Marko Martin: Dissidentisches Denken. Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters
Die andere Bibliothek 2019
540 Seiten, EUR 42
Der ewige Kampf um Klarheit
11:01 Minuten
Misstrauen gegenüber Ideologien und gegenüber sich selbst: Diesem Denken spürt Marko Martin in Porträts von DDR-Dissidenten nach. Sein klares Bild der Dissidenten damals entlarvt auch das angebliche Dissidentenschaffen der Neuen Rechten als Maskerade.
Frank Meyer: Wir sind kurz vor dem 9. November, 30 Jahre nach dem Fall der Mauer, und dass die Mauer zwischen Ost und West zu bröckeln begann, dazu haben auch die vielen Dissidenten beigetragen: Frauen und Männer, die gegen totalitäre Regime gesprochen und geschrieben haben. Der Autor Marko Martin hat ein Buch über sie veröffentlicht, über ihr "Dissidentisches Denken", und jetzt ist er hier im Studio. Seien Sie willkommen!
Marko Martin: Hallo, guten Morgen!
Meyer: Sie haben selbst Ihre Kindheit und Jugend in der DDR verbracht. 1970 wurden Sie dort geboren, und Sie erzählen in Ihrem Buch auch, dass Ihre Familie nicht so ganz unschuldig daran ist, dass Sie schon früh aufmerksam wurden auf dissidentisches Denken. Wie hat ihre Familie Sie da denn geprägt?
Martin: Meine Urgroßeltern waren Anarchosyndikalisten in der Weimarer Republik, und die Bücher, die sie während der Nazizeit versteckt hatten und dann während der kommunistischen Zeit versteckt behielten, habe ich natürlich dann durchgelesen und war begeistert, was da für eine Tradition zu entdecken war. Eine Tradition eines linken Antikommunismus, wo Linke, Libertäre, Intellektuelle und dann auch Leute wie Emma Goldmann zum Beispiel ganz frühzeitig vor Lenins Totalitarismus in der Sowjetunion gewarnt haben, noch vor Stalin.
Das waren für mich Augenöffner, aber jetzt kein Erweckungserlebnis in dem Sinn, dass ich von einer Ideologie abgefallen wäre, denn in unserem Elternhaus – mein Vater war Kriegsdienstverweigerer, ich wurde dann später Kriegsdienstverweigerer – glaubte man eh nicht an diese Ideologie, aber dennoch war es interessant, Menschen zu entdecken und Bücher, die gegen diese Ideologie schon ganz frühzeitig gewarnt hatten.
Misstrauen gegenüber den großen Worten
Meyer: Sie erzählen auch von einer Episode, da sehen Sie Jürgen Fuchs im Fernsehen nach seiner Ausbürgerung, Ausreise aus der DDR. Sie schauen da mit Ihrem Vater drauf, und Ihr Vater sagt zu Ihnen, halt dich mal an diesen Jürgen Fuchs. Warum das?
Martin: Es kam hinzu, dass mein Lehrmeister, ein besonders fieser Typ, der den Nicht-FDJler in mir natürlich sofort die ganze Zeit auf dem Kieker hatte, Fuchs hieß, und ich habe das sehr bedrängend empfunden, in diesem DDR-Alltag mit als einziger zu sein, der da nicht mitmachen will. Und dann kam jemand ins Fernsehen wie Jürgen Fuchs, im Westfernsehen.
Mein Vater sagte, wie Sie sagten: Halt dich mal an Jürgen Fuchs! Das habe ich dann auch gemacht. Für mein Schreiben und für meine Sicht der Realität war Jürgen Fuchs wirklich ausschlaggebend, weil, was er mich gelehrt hat, ist das Misstrauen gegenüber den großen Worten und das Hinschauen: wie sprechen Leute, wie geben sie sich, sprechen sie in Augenhöhe oder deklamieren sie von oben herab?
Und das ist für meine Bücher und dann aber auch für meinen Blick ungeheuer wichtig gewesen. Von daher bin ich ihm zu großer Dankbarkeit verpflichtet, weil Jürgen Fuchs eben mehr war als nur der Anti-Stasi-Aktivist, sondern auch ein Schriftsteller, ein Alltagschronist, der den großen Ideologien misstraut hat und auch den Abschied von der kommunistischen Ideologie jetzt nicht zelebriert hat als etwas, was jetzt schützt vor weiteren Irrtümern.
