leuchten beginnen.
„Ich lebe jetzt ganz, wie es mir gefällt“, notiert Marina Zwetajewa im November 1919. In ihrem Zimmer auf einem Moskauer Dachboden sei der Himmel sehr nah. Ein Samowar, ein Beil, ein Korb Kartoffeln. Die beiden kleinen Töchter mit ihren Spielsachen immer um sie herum. Sogar zum Schreiben komme sie.
Entbehrungsreiches Leben
Doch der Schein trügt. Mit ihren Texten hat sie wenig Erfolg. Zwar hat sie bereits drei Gedichtbände veröffentlicht und Theaterstücke und Essays verfasst, aber dass sie einmal eine der großen Dichterinnen der russischen Literatur sein wird, ist nicht zu erahnen.
Es sind die Jahre der Moskauer Hungersnot nach der Revolution. Das Holz zum Heizen des kleinen Zimmers fehlt oft und sie lebt mit den beiden Kindern allein.
Ihr Mann Sergej Efron hat sich der antibolschewistischen „Weißen Armee“ angeschlossen und wird bis über das Ende des Bürgerkriegs hinaus verschollen bleiben. Halt gibt ihr die Liebe der älteren Tochter Alja. Und sie hat ihr Schreiben, vor allem die Notizbücher, in denen sie fast täglich ihr Leben aufzeichnet.
Lebensnotwendiges Notieren
Fast 20 Jahre umfasst jener Teil der Notizen, der überliefert ist, und im Jahr 1913 einsetzt. Bislang kannte man diese Notizen auf Deutsch nur in Ausschnitten, aus Sammelbänden etwa oder aus Biografien über Zwetajewa.
Nun hat die Dichterin und Zwetajewa-Expertin Ilma Rakusa eine umfangreiche Auswahl vorgelegt und in ein geschmeidiges Deutsch übersetzt. Sie versammelt Auszüge aus allen 15 Büchern, die erhalten geblieben sind.
Zwetajewa notierte in ihren Heften genauso Träume wie Briefe, hielt das Zusammenleben mit ihren Kindern und Liebesbeziehungen fest oder berichtete ausgiebig über ihre Lektüren und den Alltag.
„Ich schreibe nie, ich notiere immer“, skizziert sie einmal – und bringt damit zum Ausdruck, wie wichtig, wie lebensnotwendig die Notizen für sie waren. Nicht von ungefähr nennt sie sich einmal eine „Stenografin des Lebens“.
Nachdenken über das Dichten
Einen Schwerpunkt der Auswahl bilden die harten Jahre 1918 bis 1922, als Zwetajewa mit ihren Kindern in Moskau lebt. Das wenige Essen besorgt sie auf Märkten in der Umgebung oder gleich bei manchen Bauern vor Ort. Die Situation verschärft sich immer weiter.
In ihrer Verzweiflung gibt sie die Töchter schließlich in ein Kinderheim. Aber die Not ist im Heim noch größer, Alja erkrankt schon nach wenigen Wochen schwer, die kleine Irina stirbt 1920 an Unterernährung.
Es ist vor allem Zwetajewas Überzeugung von der eigenen dichterischen Begabung zu verdanken, dass sie in dieser Situation gleichwohl weiter schreibt – und über das Schreiben nachdenkt. In vielen der Notizen reflektiert sie ihr Dasein als Dichterin und das Wesen von Gedichten. Aufgabe der Dichtenden sei es, „die Welt neu zu taufen“ und die Dinge „leuchten“ zu lassen.
Nähe von Leben und Schreiben
Manche der Definitionen zum Schreiben sind allerdings etwas schematisch geraten. An anderen Stellen bekennt Zwetajewa sich zu einem schwärmerischen Sprechen.
Am überzeugendsten ist sie tatsächlich in jenen Passagen, in denen sie in einer nüchternen, wahrnehmungsgenauen Sprache den kruden Alltag skizziert oder Kindheitserinnerungen hervorholt.
Die Notizhefte sind ein sehr wichtiger Teil von Marina Zwetajewas Schreiben. Mit ihrer Kenntnis entsteht vielleicht nicht unbedingt ein neues Bild der Dichterin. Aber nun kann man vieles in ihrer Sprache erst recht eigentlich erleben und man versteht plötzlich, wie nah sich Leben und Schreiben kommen können. Auf dass die Dinge anfangen zu leuchten.