Die Figur des Hirten ist eng mit den Anfängen der Literatur verbunden. Bereits das Alte Testament stellt Abel, Abraham, Isaak und Jakob als Hirten vor. Psalm 23, besser bekannt als „Der Herr ist mein Hirte“, bleibt einer der bedeutendsten Bibel-Texte und 40 vor Christus schreibt Vergil einen Reigen von gleich zehn Hirtengedichten, die „Bucolica“. Der Hirte war in der Literatur stets präsent, vom Schäferroman des Barocks bis zum Almhirten Bodo Hell, der in seinen Gedichten persönliche Gebirgswanderungen poetisierte.
Der Fall erregte im August dieses Jahres einige Aufmerksamkeit, als der dichtende Hirte im österreichischen Dachsteingebirge verscholl – die Suche verlief ergebnislos. Mit dieser Koexistenz von Idyll und Fährnis des Schäferdaseins spielt Markus Thielemanns zweiter Roman. Bereits zu Beginn wird die Lüneburger Heide beschrieben, dann zwei Hundeschemen, begleitet von einem Hirten, der Hauptfigur, – bevor es kracht und das beschauliche Bild mit einem drohenden Knall entzweigerissen wird.
„Den Stecken in der Rechten, bleibt er im Gegenlicht, seine Gestalt so gebeugt, dass man ihn für einen alten Mann halten könnte. Erst als er einen Schritt macht, wird sein Gesicht erkennbar. Er hat glatte, wettergerötete Wangen, leicht abstehende, ebenso gerötete Ohren, eine Böe scheitelt haferfarbene Strähnen. Im Nacken ist sein Haar flusig und dunkler, in der gleichen Farbe wie seine Augen, die auf den Boden gerichtet bleiben. Hinter ihm formiert sich sein Vieh, Hunderte Tiere. Er geht voran, und nach und nach bildet die Herde in seinem Rücken eine breite graue Schleppe. Von Norden rollt ein Donner und verhallt.“
Existenzen des Niedergangs
Dieser vermeintlich alte Mann ist Jannes Kohlmeyer, gerade mal 19 Jahre jung – und der titelgebende, vom Norden heranrolle Donner keine Wettererscheinung, sondern das Krachen jener Panzermunition, „die tagsüber auf dem Fabrikgelände des Waffenherstellers Rheinmetall getestet wird“. Viele Ortseinwohner arbeiten für Rheinmetall. Die Kohlmeyers aber betätigen sich seit Generationen als friedliebende Schäfer.
Jannes wohnt mit seinen Eltern und dem Großvater auf einem Bauernhof. Die neun Jahre ältere Schwester Janine ist nach Frankfurt gezogen. Eine klassische Landflucht, während die zurückgebliebene Familie vor etlichen Herausforderungen steht. Der Vater hat ein undiagnostiziertes Leiden, muss bald einen Neurologen aufsuchen. Der Opa wiederum redet viel, versteht aber wenig von der neuen, sich transformierenden Landwirtschaft. Die demente Großmutter lebt im Seniorenheim. Es sind Existenzen im schleichenden Niedergang.
„Wenn es nur die Tiere und der Hof wären. Aber der ganze elende Papierkram, die Gelder, Förderanträge, Subventionen, Schulden und Steuern. Er ist sich sicher, dass seine Mutter schon jetzt alles mindestens einmal heimlich nachprüft und nachrechnet, was sein Vater aufzeichnet und einreicht, seit es vor ein paar Monaten mehrere unangenehme Anrufe vom Finanzamt und von der Landwirtschaftskammer gab.“
Dafür sind Männer gemacht
Gezeigt wird ein Berufszweig unter Druck in ohnehin schwieriger werdenden Zeiten der Jahre 2014/2015, als die Schäferzunft nicht allein von gestiegener Bürokratie und immer geringeren Margen herausgefordert wurde. Es war auch die Gegenwart einer neuen Romantisierung. Die Lebensstil-Zeitschrift „Landlust“ verkaufte über eine Million Exemplare und Hamburger Start-up-Hipster, im Roman sind sie Besucher einer Heide-Hochzeit, schwärmen gegenüber Jannes vom vermeintlich einfachen Leben, das nur er erreicht hat, während sie dem faden Konsum anheimgefallen sind.