Jürgen Fuchs hat mich auf Manès Sperber gebracht, und Manès Sperber sagte diesen wichtigen Satz: Auch wer gegen den Strom schwimmt, schwimmt im Strom, und: Wir sind alle partiell im Unrecht. Das bedeutet nicht, dass man einem Werterelativismus huldigt, aber dass man sich selbst auch immer wieder hinterfragt und nicht in Selbstgerechtigkeit abdriftet.
Meyer: Jetzt haben Sie am Beispiel von Jürgen Fuchs schon beschrieben, was Sie denn verstehen unter dissidentischem Denken. Also ein ganz wichtiger Mann für Sie, der auch in Ihrem Buch ganz vorne auftaucht, aber Sie fangen nicht mit ihm Ihr Buch an, sondern Sie fangen an mit Raissa Orlowa-Kopelew. Warum haben Sie diese Frau ganz an den Anfang gestellt?
Dissidentenmilieu war keine Männerveranstaltung
Martin: Sie hat mich ungeheuer fasziniert, ihre Sensibilität, ihre Genauigkeit und ihre Lebenspartnerschaft mit Lew Kopelew, dem russischen Germanisten, der mit Alexander Solschenizyn im Zweiten Weltkrieg gekämpft hat und dann ebenfalls wie Solschenizyn in den Gulag kam wegen "Mitleid mit dem Feind".
Raissa Orlowa-Kopelew war nicht nur die Frau an seiner Seite, sondern auch eine ganz eigenständige Intellektuelle, was ziemlich typisch war für dieses Dissidentenmilieu, denn es war keine Männerveranstaltung, obwohl man immer so an die großen Namen denkt, die Dissidenten, aber die Frauen spielten eine enorme Rolle.
Havel hat in seinen Gefängnisbriefen Briefe an Olga, seiner Frau, Olga Orlowa, ein literarisches Denkmal gesetzt. Viele Dissidenten wären ohne ihre Frauen nicht in der Lage gewesen, all das durchzustehen, und die Frauen haben dann mit Alltagsgewitztheit, dass sie wussten, wie besticht man Wärter im Gefängnis, wie packt man Päckchen, dass sie auch nach Sibirien kommen, und gleichzeitig als genuine Intellektuelle, eine Partnerschaft gelebt, noch lange vor unserer Quote.
Abgrenzen von neurechten Querulanten
Meyer: Das ist, glaube ich, auch einer der Leistungen Ihres Buches, dass Sie die Frauen in der Dissidentenbewegung – Bewegung kann man ja nicht sagen, weil es so viele einzelne waren, aber – in diesem Phänomen so weit nach vorne stellen. Aber sagen Sie mal, wenn man jetzt aufs Heute schaut, Sie haben dieses Buch ja jetzt veröffentlicht, warum finden Sie es heute wichtig, nachzudenken über Dissidenten in unserer gegenwärtigen Lage?
Martin: Weil ich glaube, die Fake News, die uns jetzt als etwas ganz Neues zu begegnen scheinen, eine Geschichte haben. Die Dissidenten haben es erlebt, wie vom sowjetischen Geheimdienst Gerüchte gestreut wurden, wie dann auch ganz offiziell Wörter umgewertet wurden. Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit wurden zu Synonymen für versteckten Krieg gegen die Bevölkerung, für Ungleichheit.
George Orwell hat das schon ganz frühzeitig beschrieben, und wir leben jetzt wieder in einer Zeit der Begriffsverwirrung, wo ich glaube, es könnte nützlich sein, sich mal zu erinnern, dass der Kampf um Klarheit und um Präzision schon von Leuten gekämpft wurde, die es viel schwieriger hatten als wir heute.
Das war mir wichtig, und auf der anderen Seite auch eine Trennlinie zu ziehen zu den Leuten, die sich heute als Dissidenten bezeichnen, wobei es im Grunde genommen, wenn man sich das richtig anschaut, oftmals nur neorechte Querulanten, Verschwörungstheoretiker und Leute sind, die unter dem Label des angeblichen Tabubruchs ihren faschistoiden Dreck – und so muss man das auch sagen – dann in die Öffentlichkeit kippen und sich dann noch als dissidentisch bezeichnen.
