Marketing statt Erfindergeist

Die Bruchlandungen des Leonardo da Vinci

29:03 Minuten
Helikopterzeichnung von Leonardo da Vinci
Zeichnung von Leonardo da Vinci: Warum die Luftschraube lediglich ein Spielzeug ist und kein Helikopter, erklärt der Leonardo-Forscher Mario Taddei. © Imago / United Archiv International
Von Matthias Eckoldt |
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Zu Leonardo da Vincis Lebzeiten entstand kein einziger Prototyp seiner vermeintlichen Erfindungen. Sieht man sich dessen hinterlassene Notizen und Zeichnungen genauer an, gerät sein Image als Universalgenie gehörig ins Wanken.
Leonardo wird als Universalgenie verehrt. Autoren wie Charles Gibbs-Smith eignen ihm insgesamt 83 Erfindungen zu. Vom Schwingenflugzeug über den Fallschirm und den Helikopter bis hin zum Panzerwagen, Mörsern, der Dampfkanone, dem Auto und der Druckerpresse reicht das Spektrum. Der Druckerpresse? Der Druckerpresse! Sie findet sich unter der Nummer 46 in Gibbs-Smith' Buch "Die Erfindungen von Leonardo da Vinci".
Aber die Druckerpresse wurde bereits 1450 von einem gewissen Johannes Gensfleisch zu Mainz erfunden, der sich lieber nach dem elterlichen Hof Gutenberg rufen ließ. Seine Erfindung war von solch überzeugender Innovationskraft, dass sie in Windeseile Europa eroberte und veränderte. Es wurde also bereits eifrig gedruckt, als Leonardo da Vinci 1452 das Licht der Welt erblickte. Die Nummer 46 wäre in der Liste der Erfindungen hiermit wohl zu streichen. – Bleiben immerhin noch 82 Erfindungen von Leonardo.
"Das Problem ist, jeder denkt, dass Leonardo weit über seine Zeit hinausragte. Sicher war er genial", sagt Mario Taddei, Leonardo-Forscher und Direktor des Leonardo-Museums in Mailand:
"Aber die traurige Wahrheit ist anders. Die Leute rund um den Globus denken, dass Leonardo den Fallschirm, das Fahrrad, den Helikopter und andere Dinge erfand, aber leider stimmt das nicht. Ich habe herausgefunden, dass all diese Dinge, die ich in Büchern über Leonardos Erfindungen gelesen habe, nicht wahr sind.
Denken Sie doch mal nach. Ist es möglich, dass ein Mensch so viel erfinden kann, wie es von Leonardo erzählt wird? Niemand kann das. Die Wahrheit ist, dass Leonardo viele Maschinen studierte. Wir wissen, dass Leonardo hunderte von Zeichnungen machte. Aber Leonardo kopierte all diese Projekte und Maschinen aus anderen Büchern.
All seine Zeichnungen, die wir für Leonardos Erfindungen halten, sind Kopien von anderen Ingenieuren. Beispielsweise sein fantastischer Panzer ist nicht von Leonardo erfunden worden. Er kopierte ihn von Valturio."

