Mark J. Sedgwick: "Gegen die moderne Welt. Die geheime Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts"
Aus dem Englischen von Nadine Miller
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2019
549 Seiten, 38 Euro
Intellektuelle Anti-Modernisten
05:18 Minuten
Der sogenannte "Traditionalismus" bekämpft die als dekadent empfundene Moderne. Dass diese Denkrichtung auch Einflüsse auf die Politik im 20. und 21. Jahrhundert hatte und hat, zeigt Mark J. Sedgwick in "Gegen die moderne Welt."
Die Pointe springt aus nahezu jeder Seite dieses voluminösen Buchs, das den Titel "Gegen die moderne Welt" trägt. Denn all die hier in ihrem Tun und Denken versammelten Antimodernisten, Traditionalisten, eurasischen Ideologen, Theosophen,* Islam-Hasser oder Islam-Konvertiten waren ja doch Kinder ihrer Zeit geblieben und selbst die besten Beispiele für jene Krisendiagnosen, die sie in ihren polemischen Schriften pausenlos erstellten.
Ganzheitliche Alternativentwürfe
Mark Sedgwick, 1960 in Großbritannien geborener Ideenhistoriker, der inzwischen an der Universität im dänischen Aarhus lehrt, präsentiert uns narzisstische und/oder selbsthasserische Individuen, die mit dem Individualismus hadern, oft geradezu verzweifelt (oder auch selbstgerecht hochfahrend) Vereinsamte, die immer wieder publizierend anrennen gegen die vermeintliche "Anatomisierung durch die moderne Welt".
Der als ungut fragmentiert empfundenen Gegenwart setzten inzwischen beinahe vergessene Intellektuelle wie der französische Traditionalist René Guénon (1886-1951) oder der Faschismus-affine Julius Evola (1898-1974) ganzheitlich intendierte Alternativentwürfe entgegen, die freilich bereits beim geringsten Wirklichkeitskontakt zerfaserten und von miteinander heillos verstrittenen Jüngern zusätzlich gerupft wurden.
Der katholisch sozialisierte Guénon, der das Christentum neu denken wollte und schließlich von der Theosophie zum Sufismus kam, blieb in seiner Wahlheimat Ägypten dann ebenso ein Außenseiter wie Julius Evola in Italien, der sein Land vor jener "Händlerkaste" erretten wollte, die nach seiner Ansicht die kulturnotwendige "Kriegerkaste" ersetzt hatte – und zwar bereits im 12. Jahrhundert, als sich Guelfen und Ghibellinen einen erbitterten Kampf in Ober- und Mittelitalien geliefert hatten.
Kein Wunder, dass dann selbst Mussolini und Himmlers SS mit den verstiegenen Ideen des selbsterklärten Liberalismusverächters nichts anzufangen wussten. Als Techniker der Macht und des Terrors benötigten sie keine Schützenhilfe dieser Art.
Von Alexander Dugin zu Wladimir Putin
Anders Wladimir Putin, der in der mittlerweile fast vollständig gleichgeschalteten Medienlandschaft Russlands die Ideen des eurasischen Ideologen Alexander Dugin verbreiten lässt, die dem Westen sein nahes Ende prophezeien und ein Gesellschafts- und Herrschaftssystem propagieren, in dem nicht etwa bürgerliche Individuen prägend sind, sondern Staat, Nation und Religion – verkörpert durch "entscheidungsstarke Männer".
Interessanterweise tritt der "Abendlandretter" Dugin jedoch durchaus für religiöse Diversität ein – zumindest wenn es sich um den von ihm bewunderten Islam handelt, dessen autoritäres Potential er schätzt und vor allem in den einst vom Zarenreich kolonisierten russischen Peripherien zu fördern versucht.
Die Grenze zwischen Tradition und Wut
Die Leser dieser fluid geschriebenen Studie lernen also viel über jene intellektuellen Antimodernisten, die es freilich nur in Einzelfällen wie Dugin zu wirklichen Stichwortgebern der Macht gebracht haben.
Mark Sedgwicks faszinierendem Wimmelbild hätte indessen etwas mehr Strukturierung und analytische Tiefe gutgetan. Denn so spannend sich die Nachzeichnung längst vergessener und in obskuren Klein-Publikationen geführten Debatten auch liest – gerade heute, in dem ein nachvollziehbar "besorgter Konservatismus" allzu oft in die Nähe eines nihilistischen Wutbürgertums gerät, wäre die Frage zu diskutieren, wo der legitime Schutz des Tradierten aufhört und purer Tabula-Rasa-Wahn beginnt.
Als 1935 Julius Evolas Hauptwerk "Erhebung wider die moderne Welt" erschien, warnte etwa ein derart feinsinniger Moderne-Skeptiker wie Hermann Hesse augenblicklich vor diesem Werk. Heute sind es nicht zuletzt friedwillige Sufisten, die von Islamisten als Hauptfeinde markiert werden.
Ein bisschen mehr Mut zum aktuellen Resümee hätte somit diesem Buch, das sich im Untertitel allzu keck als "Die geheime Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts" bezeichnet, mit Sicherheit nicht geschadet.
*Wir haben diesen Beitrag aus redaktionellen Gründen geändert.