„Mit den Tieren und der Landschaft? Bockstark, sag ich. Bockstark ist das. Lass dir das niemals ausreden. Wenn ich noch mal entscheiden könnte, würd ich auch so was machen. Scheiß aufs Geld, scheiß auf Frauen, Autos, hier Uhren, Schuhe, der ganze Quatsch. Lass dir da nichts einreden. Hab ich alles gehabt, am Ende: alles wertlos. Das hier, was du hast. Die Tiere und das Land. Dafür sind wir Männer gemacht.“
Der böse Wolf
Die später viel beschworene Krise der Männlichkeit schwingt mit, so wie dieses Buch zahlreiche gesellschaftliche Entwicklungen in ihren Anfängen vorstellt: die steigenden Mieten in der Stadt, die schleichende Degradierung einer ländlichen und vermeintlich ursprünglichen Lebensart, die Defragmentierung alter Familienstrukturen, das Aufkommen der Neuen Rechten und – last but not least – die plötzliche Anwesenheit einst ausgerotteter Raubtiere, die Mitte der 2010er-Jahre in norddeutsche Gefilde einbrechen: als ernsthafte Bedrohung für die Schäferzunft. Ein Sichtungsvideo zeigt auf Facebook die Gefahr in grobkörnigen, verwackelten Bildern:
„Es bewegte sich ruhig am Straßenrand entlang, federnder Lauf, geduckter Schädel, fixierender Blick, neugierig vielleicht, dagegen schwer der Atem des Filmenden, in der Stimme heisere Panik Haust du wohl ab! Hau ab du! Hau ab jetzt!, immer wieder, und es löste nicht mal ein Zucken beim Tier aus, dann flog ein Stein, knirschte über die Landstraße, der Wolf duckte sich weg, drehte ab und jagte über den Acker davon, war innerhalb von Sekunden zum Fleck am Waldrand geworden, grau in braun, kaum zu unterscheiden von einem jungen Reh oder einem streunenden Hund.“
Der Schäfer, die Heidschnucken und ihr natürlicher Feind, der Wolf stehen im Zentrum dieses zweiten Romans von Markus Thielemann. Diese jahrtausendealte, nachgerade archaische Rivalität führt zu ganz anderen Reaktionen als früher. An ihr entzündet sich gesellschaftspolitischer Sprengstoff. „Von Norden rollt ein Donner“ spielt kurz nach Gründung der AfD, die 2013 erstmalig bei der Bundestagswahl angetreten ist. Die Geschichte spielt auch in jener Zeit, als Menschen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak verstärkt Schutz in der Europäischen Union suchten.
Allgemeine Fremdenfeindlichkeit
Der Roman zeigt eine Gemengelage, die Gründungen rechter Parteien wie der AfD begünstigte. Jannes Großvater schimpft bereits auf den sogenannten „Staatsfunk“ – gemeint ist der NDR – und ein Anhänger der neuen, rechtspopulistischen Partei zieht in die dörfliche Nachbarschaft. Wenn die Bürgerversammlung fortan über den richtigen Umgang mit dem gefährlichen Wolf diskutiert, ist ein weiteres Feindbild offensichtlich mitgemeint.
„‚Der Wolf gehört eben hier nicht her, Punkt‘, ruft einer, ‚sondern in die Vergangenheit oder in andere Länder. Einfach gesagt, passt er eben nicht in unsere deutsche Kulturlandschaft. Viele stimmen dem Mann zu. Man habe Angst um Kinder und Hunde, Kaninchen und Hühner. Im Ganzen: um seine Lebensart.“
Kurz ist der Weg vom Schutz der Herde zum Schutz des autochthon Deutschen an sich. Da wird die Ursprünglichkeit der Heidelandschaft ebenso gelobt wie Hermann Löns, Autor von Werken wie „Dahinten in der Heide“ aus dem Jahr 1919 oder „Der Wehrwolf“ von 1910.