Meister der perspektivischen Darstellung

Gleichwohl ist Leonardo eine wundervolle Skizze gelungen: Sein Panzerwagen ist mit so hoher Geschwindigkeit auf dem Schlachtfeld unterwegs, dass er Staubwolken aufwirbelt. Die Dynamik wird durch leichte Schraffierungen in Richtung der rasenden Fahrt noch verstärkt. Leonardo konzipiert seinen Panzerwagen als ein kreisrundes, spitz nach oben zulaufendes Gefährt. Die soeben erfundene perspektivische Darstellung beherrscht er bereits meisterlich.
Im Science Museum in London ist in der Leonardo-Ausstellung "The Mechanics of Genius" das Modell eines Pantzerwagens ausgestellt.
Das Modell eines Panzerfahrzeugs nach Zeichnungen von Leonardo da Vinci in einer Ausstellung im Science Museum in London© picture alliance / Photoshot
So wirkt der Panzer realistisch, als wäre er tatsächlich in kriegerischer Absicht unterwegs. Am unteren Rand sieht man in gleichmäßigen Abständen die Mündungen von Kanonenrohren. Den Antrieb plant Leonardo offensichtlich über zwei Kurbelwellen, die von Hand zu bedienen sind.
"Dieser gedeckte Wagen ist wohl geeignet, die Reihen zu durchbrechen, aber er braucht auch Gefolge", notiert Leonardo. Als Besatzung empfiehlt er acht Männer: "Sie werden schießen, und dieselben werden auch mit dem Wagen wenden und den Feind verfolgen."
Eben nicht! Dieser Panzer – sollte er jemals gebaut werden – dürfte keinen Millimeter Land gewinnen. Denn die Kurbelbewegung wird auf eine Weise in die Rotation der Achsen übersetzt, dass sich die Räder jeweils gegenläufig bewegen würden. Das bedeutet absoluten Stillstand oder – bei viel Kraftaufwand – üblen Getriebeschaden.
Außerdem: Wie sollen zwei von Hand zu bedienende Kurbeln genügen, um den massiven Panzer mitsamt Kanonenrohren und acht Männern fortzubewegen? Allein der gesunde Menschenverstand legt nahe, dass es sich bei Leonardos Kurbelantrieb um eine ästhetische Lösung handelt.
Ihm ging es weniger um die technische Seite, als er den Panzer aus Valturios bereits gedruckt vorliegendem Buch "de re militari" kopierte. Für die praktische Anwendung erweist sich Leonardos Entwurf eines Panzers jedenfalls als vollkommen unbrauchbar.

Notizbücher und eine Handvoll Bilder als Hinterlassenschaft

Leonardo hat kein Buch hinterlassen. Und keinen einzigen Prototypen. Eine Handvoll Bilder sind uns geblieben, darunter mit dem Christusporträt "Salavtor Mundi"das teuerste Gemälde der Welt. Ein russischer Milliardär blätterte dafür 450 Millionen Dollar hin. Der Hauptteil des Nachlasses von Leonardo, der am 2. Mai 1519 im französischen Amboise starb, besteht aus seinen Notizbüchern – voll spiegelschriftlich verfasstem Text und Zeichnungen.
"Den gesamten Nachlass hat er seinem treuen Schüler Francesco Melzi übertragen", erzählt Dietrich Lohrmann. "Der hat dieses Material nach Italien schaffen lassen. Auf den Landsitz seiner Familie. Und dort sind die Handschriften etwa 50 Jahre lang vereint geblieben. Nach dem Tode Melzis beginnt dann das, was man die große Zerstreuung nennt. Der Enkel ist an den Handschriften nicht interessiert und gibt das eine dem einen, das andere dem anderen. Insbesondere auch spanischen Höflingen, die damals über Mailand herrschten."
Der Historiker Dietrich Lohrmann hat an der Universität Aachen vier Jahre lang eine kommentierte Ausgabe des Codex Madrid I von Leonardo erarbeitet. Diese Handschrift, die vor allem Leonardos Studien zur Mechanik umfasst, ist durch "die große Zerstreuung" nach Madrid gelangt, wo sie in der Königlich Spanischen Bibliothek im Jahr 1830 für längere Zeit das letzte Mal aktenkundig geworden ist. Erst 1965 wurde sie durch einen Zufall wiedergefunden.
Auch seine anderen Handschriften, die Leonardo ohnehin für den Privatgebrauch und nicht für eine Veröffentlichung anfertigte, waren in den Jahren der großen Erfindungen der Moderne entweder nicht auffindbar oder befanden sich unaufgearbeitet in Privatbesitz. Die Vorstellung, dass die Erfinder des U-Bootes oder des Panzers oder des Helikopters erst einmal in Leonardos Notizbüchern nachschauen, bevor sie sich ans Werk machen, ist abwegig. Prototypen hat Leonardo ohnehin weder entworfen, noch gebaut.

