Marion Messina: "Die Entblößten"

Frankreich als totalitärer Staat

04:54 Minuten
Buchcover: Die Entblößten von Marion Messina
© C. Hanser Verlag

Marion Messina

Die EntblößtenC. Hanser Verlag, München 2024

176 Seiten

23,00 Euro

Von Sigrid Brinkmann |
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Marion Messinas Gesellschaftsroman „Die Entblößten“ spielt in der nahen Zukunft. Frankreich wird von einer Technokratin regiert, die an die Meritokratie glaubt und die erschöpften Bittsteller aus den Randzonen des Landes verachtet.
Marion Messina beginnt ihren Roman mit der öffentlichen Selbstverbrennung eines jungen Mannes vor der Nationalversammlung in Paris. Enzo Brunet, Sohn einer mittellosen, kranken Witwe, war bei einer Party von Kommilitonen betäubt und mehrfach vergewaltigt worden. Ein Kuvert mit 5000 Euro Schmerzensgeld sollte ihn, den „Dreckbauern“ aus der Provinz, zum Schweigen bringen.
Bevor Enzo Brunet sich mit Benzin übergoss, schickte er eine Liste mit den Namen seiner Peiniger an die Presse und postete sie in den sozialen Netzwerken. Die Täter kommen aus der Bourgeoisie. Ihr Vergehen wirkt wie ein Brandbeschleuniger für Aufstände, die plötzlich im ganzen Land aufflammen. Im missbrauchten Körper erkennen sich all jene wieder, die finden, dass sie in Frankreich unsichtbar geworden sind.

Vernichtendes Porträt einer Technokratin

Die Fiktion spielt in der nahen Zukunft. Frankreich wird von einer Präsidentin regiert. Mit spürbarer Lust und sarkastischer Verve zeichnet Messina das vernichtende Porträt einer Technokratin, die an die Meritokratie glaubt und leugnet, dass die Unterschicht nicht mehr von ihrer Arbeit leben kann.
Armut ist für „Darwins unsichtbare Hand“, wie Messina die zynische Frau an der Spitze des Staates nennt, eine Geschmacklosigkeit und Verzweiflung kaschiert nur Willensschwäche.
Offen bekennt die Autorin im Gespräch, dass sie an nuancierten Charakteren nicht interessiert ist. Sie misstraut psychologischen Deutungen und konzentriert sich lieber auf „Soziotypen“. Auf schwer zu entlarvende Hochstapler beispielsweise, die sich in der Dienstleistungsgesellschaft wie Fische im Wasser bewegen.
„Die Form über den Inhalt, die Mittel über den Zweck zu stellen, sich auf den Schein und den Ruf zu verlassen statt auf die Arbeit und die natürlichen Befähigungen, das alles ist die Brutstätte der Hochstapelei“, hält Messina fest und seziert das destruktive Potenzial und lächerliche Gebaren eines klassischen Blenders.

Bittsteller, die ihre Haut zu Markte tragen

Die vier Romanprotagonisten sind keine angeberischen Betrüger. Sie sind „die Entblößten“, d.h. erschöpfte Bittsteller, die ihre Haut zu Markte tragen. Eine muslimische Lehrerin erträgt es kaum mehr, dass ihre Schüler immer nur nach dem materiellen Nutzen von allem und jedem fragen.
Der Bauer Aurélien und seine sich nach der Stadt sehnende Frau können die kontinuierlich steigenden Energiekosten nicht aufbringen; eher will er sich eine Kugel in den Kopf jagen, als den Hof aufzugeben.
Paul, der begreift, dass er trotz Doktorarbeit keinen befriedigenden Job findet, wagt den radikalen Bruch und zieht von Paris in ein abgelegenes Gebiet der Ardèche. Seine Fantasie vom autonomen Leben zerplatzt ziemlich schnell. Den Glauben an Anstand, Selbstachtung und Solidarität bewahrt er sich.

Fiktion eines totalitären Staats

Frankreich hat sich in Marion Messinas Fiktion in einen totalitären Staat verwandelt. Sie deutet an, dass tötungsbereite Bürgerwehren die Zukunft mitbestimmen. Ihr Versuch, dem „unsichtbaren Frankreich“ literarisch ein Gesicht zu geben, gelingt nur partiell. Der dauerenragierte Ton ermüdet.
Dass ihr Buch auch als Zeitkommentar gelesen wird, muss der Autorin bewusst gewesen sein. Gegenwärtig klammern sich mehr als 10 Millionen Franzosen an Traditionen, an Vorrechte, an den Boden. Marion Messinas „Entblößte“ sind in Aufruhr und leben in Gefahr.
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