Marina Zwetajewa: "Lichtregen". Essays und Erinnerungen
Hg. von Ilma Rakusa
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
902 Seiten, 44 Euro
Kompromisslos poetisch
06:10 Minuten
"Lichtregen" versammelt Porträts, in denen die Dichterin Marina Zwetajewa russische Literaten des frühen 20. Jahrhunderts beschreibt - lyrisch und emotional aufgeladen. Daneben stehen poetologische Texte, die daran erinnern, was Literatur einmal bedeutete.
Marina Zwetajewa gehört zu den geheimnisvollsten Dichterinnen des 20. Jahrhunderts. Berühmt ist sie wegen ihrer kompromisslos poetischen Sprache. Das Wenige, was man von ihrer Biographie weiß, hat etwas Tragisches und gleichzeitig Verwegenes. 1892 in Moskau geboren, veröffentlichte sie mit 18 Jahren ihren ersten Gedichtband, der sie in die damals tonangebenden Kreise brachte und ihr Zugang zu dem magischen Dichterort Koktebel auf der Krim verschaffte.
Als Gegnerin der russischen Revolution musste sie ins Exil, verbrachte lange Jahre in Paris, immer am finanziellen Abgrund, kehrte verzweifelt mit ihrer Familie in Stalins Russland zurück und suchte dort 1941 den Freitod.
Die Rettung der Besiegten
Ihre Essays und biografischen Texte über Zeitgenossen zeigen eine Welt, die uns in vieler Hinsicht ferngerückt ist. Es ist das Russland vor und nach der Oktoberrevolution, und es ist eine unbedingte Hingabe an die Dichtung, die im schmalen russischen Bürgertum und Teilen der Aristokratie seit Puschkin eine äußerst charakteristische Tradition hatte. Zwetajewa beschreibt in subjektiven, emotional aufgeladenen und lyrisch-assoziativen Porträts maßgebliche russische Literaten ihrer Zeit: Walerij Brjussow, Ossip Mandelstam, den Dandy Michail Kusmin mit seinen "glasgroßen Augen" und in einem phantastisch stilisierten Vergleich Boris Pasternak und Wladimir Majakowskij.
Als sie 1932 vom Tod ihres großen Förderers Maximilian Woloschin erfährt, entfaltet sie in ihrem Erinnerungstext "Lebendes über einen Lebenden" ein ganzes poetisches Programm. Es geht um "Freundschaftsfähigkeit" und um den "Einzelnen", der wichtiger ist als die "Bande", und es geht um die Rettung der "Besiegten vor den Siegern".
Das Wesentliche erschließen
Daneben stechen einige große poetologische Texte hervor. In "Der Dichter und die Kritik" wendet sie sich vehement gegen die Rezensenten der Emigration, die selbst nur mittelmäßige Lyriker waren und im Schreiben eine bloße Technik sahen. Sie findet dabei Sätze wie: "Der Text schreibt, mit meiner Hilfe, sich selbst", die gegen allzu selbstgewisse Theoretiker gerichtet sind. "Die Kunst im Lichte des Gewissens" hingegen ist eine Abrechnung mit moralischen Kriterien, mit denen man seit Tolstoi die Kunst maß. Ihre Vorstellungen kreisen um "Getriebenheit", um die Gesetze der Sprache und des Stoffs, und sie schreibt: "Das Einzige, was die Kunst tun könnte, um garantiert gut zu sein, wäre: nicht zu sein."
Zwetajewa kann pathetisch sein, sie ist einzelgängerisch und voller Widersprüche, rebellisch und unwiderstehlich. Sie beschwört den "Zauber" der Dichtung, denn der Zauber sei "älter als die Erfahrung". Und genauso sei das "Märchen älter als die Geschichte". Es ist ein Dichtungsbegriff, von dem uns heute mehrere Generationen und mehrere Geschichtsbrüche trennen, der aber Erinnerungen wachruft, was Literatur einmal war und was in ihr womöglich immer noch schlummern kann. Dazu gehört auch, was Zwetajewa anlässlich einer emphatischen Annäherung an Rilke ausruft: "Das Wesentliche lässt sich allein durch das Wesentliche erschließen."