Aufzeichnungen eines technisch Interessierten

"Das meiste hat er nur auf Papier gehabt. Er hatte ja nun selbst keinen Handwerkerbetrieb und hat diese Sachen aufgezeichnet, in der Hoffnung, dass man es an anderer Stelle sicherlich einsetzen könnte", sagt Thomas Kreft, Mitherausgeber der kommentierten Ausgabe des Codex Madrid:
"Leonardo hat das gemacht, was ein heutiger Ingenieur auch machen würde und machen wird: Er hat zunächst einmal geguckt, was ist schon da und hat sich das angeguckt – in Betrieben, im Gelände. Und er hat das aufgezeichnet. Und das ist alleine schon einmal eine Leistung, für die wir heute sehr dankbar sind. Denn dadurch bekommen wir doch einen recht tiefen Einblick in den technischen Stand seiner Zeit. Und er hat dann aber versucht, an allen möglichen Punkten Verbesserungen durchzuführen. Sich zu überlegen, wie kann man die Getriebe besser gestalten, wie können sie leistungsfähiger werden?"
"Dann gibt es von seinen technischen Interessen nur noch diese Blätter", erklärt Dietrich Lohrmann. "Es ist nicht überliefert, dass irgendjemand diese Blätter zu seinen Lebzeiten angefordert hätte, um Maschinen zu verbessern."
Das wäre auch sicherlich nicht hilfreich gewesen. Denn oft genug ziehen die Veränderungen, die Leonardo bei seiner Kopierarbeit in die technischen Gerätschaften einbringt, eine Funktionsuntüchtigkeit nach sich. So macht er den Denkfehler, der ihm bereits beim Getriebe des Panzers unterlaufen ist, ebenfalls bei seinem Schaufelradboot.
Ein Mitarbeiter des Museums zeigt ein Modell eines Bootes konzipiert von Leonardo da Vinci.
Leonardo da Vincis Schaufelradboot: Nach dessen Zeichnungen für eine Pariser Ausstellung in den 50er-Jahren angefertigt.© Imago / ZUM / Keystone
Für die Fahrt auf dem Wasser entwirft Leonardo ein Schaufelradboot mit Pedalen. Um die Auf- und Ab-Bewegung in die nötige horizontale Rotation für den Antrieb der Schaufeln zu übersetzten, nutzt Leonardo einen Riemen, der wiederum eine Walze in Bewegung setzt. Die Drehbewegung der Walze wird dann über ein sogenanntes Laternengetriebe auf ein Zahnrad übertragen, das wiederum in ein weiteres, rechtwinklig dazu stehendes Zahnrad greift. Dieses treibt die Welle an, die mit den Schaufelrädern in Verbindung steht.
Oder genauer: Würde sie antreiben, wenn sich die Zahnräder nicht gegeneinander bewegen würden. Die einzige Möglichkeit, das Boot in Gang zu bringen, bestünde darin, die Antriebsstange in der Mitte zu teilen. Dann würde jeweils nur eines der Schaufelräder durch die Pedalbewegung gleichsam spiegelverkehrt angetrieben werden. Allerdings ist es schwer vorstellbar, dass Leonardo mit Absicht ein Boot konstruiert, dessen Antriebsschaufeln sich nicht gleichzeitig, sondern abwechselnd bewegen.
Das Boot würde dementsprechend ein Mal nach Backbord und darauf wieder nach Steuerbord gerissen werden. Leonardo hätte also sehenden Auges auf die Möglichkeit der Geradeausfahrt verzichtet und ein trunkenes Schiff konstruiert. Die Wahl zwischen Getriebeschaden und mäandernder Irrfahrt entspricht in etwa der zwischen Pest und Cholera.