„Ihm ist es zu verdanken, dass das ganze Volk damals bald dachte: Mensch, die Heide, das ist gar keine hässliche Wüste, sondern die ist doch, gerade weil sie so öde und karg ist, gerade deswegen schön.“
Der Waffenhersteller Rheinmetall, die später von den Nationalsozialisten instrumentalisierte Literatur des Antisemiten Herman Löns, die AfD und die Furcht vor fremden Bedrohungen strukturieren diesen Roman. Zeitgeschichte und Arbeitswelt, „nature writing“ und moderner Anpassungsdruck werden in zurückgenommener, norddeutsch karger Diktion erzählt – und mit mythischen Elementen verwoben.
Roggenwolf und Tittewîf
In Schauererzählungen, in Träumen Jannes, auch in seiner manchmal taumelnden Partytrunkenheit tauchen düstere Wesen auf: der unersättliche Roggenwolf und ein Korndämon – das sogenannte Tittewîf – deren Brüste „mit Teer, giftiger Milch oder Blut gefüllt“ sind. Es erscheint die böse Hexe vom Lüß – und während sich all dies ereignet, dringt ein weiteres Geheimnis an die Oberfläche: Die verdrängte Existenz eines ehemaligen KZ-Außenlagers von Bergen-Belsen, das auf schaurige Weise mit Kohlmeyers Familie und mit der Geschichte des hier vorgestellten Ortes verbunden ist.
„Gut, die müssen ja auch Zwangsarbeiter auf den Höfen gehabt haben, zur Ernte oder zum Bauen oder was. Haben die wahrscheinlich nicht nachgefragt, wo die morgens herkommen und abends hingehen.“
Wer im Jahr 2024 von NS-Zeitzeugen erzählt, muss bereits historisieren. Menschen, die den nationalsozialistischen Terror und den Zweiten Weltkrieg bewusst erlebt haben, sind überwiegend verstorben. Markus Thielemanns Geschichte ist auch aufgrund dieser Rückdatierung Symptom einer Zeitenwende, eines neuen Geschichtsbewusstseins. Die Zeiten und viele mit ihr verbundene Zeichen erhalten neue Bedeutungen, wohin das Ende dieses Romans weist. Er kehrt, nachdem Janne ein überaus anstrengendes Jahr erlebt hat, noch einmal zurück zum Anfang, zum Schäfer, zum Idyll:
„Und dann drehen sie die Köpfe, blicken zurück, genießen noch einmal das langsam in der Ferne schwindende Bild: Er ist noch zu sehen, der einsame Hirtenknabe, rastend mit Hund und Herde, wie auf einem Barockgemälde. Wie er dort kauert, im Schatten des Immergrüns, im Schlamm vor der langen Tränke, könnte er ein Trauernder sein, am Grab, versunken in die Entzifferung einer obskuren Inschrift.“
Du musst Dein Leben ändern
„Von Norden rollt ein Donner“ ist ein Roman der Zeichen und des Zeichenlesens. Es lohnt der genaue Blick auf die zahlreichen Tier- und Menschen-Spuren, auf die vielgestaltige Semiotik dieses Textes. Vordergründig unscheinbar wirkt die Geschichte und wurzelt doch tief – wie das vielfach beschriebene Heidekraut.
“Von Norden rollt ein Donner“ ist das Porträt eines jungen Mannes, der seinen Platz im Leben sucht, zwischen Tradition und Moderne, zwischen Familie und Individualität, zwischen der Ruhe des Landes und der stetig näherkommenden Großstadt-Nervosität. Der Roman ist der leiseste Kandidat auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis. Seine Prämierung böte die größtmögliche Überraschung angesichts dieses unsentimentalen Schäferstücks, das eindrücklich auch den zurückgezogenen Hirten mahnt: Du musst Dein Leben ändern.