Man hat das ja auch in den ganzen Grauzonen des semi-akademischen Pro-AfD-Milieus, wo diese Diskussionen gepflegt werden, und da war es für mich auch ganz wichtig, da auch eine ganz klare Trennlinie zu ziehen.
Meyer: Jetzt kann man ganz verschieden erzählen von Dissidenz, historische Bücher darüber schreiben zum Beispiel. Sie haben sich für eine andere Form entschieden, für eine Mischung aus Porträt, Reportage, Essay über 22 Frauen und Männer, also im Kern wahrscheinlich Porträts. Hat das damit auch zu tun – Sie haben es auch am Beispiel von Jürgen Fuchs schon beschrieben –, dass Haltung, Charakter, Persönlichkeit ganz entscheidend sind für eine dissidentische Haltung?
Ästhetik ist Ethik
Martin: Es ist ganz entscheidend, und es ist natürlich auch entscheidend, was das für Leute waren. Arthur Koestler und Manès Sperber habe ich nicht mehr kennengelernt, aber Leute wie Melvin Lasky oder Hans Sahl. Hans Sahl sagte zu mir, eine seiner Lebensmaxime war: gescheit sein und gütig und nie das eine ohne das andere. Das ist natürlich ethisch etwas anderes als Brechts hochfahrendes Diktum "Wir, die wir für die Freundlichkeit der Welt kämpfen, hatten selbst keine Zeit, freundlich zu sein".
Die Leute, die ich getroffen habe, die Dissidenten, die waren sehr freundlich. Das waren keine besserwisserischen Leute aus der Yesterday-Generation, sondern Menschen, die sich ihre Neugier bewahrt haben und wie André Glucksmann auch immer davor gewarnt haben, zu glauben, dass unsere Demokratie, dass der Jetztzustand was Stabiles sei und immer daran erinnert haben, dass es eigentlich eine welthistorische Ausnahme ist, in Frieden und Freiheit zu leben und man dafür etwas tun muss.
Deshalb war es für mich auch wichtig, die Leute, also die lebenden, zu besuchen, von Buenos Aires, über Colombo bis nach Paris, Jerusalem und Tel Aviv. Es waren keine Veteranenbesuche. Es waren keine Visiten bei Leuten, die dasselbe Tape immer abspulten, sondern es waren so feine, neugierige Menschen. Ich muss sagen, auch das Schreiben dieser Porträts hat mir große Freude bereitet, und hier ist Freude das Wort, dass es solche Menschen gegeben hat und die Welt eben nicht nur von Rabulisten und Wortverdrehern bevölkert ist, sondern auch von den anderen.
Meyer: Schreiben ist überhaupt ein wichtiges Stichwort, also Ihr eigenes Schreiben über diese Dissidenten, aber auch deren Schreiben. Sie haben sie offenbar danach ausgesucht – klingt jetzt komisch in dem Zusammenhang, aber –, dass das auch große Stilisten waren, über die Sie schreiben?
Martin: Ja, es ist natürlich faszinierend, wie jemand wie Pavel Kohout, der heute 90-jährig in Prag lebt, großer Skeptiker der populistischen Regierung ist, noch bis ins hohe Alter hinein es schafft, zu plotten, Romane zu schreiben, ganz zu schweigen von den Büchern, die er rund um das Jahr '68 geschrieben hat. Ich denke an das "Tagebuch eines Konterrevolutionärs" oder auch Leute, die dissidentisch in dem Sinn sind, nicht dass sie von einer kommunistischen Ideologie abgefallen wären, sondern indem sie anders schrieben, als es ihre Umwelt erwartet hat.
Ich denke an Aharon Appelfeld in Israel, der in den 50er-Jahren eine ganz andere Prosa geschrieben hat, als die realsozialkritische Prosa in Israel en vogue war in jener Zeit in den Aufbaujahren, sondern eine melancholisch umschattete, reflexive Prosa eines osteuropäischen Juden geschrieben hat. Diese Genauigkeit, auch im Stil, und das Wissen, eine didaktische Botschaft genügt nicht, es muss auch ästhetisch bezirzend sein.
Es gibt dieses schöne Wort von Joseph Brodsky, wo er sagt: Ästhetik ist Ethik, und die Leute, die ich getroffen habe oder die ich beschreibe, haben das, obwohl sie vielleicht gar nicht in allen Fällen von diesem Diktum wussten, zur Literatur gemacht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.