Der vitruvianische Mensch ist auch eine Kopie

"Jeder glaubt, dass das Schaufelradboot eine Erfindung Leonardos ist", sagt Mario Taddei. "Aber es tut mir leid, das stimmt nicht. Das Schaufelradboot kommt bereits in der Schrift 'de re militari' von Valturio vor, 50 Jahre vor Leonardo. Leonardo las diese Schrift und kopierte das Boot, um die Mechanik zu studieren. Warum glauben nur alle Menschen, dass Leonardo das Schaufelradboot erfand? Es ist ein häufiger Fehler.
Ebenso glaubt alle Welt, dass die Darstellung des vitruvianischen Menschen, wo man einen Mann mit ausgestreckten Armen in einem Kreis und einem Quadrat sieht, von Leonardo ist. Ich verrate euch ein weiteres Geheimnis: Das Bild stammt von dem Römer Vitruv. Leonardo kopierte auch den Vitruvianischen Menschen. Wie übrigens viele Künstler zu Leonardos Zeiten es taten. Es gibt viele Zeichnungen dieses Motivs. Aber Leonardo wurde so berühmt und galt als so genial, dass die anderen alle vergessen wurden und Leonardo als Schöpfer galt. Aber das stimmt nicht!"
Leonardo da Vincis (1452-1519) Zeichnung "Vitruvianischer Mensch" (um 1490) zeigt einen Mann, der die idealisierten Proportionen besitzt, welche der antike Architekt und Ingenieur Vitruv formulierte.
Leonardo da Vincis Zeichnung "Vitruvianischer Mensch" zeigt einen Mann, der die idealisierten Proportionen besitzt.© dpa / picture-alliance / CPA Media/Pictures From History
Tatsächlich verehrt Leonardo den römischen Architekten Marcus Vitruvius Pollio, genannt Vitruv, sehr. Das zeigt sich auch in seiner berühmten Zeichnung, die heutzutage die Versichertenkarte mancher Krankenkasse ziert. Sie demonstriert meisterhaft Vitruvs These, nach der die Gestalt eines Menschen sowohl in ein Quadrat als auch in einen Kreis eingefasst werden kann.
Zurück zum Boot: Nicht einmal die Schaufelräder kann man als Leonardos Erfindung ansehen. Sie sind damals bereits 1300 Jahre lang bekannt. Es ist eben jener Vitruv, der sie bereits im ersten nachchristlichen Jahrhundert ausführlich in seinen Aufzeichnungen beschreibt. Und in der Renaissance war das Schaufelrad beileibe kein exklusiver Forschungsgegenstand von Leonardo.
Das belegen Zeichnungen von Mariano di Jacopo, bekannt als Taccola oder auch als "Archimedes von Sienna", der im Geburtsjahr Leonardos stirbt. Im Gegensatz zu Taccolas Entwurf verdient Leonardos Schaufelradboot diese Bezeichnung eigentlich gar nicht, da es lediglich zwei und nicht sechs Schaufeln hat und das Boot somit nicht von Schaufelrädern, sondern lediglich von senkrecht montierten Paddeln angetrieben wird.
Wird ebenfalls von der Liste gestrichen - dieses Schaufelradboot.
Leonardo genießt eine Ausbildung bei Andrea del Verrocchio in Florenz, einem einflussreichen Künstler der Renaissance und Lieblingsbildhauer der Medici. Aus seiner Werkstatt gehen große Maler der Renaissance hervor – unter anderem Sandro Botticelli, Lorenzo di Credi und Perugino. Leonardo bewirbt sich nach abgeschlossener Ausbildung nach Mailand.
Zeichnung einer Bombe von Leonardo da Vinci
Leonardos Zeichnung einer Bombe: Der Mailänder Herzog wollte Kriegsmaschinen, erklärt Mario Taddei.© Imago / United Archives International
Sein sehr selbstbewusstes Schreiben an den dortigen Herrscher Ludovico Sforza ist überliefert: "Ich kann bei der Belagerung eines Platzes das Wasser aus den Gräben ableiten und zahlreiche Brücken, Schutzdächer, Sturmleitern und andere zu einem solchen Unternehmen gehörende Geräte machen. Ferner werde ich sichere und unangreifbare gedeckte Wagen bauen, die mit ihren Geschützen durch die Reihen des Feindes fahren und jeden noch so großen Haufen von Bewaffneten zersprengen werden.
Ferner werde ich, wenn nötig, Bombarden, Mörser und Pasvolanten von sehr schöner und zweckmäßiger Form machen, wie sie nicht allgemein gebräuchlich sind. Wo die Wirkung der Bombarden versagt, da werde ich Katapulte, Wurf- und Schleudermaschinen und andere ungebräuchliche Geräte von wunderbarer Wirksamkeit herstellen."

