Markus Friedrich: Die Jesuiten. Aufstieg, Niedergang, Neubeginn
Piper Verlag, München 2016
736 Seiten, 39 Euro
Die Wahrheit über Roms "geheime Gesellschaft"
Er soll die dunkle, mächtige Geheimgesellschaft Roms sein, ein Kampfbund des Vatikans – um den Jesuitenorden ranken sich seit Jahrhunderten Verschwörungstheorien. Was ist dran? Markus Friedrich zeichnet die Geschichte des Ordens nach und geht dem Mythos auf den Grund.
"Dieses Buch behandelt historische Abläufe, keine religiösen Wahrheiten. (...) Die Jesuiten waren (und sind) keine dunkle Macht des Vatikans, keine Organisation mit heimlichen oder gar verheimlichten Strukturen. Es gibt an ihnen nichts zu entlarven."
Markus Friedrich, Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit in Hamburg, geht mit dem nüchternen Blick des Wissenschaftlers an die Geschichte der Gesellschaft Jesu, der vielleicht am meisten mythenumrankten Ordenseinrichtung der römisch-katholischen Kirche. Ja, Verschwörungstheorien über angeblich mächtige und geheime Machenschaften der Jesuiten führten – unter anderem – zu dem unerhörten Ereignis der Auflösung des Ordens 1773. Ironischerweise durch den Papst höchstpersönlich, dem sich die Jesuiten seit jeher zu besonderer Treue verpflichtet sahen.
Eine breite interne Ordensgeschichtsschreibung gibt es seit Langem. Genannt sei hier nur Pater Bernhard Duhr, der den Mythen über den Orden 1891 mit einer großen Sammlung von "Jesuiten-Fabeln" zu Leibe rückte. Demgegenüber steht auf profaner Seite das 1929 erschienene, weitverbreitete und anders, als sein Titel vermuten ließe, keineswegs unseriöse Buch von René Fülöp-Miller: "Macht und Geheimnis der Jesuiten".
Forschung steckt in allen Poren dieses Buches
Nun also Friedrich, mit einer modernen, kulturgeschichtlich untersetzten, globalen Geschichte der Jesuiten, in der alle Rede von "Macht" oder "Geheimnis" dekonstruiert wird. Genau genommen schreibt der Historiker eine Geschichte des Ordens von dessen Gründung 1540 bis zur Aufhebung 1773 und Wiederbegründung 1814. Die zwei Jahrhunderte seither, an deren Ende mit Franziskus der erste Papst aus dem Jesuitenorden steht, kommen nach 560 Seiten lediglich noch in einem knappen Epilog zur Sprache.
Hier liegt nicht die Hauptexpertise des Autors, der als Frühneuzeitler vorwiegend jene erste Phase erforscht hat. Forschung steckt in allen Poren dieses Buches; es basiert auf der Habilitationsschrift des Verfassers und damit auf jahrelanger Beschäftigung mit der Ordensgeschichte. Kurzum: Kaum ein Thema, das sich mit der frühneuzeitlichen Phase des Jesuitenordens in Verbindung bringen lässt, bleibt hier unbelichtet.
Jesuiten als frühe Akteure einer Globalisierung
Die Gründungs- und Frühgeschichte des Ordens um Ignatius von Loyola und seine Gefolgsleute wird umfassend dargestellt. Dann geht es um Jesuiten in ihrem Verhältnis zur Kirche, zu anderen Orden und zu den Gläubigen – als Seelsorger, Theologen und Missionare. Um Jesuiten "in der Welt", als Lehrer und Erzieher, als Beichtväter bei Hofe, um Jesuiten in der Politik, in Ökonomie, Wissenschaft und Kunst. Schließlich um den Orden als "weltumspannende" Gemeinschaft, um Jesuiten als frühe Akteure einer Globalisierung, sei es im Rahmen der europäischen Expansionsgeschichte, sei es als Netzwerk- und Transfer-Elite. Das Buch " ...möchte den Jesuitenorden vor allem als eine enorm vielfältige Einrichtung präsentieren (...). Es gab und gibt nicht den Jesuiten, und es gab und gibt auch, vom juristisch-institutionellen Sinn einmal abgesehen, nicht den Jesuitenorden."
