Marion Poschmann: "Laubwerk"

Poetische, polemische und aufklärerische Blätter

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Cover des Essay-Bands "Laubwerk" von Marion Poschmann "Laubwerk"
Marion Poschmann nutzt in "Laubwerk" eine schmale, zwischen poetischen Beschreibungen und reflektierenden Passagen wechselnde Prosa. © Verbrecher Verlag / Deutschlandradio
Von Helmut Böttiger |
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Betrachtungen über den "Indian Summer", spirituelle Bezüge angesichts der herbstlichen Laubschau in Japan oder Gedanken über Laubbläser in Deutschland. Sehr poetisch, aber auch aufklärerisch nähert sich Marion Poschmann in ihrem Essay dem Thema Laub.
Marion Poschmann, eine der bekanntesten Lyrikerinnen hierzulande, unterscheidet sich von den meisten ihrer Kollegen dadurch, dass bei ihr die Natur eine bedeutende Rolle spielt. In dem Essay "Laubwerk", den sie eigens für einen Wettbewerb geschrieben und ihn damit auch gewonnen hat, wird ihre Grundhaltung sehr deutlich. Und sie entwirft in diesem Text wie nebenbei eine auch auf aktuelle politische Fragen bezogene Poetologie.

Laubschau in Japan mit spirituellen Bezügen

"Laubwerk" ist ein doppeldeutiges Wort. Zum einen ist es die sachliche Bezeichnung für die Blätter an den Bäumen, zum anderen ist es eine ästhetische Definition ihres Textes: Es handelt sich um ein Werk über das Laub. Diese schmale, zwischen poetischen Beschreibungen und reflektierenden Passagen unmerklich wechselnde Prosa ist in viele kurze Abschnitte gegliedert, die immer wieder neue Anläufe nehmen und das Motiv der Laubbäume auf verschiedenste Weise umkreisen.
Es beginnt mit einer verblüffenden Betrachtung über den "Indian Summer" in den USA und der "Momijigari" in Japan, in der das Herbstlaub in ähnlicher Weise gefeiert wird. Die spektakuläre Rotfärbung der Blätter führt in Nordamerika und Ostasien zu einer speziellen Art des Tourismus, die im Vergleich zu Deutschland besonders frappiert.
Dabei gibt es nur wenige Regionen auf der Erde, in denen die Herbstfärbung der Baumblätter überhaupt vorkommt, denn der größte Teil besteht aus unterschiedlichen Formen von Immergrün. Während vor allem in Japan, einem häufigen Bezugspunkt bei Marion Poschmann, bei der herbstlichen Laubschau eine verfeinerte Ästhetik und spirituelle Bezüge auffallen, wird das Herbstlaub in Deutschland vor allem mit "Räumpflicht" assoziiert, mit Laubbläsern und Entsorgungsfragen. Und damit ist die Autorin mittendrin in ihrem Thema.

Beeindruckende Überlegungen zu Stadtbäumen

Beeindruckend sind ihre Überlegungen zum Thema der Stadtbäume. Seit Jahren beobachtet sie, wie sich die Straßen in Berlin verändern. Im Regierungsviertel wurden stillschweigend Sumpfeichen angelegt, die aus Nordamerika stammen und widerstandsfähiger sind als die tradierte "Deutsche Eiche". Langsam werden die üblichen Linden oder Platanen gegen sogenannte "Klimabäume" ausgetauscht. Man reagiert auf die Veränderungen so, als wären sie ein naturgegebener Prozess, ist auf diese Flexibilität sogar stolz und zeigt wenig Interesse daran, sich grundsätzlicher mit den Ursachen des Baumsterbens auseinanderzusetzen, denn das würde erhebliche politische Veränderungen mit sich bringen.

In der Tradition von "Naturlyrik"

Sehr poetisch sind Poschmanns Reflexionen, die sich daran anschließen: über den Baum als Vorlage für viele künstlerische Formen von Ornamentik, über "Blattmasken" und die Baumstruktur. Inger Christensens berühmtes Langgedicht "Alphabet" verdankt dieser seine überraschende Form.
Marion Poschmann sieht sich in ähnlicher Weise einer Tradition von "Naturlyrik" verpflichtet, die zwangsläufig auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen reagieren muss. Zum Schluss nimmt sie emphatisch die alte romantische Formel des Novalis auf: "Die Welt muss romantisiert werden". Und sie weist dieser Vorstellung streitbar und polemisch gerade auch eine aufklärerische Funktion zu. Sie argumentiert im Sinne der Vernunft. Es steckt sehr viel in diesem kleinen Bändchen.

Marion Poschmann: Laubwerk.
Mit einem Vorwort von Sandra Poppe und Christiane Riedel sowie der Laudatio auf die Wortmeldungen-Preisträgerin von Christine Lötscher
Verbrecher Verlag, Berlin 2021. 69 Seiten, 12 €

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