Ein selbstbewusster Künstler mit Marketingtalent

"Leonardo versprach dem Herzog, hunderte geheimer Waffen zu bauen", erklärt Mario Taddei. "Auf diese Weise erreichte er es, vom Herzog angestellt zu werden. So war der wirkliche Leonardo. Aber er war überhaupt nicht in der Lage, diese Waffen zu bauen. Er studierte bei Verrochio und war Künstler. Wie kann ein Mann mit dieser Ausbildung Waffen bauen? Der Herzog sagte ihm: Jetzt bist du hier in Mailand. Nun gib mir meine Kriegsmaschinen. Das war das Hauptinteresse des Herzogs zu dieser Zeit - und nicht Zeichnungen über Zeichnungen.
Nun musste sich Leonardo anstrengen, um den Herzog zufriedenzustellen. Also kopierte Leonardo alle Bücher, in denen Waffen vorkamen. Und glauben Sie mir, mehr als 90 Prozent der Maschinen, die in den Museen der Welt stehen und für Leonardos Erfindungen gehalten werden, sind nicht von Leonardo. Es tut mir leid, aber das ist die Wahrheit. Es gibt Bücher, in denen die Katapulte abgebildet sind, die angeblich von Leonardo stammen sollen. Aber diese Katapulte gab es bereits im Römischen Reich.
Das Problem ist, dass Leonardo all die wunderschönen Zeichnungen, von denen wir denken, dass sie seine Erfindungen darstellen, nur von anderen kopiert hat."
"Sollte es auf dem Meer zum Kampf kommen, so steht es auch noch in Leonardos Schreiben, "so habe ich Pläne für viele Geräte, die für den Angriff und die Verteidigung besonders geeignet sind, und solche für Schiffe, die selbst der Beschießung mit den allergrößten Bombarden widerstehen werden, und solche für Pulver und Rauch. Und wenn irgendeine der obengenannten Sachen jemandem unmöglich oder unausführbar scheinen sollte, bin ich durchaus bereit zu einer Vorführung in Ihrem Park oder wo Eure Hoheit wollen."
"Wir sehen Leonardo als Meister des Marketings", sagt Mario Taddei. "Er hat das Marketing erfunden. Beispielsweise arbeitete er mit Vergleichen. Auf der linken Seite zeichnete er eine mittelmäßige, langsame und einfach schlechte Maschine, und auf der rechten Seite zeichnete er die neue Leonardo-da-Vinci-Maschine. Wenn man diese Zeichnungen direkt nebeneinander sieht, dann fällt sofort auf, wieviel komplexer seine Maschine ist. Auch sieht sie wesentlich schneller und schöner aus. Das ist wie ein Wettkampf Pepsi gegen Coca-Cola. Zum ersten Mal in der Geschichte sagt jemand so offensiv: Seht her, meine Maschinen sind schneller und besser als die anderen Maschinen. Leonardo nutzte seine zeichnerischen Talente, um seine Projekte an den Herzog von Mailand zu verkaufen."

In Diensten des kriegerischen Mailänder Herzogs

Das Herrschaftsgebiet von Ludovico Sforza geht weit über die Stadtgrenzen von Mailand hinaus. Es reicht etwa 100 Kilometer in südlicher Richtung von den Voralpen bis hinunter zum Fluss Po und gut 90 Kilometer von West nach Ost. Doch das genügt Ludovico Sforza nicht. Er verbündet sich schließlich sogar mit dem französischen König Karl VIII., der für einen Italienfeldzug rüstet. Für seine Größenfantasien kommt ihm ein Militäringenieur, der Wunderdinge zu vollbringen ankündigt, gerade recht.
Doch obwohl Leonardo aufgrund seines Bewerbungsschreibens vom Mailänder Herzog engagiert wird, übernimmt er an dessen Hof Aufgaben, die nicht einmal im Entferntesten etwas mit Waffen zu tun haben. Er entwirft Kostüme und baut Kulissen für das herzogliche Theater.
Der Renaissancekenner Ross King schreibt in seiner Biografie: "Leonardo trägt zur Unterhaltung der Höflinge bei, indem er Zauberkunststückchen vorführt – wie zum Beispiel weißen in roten Wein zu verwandeln."
In Leonardos Notizbüchern finden sich noch wesentlich profanere Aufgaben, wie die des Heizers: "Zum Anwärmen des Wassers im Badeofen der Herzogin musst du drei Teile warmen Wassers auf vier Teile kalten Wassers nehmen."
Während sich Leonardo um das Amüsement am Hof und das Badewasser der Herzogin kümmert, rüstet Ludovico Sforza auf. Bis zu 75 Prozent der Steuereinnahmen des Herzogtums Mailand investiert er in seine Streitkräfte. Der Auftrag für die Herstellung schwerer Artillerie geht nun aber nicht an Leonardo, sondern an die Waffenschmieden von Ferrara.
Der Mailänder Herzog achtet seinen begnadeten Hofkünstler, erfreut sich seiner inspirierenden Gesellschaft, seines Ideenreichtums und seiner Malerei, in Kriegsdingen allerdings verlässt er sich auf andere. Wahrscheinlich empfindet Leonardo diese Herabstufung nicht als Demütigung, sondern sogar als einen Glücksfall. Denn so wird er nicht in das kriegerische Geschäft seiner Zeit hineingezogen und muss nicht mitansehen, wie durch seine Hand Menschen zu Tode kommen. Denn durch das bloße Skizzieren und Kommentieren von Waffen ist noch niemand gestorben.

