Marko Martin: Tel Aviv. Schatzkästchen und Nussschale, darin die ganze Welt
Mit Fotografien von Rainer Groothuis.
Corso Verlag, Wiesbaden 2016
160 Seiten, 28,00 Euro
Geschichten vom Leben einer "Zauberstadt"
Vorbehaltlos offen, nichts beschönigend, immer emotional: In "Tel Aviv" blickt der Schriftsteller Marko Martin zurück auf die menschlichen Begegnungen, die ihm die israelische Hafenstadt in den vergangenen 25 Jahren geschenkt hat.
Im Sommer 1991, wenige Monate nachdem Saddam Hussein Raketen auf Tel Aviv abfeuern ließ und der Schriftsteller Yoram Kaniuk dem neben ihm sitzenden Günther Grass vor laufenden Kameras die Freundschaft aufgekündigt hatte, reiste Marko Martin zum ersten Mal nach Tel Aviv. Und ahnte nicht, dass er, der gehemmte, im Sommer '89 aus der DDR geflüchtete "Sachsen-Junge", dort zum "zeitweilig Ansässigen" würde. Warum? Weil er, "furchtsam, naiv" zwar, aber voller Verlangen, dem jungen Friseur Moshe in eine Diskothek gefolgt war und am frühen Morgen zum ersten Mal Sex mit einem Mann hatte. Weil er endlich in urbanen Gegenden und Landschaften umherstreifen konnte, deren Namen ihm seit Kindertagen vertraut waren. Früh hatte er angefangen, mit den Eltern - beide den Zeugen Jehovas verpflichtet - die Bibel zu lesen und sich alsbald aus der rigiden Lehre der Zeugen wie den Begrenzungen der DDR hinausgeträumt an die Levante.
Menschliche Begegnungen aus 25 Jahren
Marko Martin blickt in seinem Buch zurück auf das, was ihm Tel Aviv in den letzten 25 Jahren an menschlichen Begegnungen geschenkt hat. Er befragt sich, mal selbstironisch, mal zweifelnd, er denkt laut nach und hat ein offenes Ohr für alles, was ihm auf den verschlungenen Pfaden durch den alten Kern der "Zauberstadt" zugetragen wird. "Schatzkästchen und Nussschale" ist die Stadt für ihn, weil in ihr unentwegt erzählt wird, und zweifellos hat Martin ein untrügliches Gespür für Menschen, die bereit sind, etwas aus ihrem Leben preiszugeben. Dennoch passiert es immer wieder, dass er - wenn er etwa an Bauruinen vorbei schlendert - eine plötzlich eintretende Stille wahrnimmt. Er notiert: "Nuancen vom Schweigen in einer Stadt, deren Lärm du immer auch als Schutz vor den Zumutungen des Todes begriffen hast".
Um die Fülle der Sinneseindrücke zu bündeln, hat Marko Martin sein Buch in vier Kapitel gegliedert: Meine Hotels - Meine Restaurants und Kollegen - Meine Clubs - Meine Strände. Innerhalb dieser Ordnung lässt der Autor seinen Erinnerungen freien Lauf - vorbehaltlos offen, nichts beschönigend, immer emotional ergriffen. Spielend leicht umreißt Martin mit nur wenigen Sätzen das Spezifische sämtlicher Lokalitäten im Umkreis der staubigen Allenby Straße, wo niemals "mürbe divahafte Melancholie erblühen" wird. Hier verkehren Männer, die ihre kurzärmligen Hemden offen tragen "bis zu den Blinddarm- und Leistenbruchnarben". Für sie hat die im Bell Hotel arbeitende Marina keinen Blick übrig. Das in den Textfluss eingewobene Porträt der literaturbewanderten, russischen Einwanderin, die palästinensische Zimmermädchen anblafft, während sie staubsaugt und telefoniert, gehört zu den stärksten des Bandes. Martin unterbrach Marinas Monologe nie, weil er spürte, dass hinter dem wortverliebten Aufbrausen "nur halb verborgene Resignation" lauerte.
Abschweifungen, Verästelungen, Facetten
Marko Martins Abschweifungen folgt man willig, weil jede Verästelung eine Facette gelebten Lebens mehr enthüllt. Die "post-libidinösen Gespräche" in den Nachtclubs zeugen davon, die "Alltags-Huschigkeiten" der jungen Tel Avivnikim, die Legenden, die in der Familie eines jemenitischen Freundes tradiert werden, oder die Diskussionen, die Leute auf der Strandpromenade führen, wenn wieder einmal jemand die Stimme des Friedensaktivisten Abie Nathan vom Band abspielt. Furor mischt sich in Martins Ton nur, wenn er an die selbstgerechte Prinzipienfestigkeit einer "rechtslinken Phalanx" israelkritischer - in Wahrheit antisemitischer - Deutscher denkt. Ihnen, wie jedem anderen auch, empfiehlt er Aufenthalte im strahlend schönen wie verlotterten Schatzkästchen und Gespräche mit Einheimischen, die geübt sind darin, das Anderssein und Gegnerschaft auszuhalten.