Die entscheidenden Fragen verstecken sich hinter den Fakten
Die Detailkraft ist eine Tugend, aber auch ein Problem des Buches: Die fortlaufende Lektüre erzeugt mitunter ein Gefühl der Übersättigung. Friedrich bewegt sich souverän durch die Epochen, Namen werden sonder Zahl angeführt, desgleichen gelehrte Werke, theologische Streitigkeiten, pastorale Konzepte, illustrative Episoden aus dem Leben spanischer, italienischer, französischer, deutscher, lateinamerikanischer usw. Jesuiten.
Friedrichs Buch gibt auf alle Fragen zur frühneuzeitlichen Geschichte des Jesuitenordens eine Antwort – die Antworten auf die entscheidenden Fragen muss sich der Leser freilich etwas zusammensuchen. Welches sind die entscheidenden Fragen? Wie kam es, dass sich die Ordenstruppe des Ignatius von Loyola innerhalb weniger Jahrzehnte schlagartig und mit baldiger globaler Präsenz etablieren konnte? Wie kam es schließlich zu jener verschwörungsideologisch akzentuierten Jesuitenfeindschaft, die dem Orden wenig mehr als 200 Jahre nach seiner Gründung (fast) das Genick brach?
Kein Kampfbund gegen die Reformation
Die Antworten liegen in der für die Ordensgeschichte wohl typischen Dialektik von impulsiver Modernität und deren gleichzeitigem, schleichenden Verschleiß. Die durch Ignatius und seine Mitgründer angestoßene Modernitätsdynamik ist in der Tat atemberaubend und kommt mit den allgemeinen Dynamiken der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts genau zur Deckung: Die Jesuiten bestachen durch ihre Effizienz, ihre hierarchisch durchgeformte Struktur, ihr organisatorisches Talent, ihre multimediale Kommunikationsfähigkeit. Jesuiten wirkten nicht, wie viele der älteren Orden, in Kontemplation und Zurückgezogenheit, sondern mitten unter den Menschen, am Puls der Zeit, in den Zentren der alten, aber auch an den Noch-Peripherien der kommenden, neuen Welt.
Dabei verfolgten sie keine politische oder weltliche Macht-Agenda, wie einer der bekanntesten Jesuitenmythen lautet. Der Orden entstand auch nicht als Kampfbund gegen die Reformation: "Überhaupt rückten die Protestanten erst nach und nach ins Blickfeld der Jesuiten. Die Gesellschaft Jesu war nämlich – entgegen einer verbreiteten aber unzutreffenden Vorstellung – nicht von vornherein als Gegenpol zur Reformation gegründet worden." Das Ziel des Ignatius lag vielmehr im beständigen Streben danach, Gott in allen Dingen zu finden und den Menschen zum Seelenheil zu verhelfen, "mit Ordnung und Methode", also mit den besten und effizientesten Mitteln, ad maiorem Dei gloriam, zur immer größeren Ehre Gottes, in unablässiger Arbeit.
Präsenz in der Welt der Mächtigen erregte Verdacht
Dieses selbstbewusste, möglicherweise streberische Auftreten der Jesuiten führte zu einem die Ordensgeschichte fast von Anfang an flankierenden Antijesuitismus, der zunahm, je mehr die Modernität des Ordens ihrerseits erstarrte. Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts sahen sich die Jesuiten theologisch, politisch, wissenschaftlich wie pädagogisch von neuen Strömungen herausgefordert. Ihre Präsenz in der Welt der Mächtigen erregte Verdacht und schürte Gerüchte. Die Jesuiten galten zunehmend als Ausführungsorgan fremden Willens (wahlweise des Papstes oder der spanischen Krone) oder sogar als gefährliche Anstifter zu Aufruhr und Königsmord. Die Verbindung unterschiedlichster, zueinander nicht unbedingt passender Motive, zuletzt eine konzertierte Aktion der bourbonischen Mächte beim Papst, führte zur offiziellen Aufhebung des Ordens 1773.
Friedrich stellt abschließend fest, eine wirkliche Reformperiode habe dem Orden stets gefehlt. Deshalb sei er nach seiner Wiedergründung im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Hort des kirchlichen Konservativismus gewesen. Erst im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils habe sich das geändert. Ob der Jesuitenpapst Franziskus eine späte Folge dieser nachkonziliaren Ordensreform ist, und was dies für die Kirche bedeuten könnte, ist indessen nicht mehr Friedrichs Thema. Dessen ungeachtet: ein empfehlenswertes Buch für geduldige Leser.