Am Entwurf eines funktionstauglichen U-Boots gescheitert

Leonardos U-Boot hätte allerdings schon ein Menschenleben kosten können, wenn es nach seiner Skizze gebaut worden wäre. Zu sehen ist ein ovales Gebilde, das in der Mitte von einem Pfropfen verschlossen wird. Ein wenig erinnert es an eine überdimensionale Brotbüchse.
Mit diesem Gerät in See zu stechen, kommt einem Vabanque-Spiel gleich. Wenn die Planken dicht sind und die Konstruktion genügend Auftrieb erzeugt, würde es über Wasser halten. Das wäre zwar nicht im Sinne eines Unterseebootes, wohl aber im Interesse des U-Boot-Führers. Denn ein durch zu hohes Gewicht oder undichte Stellen eingeleiteter Tauchvorgang wäre weder abzubrechen noch umzukehren. Der Pfropfen wäre aufgrund des Wasserdrucks schon bald von innen nicht mehr zu öffnen. Das jämmerliche Ersticken des todesmutigen Kapitäns möchte man sich nicht ausmalen.
Vor diesem Hintergrund klingt es geradezu grotesk, wenn Leonardo dem potenziellen Kommandanten den Ratschlag erteilt: "Bevor du hineingehst und dich einschließt, tu hinaus die Luft und lass wieder Luft an Stelle des Vacuums hinein."
Zeichnung von einem fliegenden Boot von Leonardo da Vinci
Nicht nur ein U-Boot, sondern auch eine fliegende Bootsvariante zeichnete Leonardo da Vinci.© Imago / UIG
Allerdings hätte Leonardo bereits alles beisammen gehabt, um tatsächlich ein U-Boot zu erfinden. Er hätte lediglich die evolutionäre Erfindung der Schwimmblase mit seiner Idee der doppelwandigen Schiffe zusammenbringen müssen, die er zur Abwehr gegen Zerstörungsversuche konzipiert hatte. Solange sich nämlich Luft im Raum zwischen den beiden Schiffswänden befindet, würde das Boot schwimmen. Sobald aber die Zwischenräume mit Wasser geflutet werden, verringert sich der Auftrieb des Bootes und der Tauchgang könnte beginnen. Um wieder Auftrieb zu erzeugen, muss das Wasser in den Hohlräumen dann wieder durch Luft ersetzt werden, wozu es eines recht hohen Druckes bedarf.
Doch diesen Zusammenhang stellt Leonardo nicht her und so dauert es noch ein weiteres Jahrhundert, bis der deutsche Naturforscher Magnus Pegel die theoretischen Grundlagen für das U-Boot findet.
Kriegsgeräte aller Art werden ebenfalls von der Liste der Erfindungen Leonardos gestrichen.

