Mark Lilla: "Der Glanz der Vergangenheit"

Der Reaktionär auf nostalgisch verklärter Heilssuche

Mark Lilla: Der Glanz der Vergangenheit, im Hintergrund eine Statue des Philosophen Socrates in der Panepistimiou Strasse in Athen
Ideengeschichtler Mark Lilla: "Der Reaktionär meint, die Bruchstücke des Paradieses zu erkennen." © Hintergrund: Imago/Andreas Neumeier Cover NZZ Libro
Von Katharina Döbler |
Der Ideengeschichtler Mark Lilla hat sich in einer Essay-Sammlung mit reaktionärem Denken beschäftigt. Nun erscheint die deutsche Ausgabe. Der Forscher der Columbia University sagt, Reaktionäre seien Radikale – und sie könnten interessant sein.
Mark Lilla, Ideengeschichtler an der Columbia University, ist ein Denker, der nicht nur gerne zwischen den Stühlen zu sitzen kommt, sondern dieselben auch noch auf ungewohnte Weise anordnet.
Sein jüngstes Buch, das (noch) nicht auf Deutsch erschienen ist, war eine scharfe Kritik an linker Identitätspolitik, die er als "moralische Panik" bezeichnet, die an der Gemeinschaft vorbei agiere. Die Wut des liberalen Establishments war groß. "Wir brauchen keine Demonstrationen, wir brauchen Bürgermeister", schrieb er. Hierzulande würde man ihn einen "Realo" nennen.
Ins Deutsche übersetzt wurde nun eine Essaysammlung von 2016 mit dem englischen Titel "The Shipwrecked Mind", die sich in sieben Essays mit verschiedenen Aspekten reaktionären Denkens auseinandersetzt. "Der reaktionäre Geist ist ein schiffbrüchiger Geist. Wo andere den Strom der Zeit fließen sehen wie eh und je, meint der Reaktionär, die Bruchstücke des Paradieses zu erkennen, die an ihm vorbeischwimmen."

Nostalgisch verklärtes Zeitalter

Im Gegensatz zum Revolutionär, der seine politischen Wünsche auf die Zukunft richtet, sieht der Reaktionär nämlich das Heil in der Vergangenheit, in einem nostalgisch verklärten Zeitalter, in dem sich Mensch, Welt und Gott in Harmonie befanden.
Wann genau der Bruch stattgefunden, die Welt die falsche Abzweigung genommen und der Verfall begonnen hat, darin sind sich die Reaktionäre keineswegs einig. Für Heidegger begann das Elend bereits mit Sokrates.
In Frage kommt auch die Eroberung Roms, das Ende des Kalifats, die Reformation, die Aufklärung und so weiter. Oder die israelische Staatsgründung, die Nakba, die Aufhebung des Goldstandards, das Ende der kommunistischen Regime. "Jede größere soziale Wandlung hinterlässt ein neues Eden, das dann wieder zum Objekt historischer Nostalgie werden kann."

Politische Nostalgie

Politische Nostalgie gibt es also in allen politischen und religiösen Lagern und Reaktionäre sind keineswegs dasselbe wie Konservative. Sie sind Radikale. Und sie können interessant sein.
Mit größter intellektueller Sorgfalt untersucht Lilla etwa die Welt dreier deutscher Denker im Spannungsfeld zwischen Hegel und Heidegger, zum Teil im amerikanischen Exil:
  • Franz Rosenzweig (1886 - 1929), der die jüdische Vergangenheit zum "transzendenten Ideal" erhob
  • Eric Voegelin (1901 - 1985), der als Apologet einer autoritären transzendenten Weltordnung in eine überdrehte Mystik abtauchte
  • und Leo Strauss (1899 - 1973), der als Professor in Chicago die Überzeugungen einflussreicher Neokonservativer formte.
Lilla hält das übrigens für ein intellektuelles Missverständnis: Strauss, für den der Verfall der westlichen Welt mit Machiavellis Verrat am Naturrecht begonnen hatte, lehrte kritische Auseinandersetzung mit bestehenden Denkfiguren.
Seine unbedarften amerikanischen Schüler, denen, wie Lilla ätzt, eigenständiges Denken fremd war, hätten seine Texte unreflektiert in plumpen Nationalismus und politischen Populismus umgemünzt.

Mark Lilla: Der Glanz der Vergangenheit. Über den Geist des Reaktion.
Hrsg. und mit einem Vorwort versehen von René Scheu.
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Elisabeth Liebl
NZZ Libro, Zürich 2018
144 Seiten. 29 Euro

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