Mario Vargas Llosa: "Der Ruf der Horde. Eine intellektuelle Autobiografie"
Aus dem Spanischen von Thomas Brovot
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019
315 Seite, 24 Euro
Rückblick auf Liberale mit Verweigerungshaltung
05:12 Minuten
Der peruanische Romancier und Intellektuelle Mario Vargas Llosa porträtiert in seinem Essayband "Der Ruf der Horde" freiheitliche Denker, die sich jenseits der gängigen Ideologien bewegten. Llosa ist dabei erfrischend unaufgeregt.
In seinem aktuellen Buch "Der Ruf der Horde" erinnert der peruanische Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa an liberale Denker. Diese sind heute weitgehend vergessen, obwohl sie doch die Grundlagen einer freiheitlichen Gesellschaft profund reflektierten.
Da ist zum Beispiel der französische Soziologe Raymond Aron, der mit seinem einstigen Kommilitonen Jean-Paul Sartre zwar das Geburtsjahr teilte, doch weder die Anhängerschaft noch den Nachruhm. Aron, bis zu seinem Tod 1983 berühmt-berüchtigt für seine in geradezu provozierend ruhigem Ton vorgetragenen Gedanken, sah in der Verherrlichung der Gewalt, der metaphysisch überhöhten Tat, eine Kongruenz zwischen extremer Linker und extremer Rechter.
Der Liberalismus hat schlechte Karten
Unermüdlich wies Aron darauf hin, dass solche Affinität nicht nur unethisch war, sondern vor allem völlig ineffizient, an den komplexen Realitäten einer spätindustriellen Gesellschaft nihilistisch vorbeigröhlend. Mario Vargas Llosa bezieht sich deshalb erneut auf Arons "pragmatischen Realismus und seine reformerischen liberalen Ideen" – und fragt, wo Frankreich wohl heute stünde, hätte es stringenter Argumentation mehr vertraut als pompöser Aufruhrrhetorik von sowohl rechts als links.
Hat der Liberalismus aber nicht auch deshalb schlechte Karten, weil er inzwischen längst weniger mit verteidigten Freiheitswerten als mit der Ideologie eines rein ökonomistischen "Neoliberalismus" assoziiert wird? Im Umgang mit einem Denker wie Friedrich von Hayek bündeln sich all diese Widersprüche. Müsste denn nicht in Zeiten, in denen Kollektivierungsträume wieder aufblühen, erneut darauf verwiesen werden, dass Privateigentum und dessen staatlich garantierter Schutz, nicht nur das Movens für das Prosperieren einer Gesellschaft ist, sondern auch den Einzelnen vor den Zumutungen der Macht zu schützen vermag?
Tugend von Fairness und Toleranz
Hayeks Borniertheit aber bestand darin, ökonomische Freiheit geradezu zu vergöttlichen, hingegen politischer Freiheit und sozialer Chancengerechtigkeit nur eine Nebenrolle zuzuweisen und die Vertreter eines Sozialstaatsgedankens sogar als vermeintliche Kryptototalitäre zu schmähen. Vargas Llosa, für den Liberalismus nicht zuletzt die hohe Tugend von Fairness und Toleranz bedeutet, widerspricht derlei ideologischen Verkürzungen vehement und macht kein Hehl daraus, wen er wirklich bewundert: Karl Popper, Isaiah Berlin, Raymond Aron sowie den französischen Publizisten Jean-François Revel.
Popper nämlich warb über sein 1945 erschienenes Hauptwerk "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" hinaus zeitlebens für die emsig reformerische Methode der "Stückwerk-Technik". Gerade das, was Maximalisten bis heute herablassend als "Klein-Klein" abtun, war für ihn die Basis gesellschaftlichen Fortschritts, der eben nicht auf ein mythisch homogenes "Volk" rekurriert, sondern die unterschiedlichen Interessen innerhalb der heterogenen Bevölkerung stets aufs Neue austarieren muss.
Herausforderungen wie vor einem Jahrhundert
Parallel dazu beschrieb der britische Ideenhistoriker Isaiah Berlin den "Konflikt der widersprüchlichen Wahrheiten": Die Werte Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit sind demnach mitnichten Synonyme des Gleichen, sondern stehen in einem natürlichen Spannungsverhältnis zueinander. Und nur in einer freien Gesellschaft kann der erfolgreiche Versuch unternommen werden, sie in eine fragile Balance zu bringen.
Es macht die Stärke dieses Essaybandes aus, dass sein 83-jähriger Verfasser Vargas Llosa nicht in die Jeremiaden über das angeblich "Präzedenzlose" der heutigen illiberalen Gefährdung einstimmt, sondern in seinem Rückblick an jene erinnert, die bereits vor Jahrzehnten den Herausforderungen begegnet sind – jenseits von Gesundbeterei und apokalyptischer Rhetorik. So gilt auch für sein Buch, was der spanische Philosoph José Ortega y Gasset zu Anfang des 20. Jahrhunderts zu bedenken gab: "Die Klarheit ist die Höflichkeit des Philosophen."