Leonardos Luftschraube ist kein Hubschrauber

Aber der Hubschrauber von Leonardo da Vinci! Was für eine Zeichnung! Mit Feder und Tusche malt er eine sich in zwei Windungen nach oben verjüngende Vorrichtung. In der Mitte steht ein Pfahl, der offensichtlich am Boden des Flugapparats drehbar gelagert ist. Neben der Zeichnung gibt Leonardo auch die Materialien für den Bau an. Der äußere Rand der Schraube soll aus Eisendraht sein. Die Bespannung aus Leinwand gefertigt werden. Für den Radius der Luftschraube veranschlagt Leonardo acht Braccia, also etwa fünfeinhalb Meter. Ein wahrlich imposantes Gerät.
Leonardo schreibt: "Ich finde, wenn der Schraubenapparat gut gemacht worden ist, das heißt aus Leinenbahnen, deren Poren mit Stärke geschlossen sind und wenn er energisch geschraubt wird, dass diese Schraube dann aus der Luft eine Schraubenmutter macht und in die Höhe steigen wird."
Fein gemalt ist sie ja, die Luftschraube, aber funktionieren wird sie dennoch nicht! Über den geplanten Antrieb verliert Leonardo kein Wort. Mit etwas Fantasie wird man am unteren Ende des mittigen Mastes eine horizontal durch das Holz laufende Stange erkennen. In diesem Fall wäre es denkbar, die Luftschraube mit Menschenkraft anzuschieben.
"Er entwarf diese Luftschraube", sagt Mario Taddei: "Das war kein Helikopter! Leonardo wollte damit demonstrieren, dass die Luft ein Medium ist. Heute wissen wir das. Aber damals nicht. Luft kannst du ja nicht sehen. Aber seine Luftschraube ist lediglich ein Spielzeug. Es ist nicht zur Beförderung von Menschen gedacht. In viele Museen rund um den Globus und in hunderten von Büchern kann man Männer sehen, die Leonardos Flugschraube anschieben, damit sie in die Luft aufsteigt.
Aber das ist nicht möglich, denn wenn sie sich in die Lüfte erheben würde, verlieren die Männer sofort ihren Halt. Es gibt dann ja keinen Grund mehr, auf dem sie laufen könnten. Das wäre wirklich dumm, diese Maschine zu bauen."
Die Luftschraube von Leonardo wird auch gestrichen. Der Helikopter ohnehin, da der nicht nach dem Prinzip der Schraube funktioniert. Aber wir werden doch Leonardo nicht von ungefähr für ein Universalgenie und einen großen Erfinder halten. Nicht von ungefähr, sondern auf Befehl von Benito Mussolini, dem Duce!

Genie-Inszenierung auf Befehl Mussolinis

Ein Universalgenie passte sehr gut in die Propagandamaschinerie von Benito Mussolini, der Italien seit 1922 führte. Mussolini wollte das antike Römische Reich in den einstigen Ausmaßen reinstallieren. Bot sich da ein uritalienischer Maler, Architekt, Wissenschaftler und Erfinder, der auf allen Gebieten Übermenschliches leistet, nicht geradezu an, um die faschistische Diktatur mit einem dekorativen Feigenblatt zu zieren?
Nachdem Mussolini Leonardos langjährige Wirkungsstätte im Mailänder Schloss besucht hatte, gab er am 31. Oktober 1936 den Befehl, die Ausstellung "Leonardo da Vinci und die italienische Erfindungen" zu gestalten. Drei Jahre dauerte die Vorbereitung. Leonardo avancierte in der Ausstellung zum zweitgrößten Sohn Italiens - nach dem Duce. Er wurde nicht nur als Maler und Zeichner gewürdigt, sondern auch und vor allem als weit aus seiner Zeit herausragender Ingenieur und Erfinder.
Das Universalgenie Leonardo sollte zum Ausdruck bringen, welch gewaltige Schöpferkraft im italienischen Volk steckte. Und zwar immer schon. Programmatisch hieß es im Ausstellungsprogramm: "Die Ausstellung will die geistigen Verflechtungen aufzeigen, die den großen Entdecker und Schöpfer mit den Errungenschaften Italiens unter Mussolini verbindet. So wird die Kontinuität des kreativen Geistes gezeigt, der seine größten Entfaltungsmöglichkeiten im Klima der faschistischen Willenskraft findet."
Porträtaufnahme von Benito Mussolini in Uniform
Italiens Diktator Benito Mussolini gab 1936 den Befehl, eine große Leonardo-Ausstellung zu gestalten.© picture alliance / dpa
"Im italienischen Faschismus ging es natürlich darum, das Nationalgenie Italiens zur Geltung zu bringen und insbesondere die Glanzzeit der Renaissance", erklärt Dietrich Lohrmann. "1939 wurde eine große, staatlich organisierte Ausstellung in Mailand eröffnet. Da ist dann übrigens auch Göring vonseiten der deutschen Reichsregierung erschienen und hat gleich gesagt: Das wollen wir auch! Wir lassen das ins Deutsche übersetzen und die Ausstellung soll auch nach Berlin kommen. Aber das Wichtigste war: In dieser Sicht musste Leonardo natürlich als das große, einzigartige Genie, das weltweit Bewunderung verdiente, ganz groß herausgestellt werden. In dieser Zeit sind auch die ersten Studien gemacht worden, die Leonardo als Vorläufer der Luftfahrt ganz groß herausstellen sollten."
Als die großen Erfindungen der Moderne getätigt wurden, waren Leonardos Ideen so gut wie nicht dokumentiert. Bücher gab es nicht. Und der größte Teil seiner Manuskripte war nicht verfügbar. Insofern konnten die Erfinder des 19. Jahrhunderts – selbst wenn sie es gewollt hätten – nicht bei Leonardo nachschauen, bevor sie sich ans Werk machten.
Leonardo notierte etwas bescheiden: "Da ich einsehe, dass ich einen Stoff von großem Nutzen und Reiz nicht mehr wählen kann, weil die vor mir geborenen Menschen schon alle nützlichen und notwendigen Themen vorweggenommen haben, so will ich es machen wie einer, der wegen seiner Armut zuletzt auf den Jahrmarkt kommt und dort, zumal er sich anders nicht versorgen kann, all jene Sachen nimmt, welche die anderen schon angesehen und nicht genommen, sondern wegen ihres geringen Wertes zurückgewiesen haben."

Ein Universalneugieriger mit malerischen Fähigkeiten

Leonardo da Vinci ist vielleicht kein Universalgenie, ganz sicher aber ein Universalneugieriger, der über einzigartige malerische Fähigkeiten verfügt. In seinen Tagebüchern erschließt er sich einen Wissenshorizont, der von der Akustik, der Anatomie, von Botanik und Astronomie über die Mechanik, die Flugkunde, die Hydraulik und die Geografie bis hin zur Kriegskunde, zu Optik, Medizin und Musik reicht.
Auf Leonardo trifft wie auf kaum einen anderen der Begriff des Renaissancemenschen zu. Jede Minute seines Lebens verbrachte er mit dem Studium der Phänomene, die ihn umgaben.
Ein Kupferstich zeigt eine Porträt von Leonardo da Vinci
Das "Genie Leonardo" sei erst im 19. Jahrhundert erfunden worden, meint der Historiker Dietrich Lohrmann.© picture alliance/dpa - akg-images
"Das Genie Leonardo ist meines Erachtens eine Erfindung des 19. Jahrhunderts", sagt Dietrich Lohrmann, "als rasanter technologischer Fortschritt sich vollzog und man Leonardo zu einer Art Urvater dieses prometheischen Denkens gemacht hat. Wenn man sich nun das anschaut, was er wirklich hinterlassen hat, und insbesondere die Zeichnungen, dann wird er vielmehr zu einem ganz normalen überaus motivierten, sehr fleißigen Beobachter der Technik seiner Zeit, der das alles versteht und es verbessern will. Aber etwas grundlegend Neues, was es überhaupt vorher noch nicht gegeben hätte, ist schwer zu ermitteln.
So kann man eigentlich alle Elemente von Maschinen durchgehen und kommt zu der Auffassung: Das findet man auch schon in älteren Ingenieurhandschriften. Dann wird da plötzlich aus dem Genie ein eher normaler Mensch der Renaissance, der neben anderen bedeutenden Leuten keine so außergewöhnliche Rolle mehr spielte."

Es sprechen: Inka Löwendorf, Tonio Arango, Mirko Böttcher und Karim Cherif
Regie: Beatrix Ackers
Technik: Jan Fraune
Redaktion: Jana Wuttke

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